Mittwoch, 28. April 2021

Die Belagerung

Es folgten ruhige drei Wochen, die Jules später wie die Ruhe vor dem Sturm vorkamen. Nach dem ungewöhnlich langen und harten Winter folgte ohne Übergang ein prachtvoller Frühling. Die Stadt befreite sich vom Grau, Blütenwolken in weiss, gelb und rosa betupften Gärten und Parks, Strassen und Alleen. Unberührt vom Lärm der Fahrzeuge sangen die Vögel ihre Lieder. Am Tag wurde es angenehm warm, die Kleider der Leute in den Strassen hellten sich auf. Jules überlegte, ob er sich auch einen der flachen Hüte kaufen sollte, den jetzt fast ausnahmslos alle Männer trugen. Aus hellem Stroh, mit breitem dunklem Band.

Er hatte damit begonnen, seinem Dienstherrn die Kleider herauszulegen, die Schuhe zu polieren und bereit zu stellen. Mr. Dowers war ein geduldiger und sehr gewissenhafter Tutor, der Mr. Rockefeller gut zu kennen schien. Dieser benötigte zum Beispiel wenig Schlaf und stand oft schon um fünf Uhr morgens auf. Der Butler riet dringend davon ab, den Dienstherrn um diese Zeit bereits aktiv und sichtbar umsorgen zu wollen, da er dann noch nicht bereit sei, mit anderen Menschen zu sprechen. Es müsse jedoch alles zu seiner Zufriedenheit bereit liegen, das Rasierzeug, die Kleidungsstücke. Dann das Frühstück im Raum neben seinem Büro im Erdgeschoss. Die Zeitungen, soweit schon verfügbar, die Bibel. Mr. Rockefeller Junior rasiere sich übrigens immer selber, meist mehrmals am Tag, mittels eines patentierten Rasierers mit Klingen. Jules wurde gezeigt, wie man den Apparat gründlich putzt und die Klingen ersetzt. Er solle sich notieren, wie oft diese schon benutzt worden seien, damit er sie rechtzeitig austauschen könne. Jules war neugierig und kaufte sich bald den gleichen Rasierer. Für die Kleider hatte Mr. Rockefeller drei oder vier Schneider, zwei in New York, einen in Cleveland und einen, für Sommer- und Sportkleider, in Maine. Die Werkstatt des Schuhmachers befand sich in Manhattan. Jules wurde bald dorthin geschickt, um identische Paare desselben Typs abzuholen. Er liebte den Laden, auch wenn er sich dort niemals hätte Schuhe für sich selber kaufen können. Beim Eintreten ertönte ein Glockenspiel, und es roch intensiv nach Leder und Pflegemittel. Wenn sich ein bestelltes Paar nach ein paar Wochen bewährt hatte, liess Sir John gleich zwei drei weitere davon anfertigen. Für seinen Kammerdiener war das praktisch, denn so konnte er sich beim Putzen, Einkremen und Polieren in der Regel Zeit lassen. Wenn Mr. Rockefeller jedoch ein Paar für den Tag oder einen speziellen Anlass ausgesucht hatte, musste immer ein zweites, tadellos geputzt, bereit sein. Das war eine seiner Macken. Es war, als ob sein Selbstvertrauen von sauberen Schuhen abhinge. Der Ersatz wurde auch im Automobil mitgeführt, wenn er zum Büro im Standard Oil Building fuhr, oder zu einem der Landhäuser in Pocantico Hills. Die Schuhe wurden sofort gewechselt, wenn sie nur leicht beschmutzt wurden, und Jules lernte, Schuhe im Auto oder in kleinen Abstellkammern des Bürogebäudes wieder in Hochglanz zu versetzen.

Mr. Rockefeller verhielt sich ihm gegenüber freundlich, aber förmlich distanziert. Jules lernte, seine allgemeine Verfassung ebenso wie die momentanen Stimmungen aus feinen Nuancen in Haltung und Bewegung herauszulesen, denn in Sir John's Gesicht, das einem manchmal wie eine freundliche Maske erschien, spiegelte sich nichts davon. Mit der Zeit erkannte er, dass sich dies nur änderte, wenn der Mann mit seiner Frau und seinen Kindern zusammen war, und es ihm gelang, die fast immer und überall anwesenden Bediensteten zu vergessen. In keinem Moment sah er Mr. Rockefeller die Fassung verlieren wie es manchmal Mr. McCurdy zugestossen war, vor allem, wenn dieser zu sehr dem Alkohol zugesprochen hatte. Im Hause Rockefeller herrschte absolute Abstinenz, was jedermann wusste. Rockefeller Junior war ein teetotaler. Jules hatte damit keine Schwierigkeiten.

Es stellte sich eine Routine ein, die ihm entgegen kam. Es fiel ihm leicht, sehr früh aufzustehen, auch wenn er noch nicht gebraucht wurde. Er liebte die Stille im Haus, sein allmähliches Erwachen. Er half der Köchin und dem Butler beim Zubereiten des Frühstücks, zuerst für den Dienstherrn, dann für die Familie. Als Mr. Rockefeller dies bemerkte und ihn fragte, warum er schon auf den Beinen sei, kam es zum ersten etwas persönlicheren Gespräch zwischen ihnen. Jules erzählte, er sei seit seiner Kindheit früh aufgestanden. Zuerst habe er im Stall helfen müssen beim Melken, dann an jedem zweiten Tag in der Frühmesse als Ministrant dem Pfarrer zudienen, erst danach sei er in die Schule gegangen. Sir John schien interessiert.
"Verstehen Sie auch etwas von Pferden? Züchtet man Pferde in Ihrer Heimat?", wollte er wissen.
Er könne einen Wagen anspannen und lenken, auch ein wenig reiten. Sie hätten aber nur noch Kühe zuhause. Pferde würden etwas weiter südlich gezüchtet, in den Hügeln des Jura.
"Man nennt sie Freiberger. Ein Pferd für alle Zwecke."
Mr. Rockefeller zog eine Augenbraue hoch und lächelte.
"So? Gibt es das?"

Die Rockefellers hielten ein Dutzend Pferde, in den Ställen der Landhäuser von Vater und Sohn in Pocantico Hills, die nördlich von New York, etwa eine Autostunde entfernt, in den Hügeln über Tarrytown standen. Zwei Angestellte waren dafür zuständig. Auch einen Golfplatz gab es dort, mit neun Löchern, wie man Jules erklärte. Er wusste nicht, wieviele Löcher andere Plätze hatten. Mit Mr. McCurdy und dessen Freunden hatte er manchmal halbe Tage auf dem Golfplatz verbringen müssen. Er fand das Spiel langweilig. Die Pferde, vor allem aber die schnellen Wagen, welche die Rockefellers fuhren, Vater und Sohn, interessierten ihn hingegen sehr. Sie hatten in der Umgebung ihrer Häuser zahllose Wege anlegen lassen, mit einem Belag aus gestampftem Mergel. Dort fuhren sie ihre Runden, manchmal halsbrecherisch schnell. In der Nähe des Hauses, das die jungen Familie bewohnte, Abeyton Lodge, stand auch das Landhaus des Seniors, Kykuit. Es kam Jules vor wie eine düstere Festung, mit hohen Mauern aus grob behauenen Steinen, und bewachsen von dicken Strängen aus Glyzinien. Das Haus von Rockefeller Junior gefiel ihm besser. Es war ein Ensemble aus Fachwerkbauten, die ihn an Gasthäuser im Elsass erinnerten. Allerdings waren die Räume hier hoch, und mit viel Luxus ausgestattet. Eines der Gebäude beherbergte ein grosses Hallenbad.

Obwohl sich der Reichtum, der ihn da umgab, überaus greifbar vor seinen Augen ausbreitete und er ja auch hantierend mit den Dingen umging, die ihn ausmachten, fühlte er sich oft wie durch eine Glasscheibe getrennt davon. Er hatte niemanden, dem er von seinen Eindrücken erzählen konnte, und es fiel ihm schwer, sie einzuordnen. Mit den freien Sonntagen war es fürs erste vorbei. Er wusste nicht, wie lange es gehen würde, bis er Fiona und andere seiner Freunde und Bekannten wieder würde sehen können. Und ein fleissiger Briefeschreiber war er auch nicht. Die anderen Hausangestellten behandelten ihn freundlich, aber mit spürbarer Zurückhaltung, die sie sich auch untereinander auferlegten. Noch nie hatte er einen unter ihnen in der Weise von den Herrschaften sprechen hören, wie er es im Club und auch bei den McCurdys immer wieder erlebt hatte, direkt und distanzlos. Auch er hielt sich schon zu Beginn an dieses ungeschriebene Gesetz.

Dann begannen sich die Dinge zuzuspitzen. Jules merkte, wenn er seinem Dienstherrn die Zeitung brachte, wie dieser nervös die Schlagzeilen absuchte. Ob sich die Lage zwischen den Streikenden und ihren Gegnern, der Unternehmensführung, den Streikbrechern und den Milizen, weiter verschärft habe. Ob der Tonfall in der Kritik an ihnen, den Rockefellern, nochmals eine Stufe rauher geworden sei. Dann, anfangs April, entschloss sich der Dienstherr, nach Washington zu fahren. Soviel Jules davon mitbekam und verstand, sollte er dort vor einem Komitee des Kongresses Rede und Antwort stehen, weil man eine zu hohe Unfallquote in den Minen von Colorado festgestellt hatte.
"Ich werde keine Diener dorthin mitnehmen, Chiquet. Das würde man nicht verstehen. Aber Sie können mir dabei helfen, die passende Kleidung auszusuchen. Ich sollte wie ein gewöhnlicher Geschäftsmann aussehen. Was meinen Sie?"
Sie entschieden sich für einen eher eng sitzenden, braun gestreiften Anzug aus Kammgarn.

Jules gelang es, von einem Postamt aus Fiona anzurufen. Da sein Dienstherr abwesend war, hoffte er auf ein paar freie Stunden, in denen er sie treffen könnte. Er wusste nicht, ob es an der für beide ungewohnten Form des Gesprächs lag, jedenfalls wirkte Fiona ausweichend, fast abweisend. Sie sagte, ihre Herrschaften gäben sie nicht frei im Moment. Er zweifelte daran und fragte nach.
"Willst du nicht wegen Rockefeller, wegen dieser Streikgeschichte in Colorado? Weil wir dann wieder streiten würden?"
Sie antwortete, sprach dabei ernst und so leise, dass er immer wieder nachfragen musste, weil er sie nicht verstand.
"Das ist nicht mehr einfach eine Geschichte, Jules. Dort herrscht Kriegszustand. Beide Seiten sind jetzt bis an die Zähne bewaffnet. Die Streikenden haben in ihren Zelten den Winter knapp überlebt, mit Frauen und Kindern. Jetzt graben sie die Löcher darunter noch tiefer, aus Angst vor Scharfschützen der Milizen, welche das Unternehmen aufgeboten hat. Und das Unternehmen, das sind die beiden Rockefeller."
"Was müsste er denn tun? Er ist jetzt nach Washington gefahren und wird von diesem Untersuchungsausschuss befragt."
Fiona schweigt eine Weile.
"Fiona?"
"Ja, immerhin tut er das. Aber manche befürchten, dass der Alte die Nationalgarde rufen lässt. Und wenn die kommen, dann gibt es ein Gemetzel. Die haben Maschinengewehre, Jules."
Er hatte den Gedanken, sie treffen zu können, bereits aufgegeben.
"Die werden doch nicht auf Frauen und Kinder schiessen! Woher weisst du das überhaupt alles?"
"Es gibt Zeitungen, die nicht den Reichen gehören, weisst du."
Trotz der schlechten Verbindung hörte er ihren belehrenden Ton. Er verabschiedete sich und hängte den Hörer an den Haken. Noch glaubte er daran, dass sich die Ereignisse bald beruhigen würden.

Es musste etwas Schwerwiegendes vorgefallen sein. Als Jules an jenem Nachmittag mit seinem Dienstherrn vom Büro zurückkam, waren die beiden Detektive im Haus, die Familie, mit Unterstützung der Bediensteten, am Packen. Mrs. Rockefeller und die Kinder sollten noch am selben Abend nach Pocantico fahren, wo sie, wie es hiess, in Sicherheit seien. Mr. Rockefeller wollte in der Stadt bleiben, wenigstens vorläufig. Das Personal wurde, nach einem Plan von Miss Davis und Mr. Dowers, auf die beiden Häuser aufgeteilt. Für den Umzug standen zusätzliche Chauffeure und Fahrzeuge bereit, Abfahrt war um sechs. Jules sollte in New York bleiben.

Es war eigenartig. Niemand sprach über den Grund dieser einschneidenden und aufwendigen Massnahmen. Das Verhalten der Menschen im Haus erinnerte ihn an die Bauern in seinem Heimatdorf, wenn ein Sturm angekündigt worden war. Alle arbeiteten konzentriert und schnell, fast stumm und mit ernsten Mienen. Er half, die Sachen der Kinder zusammenzusuchen, einzupacken und hinunter zu bringen. Nelson war bockig, weil er nicht alles mitnehmen durfte, was er wollte. Die Kleinsten weinten fast ununterbrochen. Sie spürten die Anspannung der Erwachsenen, verstanden aber nicht, worum es ging. Babs und John bemühten sich sichtlich, gross und vernünftig zu sein. Als der Tross abgefahren war, wurde es auf einmal still im Haus. Mr. Rockefeller hatte sich in seinem Büro eingeschlossen. Er sei pausenlos am Telefonieren, hiess es. In Ludlow sei Krieg ausgebrochen.

Am nächsten Morgen erfuhr Jules in der Küche, dass sein Dienstherr noch früher aufgestanden sei als sonst, und oben im Gymnastikraum Dampf ablasse, wie die Köchin sagte. Er ging zuerst in den Ankleideraum von Sir John und suchte ein paar Sachen zusammen. Dann fuhr er hinauf in den siebten Stock, wo er ihn auf dem Trockenrudergerät sitzend antraf, keuchend und mit klatschnassen Kleidern. Die Haare klebten ihm am Kopf, sein Gesicht war rot und von Schweisstropfen übersät. Jules reichte ihm wortlos ein Handtuch.
"Danke, Chiquet. Bitte schauen Sie, dass mein Tee in einer halben Stunde bereit ist. Wir werden dann gleich losfahren zum Broadway, essen kann ich dort etwas. Und bitte bringen Sie mir andere Schuhe, diese sind mir zu warm."

Heute folgte ihnen, mit etwas Abstand, ein zweites Auto. Darin sass der Detektiv Billy Ward, gesteuert wurde es von einem zweiten Mann, der wie ein Polizist in Zivil aussah. Jules wusste nicht, ob sie auch früher schon auf diese Weise begleitet worden waren, heute fiel es ihm jedenfalls auf. Als sie die Rondelle von Bowling Green umrundet hatten und auf den Parkplatz der Rockefellers zusteuerten, sahen sie mehrere Reporter mit Fotoapparaten, die vor dem Haupteingang des Gebäudes warteten. Mr. Rockefeller liess den Chauffeur daran vorbeifahren. Sie parkten schliesslich, nach einigen Umwegen durchs Quartier, auf der Rückseite in einem Hof, von wo aus sie unbehelligt einen Hintereingang erreichten und das Haus betreten konnten. Jules wies den Chauffeur an, für Mr. Rockefeller etwas zum Frühstück einzukaufen und bat eine der Sekretärinnen, Teewasser aufzusetzen. Dann setzte er sich in einen der Vorräume des Büros und wartete. Nach einer Weile kam der Mann, den Jules für einen Polizisten in Zivil hielt, die Treppe hinauf und setzte sich am anderen Ende des Raumes auf einen Sessel. Er nahm sich eine der Zeitungen, die auf den niederen Tischen bereit lagen, faltete sie auseinander und verschwand dahinter. Jules überlegte einen Moment, ob er sich auch eine nehmen sollte, aber er wollte eigentlich gar nicht wissen, was passiert war.

Er dachte an Mrs. Rockefeller und die Kinder, an ihre Flucht vom Vorabend. Er konnte sich nicht vorstellen, welche Gefahr ihnen drohen könnte, wer ihnen etwas zuleide tun sollte. Aber er begann zu verstehen, dass die Zeitungen etwas damit zu tun hatten. Wie musste das sein, wenn Tausende, Hunderttausende nachlesen konnten, wie der Ehemann im eigenen Stall werkte. Wenn nicht nur in den Wirtshäusern des Dorfes, sondern in einer Riesenstadt wie New York, dann in allen grossen Städten, schliesslich im ganzen Land, alle lesen konnten, dieser sei ein Blutsauger. Er sei schuld an den Toten, die in einem Streit ums Leben kamen, für den er verantwortlich sei. Seine Maman hatte schon gelitten, wenn die Söhne ihren Mann hatten aus dem Wirtshaus holen müssen, oder wenn jemand im Dorf fand, und es herumerzählte, ihr Misthaufen gehöre wieder einmal ordentlich gezöpfelt. Aber auch wenn man das nicht miteinander vergleichen konnte, wie sollte er es denn verstehen? Wie musste man sich das Innenleben eines Mannes vorstellen, dem der Vater den Drittel einer Kohlenmine zum Geburtstag schenkte? Und zu einer Mine gehörten ja ein paar hundert Arbeiter mit ihren Frauen und Kindern, die in den Hütten des Unternehmens lebten, leben mussten. Genauso wie sie nur in den Läden einkaufen durften, die Kinder nur in die Schulen gehen durften, die von diesem betrieben wurden. Wo die Arbeiter, Männer, und oft auch schon Buben, viel zu oft Unfälle erlitten und dabei verletzt oder getötet wurden. Und wenn sie dagegen protestierten und streikten, auf die Strasse gestellt wurden und nichts mehr hatten. Keinen Lohn, keine Häuser, keine Einkaufsläden, keine Schulen. Das alles hatte ihm Fiona berichtet, und die Rockefellers dafür verantwortlich gemacht. Aber es passte nicht zu dem Bild, das er sich von Mr. Rockefeller Junior zu machen begann. Der Mann beeindruckte ihn. Er übertraf an Disziplin noch Jules' ältere Geschwister Joseph und Marie, die er in dieser Beziehung immer für perfekt gehalten hatte. An der Art, wie Mr. Rockefeller sprach, konnte man erkennen, dass er viel länger in die Schule gegangen war, in bessere Schulen. Dass er ein Studierter war. Jules war schon oft verblüfft gewesen, wie viele Wörter sein Dienstherr verwendete, um etwas auszudrücken, was man mit der Hälfte hätte sagen können. Mit Wörtern und Ausdrücken, die er oft nicht einmal kannte. Die aber schön, und vor allem gebildet klangen, und mit denen er die Aufmerksamkeit der Zuhörenden an sich band, wie mit verzierten Fesseln. Jules hatte das bisher nur bei einem Pfarrer erlebt, der für eine kurze Zeit in Cornol gepredigt hatte, und es hiess ja auch, dass Mr. Rockefeller einige Jahre eine Bibelklasse angeführt und dort gelernt habe, vor vielen Menschen zu reden. Vor seiner Frau schien er grossen Respekt zu haben. Sie war oft anderer Meinung als er, und scheute sich nicht, ihm zu widersprechen, sogar vor den Hausangestellten. Er liess sich in solchen Situationen nie dazu hinreissen, mit ihr zu streiten, sondern sagte zum Beispiel nur: "Lass uns später weiter darüber reden. Ich möchte darüber nachdenken." Mit den Kindern war er meistens sehr herzlich, blieb aber unerbittlich streng, wenn es um ihre Pflichten ging, die genau festgelegt waren. Schon die Kleinen hatten ihre bescheidenen Aufgaben im Haus, durften neue Spielsachen erst hervorholen, wenn die Hinterlassenschaften vom letzten Spiel restlos versorgt waren. Die Grösseren putzten ihre Schuhe selbst, unter Anleitung eines jüngeren Butlers, der ihnen nur zeigen durfte, wie man es macht. Jules meinte, dass es festgelegte Tarife gab, nach denen die Kinder ihr Taschengeld erwirtschaften mussten, und er hatte schon gesehen, wie Babs und John in einem kleinen Heft sorgfältig aufschrieben, was sie wofür ausgegeben hatten. Mr. Rockefeller hatte über alles und jedes die Übersicht und volle Kontrolle. Die Beziehung des Juniors zum Senior konnte Jules nicht durchschauen. In der Gegenwart des Vaters veränderte sich etwas an seinem Gebaren, ganz leise. Es hatte auch etwas mit Respekt zu tun, aber auf eine ganz andere Weise als gegenüber seiner Frau.

Jules hatte sich nicht darum gekümmert, genau zu erfahren, was geschehen war. Eigentlich wollte er es auch nicht wissen, aber die Geschehnisse und ihr Echo bei den Menschen, die ihn umgaben, waren unausweichlich. Es war ihm klar, dass die Art und Weise, wie die Dinge im Haus kommentiert wurden, sich deutlich unterschieden von der, wie sie zum Beispiel von Fiona gesehen würden. Immerhin stellte er auch zwischen den wenigen Zeitungsartikeln, die er überflog, beträchtliche Unterschiede in der Beurteilung fest. Einig waren sich alle darin, dass beide Seiten in Ludlow schwer bewaffnet und bereit waren, brutale Gewalt anzuwenden. Über den Auslöser der Ereignisse am zwanzigsten April gingen die Meinungen weit auseinander, die traurigen Resultate mussten aber alle feststellen. Der griechischstämmige Streikführer Tikas war tot, wahrscheinlich mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen und dann erschossen worden. Elf Kinder und drei oder vier Frauen unter den Bewohnern des Zeltlagers waren ebenfalls tot. Zuerst hiess es, sie seien den Maschinengewehrsalven der National Guard oder der Milizen zum Opfer gefallen, aber als man sie barg, stellte man keine Schussverletzungen fest. Offenbar waren sie in der Grube unter ihrem brennenden Zelt erstickt. Das öffentliche Entsetzen über den Tod dieser Unschuldigen war gross, und die Angreifer, welche die Zeltstadt mit Öl übergossen und angezündet hatten, sagten, sie seien davon ausgegangen, dass alle Bewohner das Lager verlassen hätten. Die berichteten Tatsachen, und noch mehr die Unentscheidbarkeit in der Frage, wer schuld sei, wer Täter und wer Opfer, berührten Jules quälend unangenehm, und er überlegte sich, wie es erst für seinen Dienstherrn sein musste, den man verantwortlich machte für alles, was dort geschah und weiter geschehen würde. Es hatte nun seit fast zehn Tagen ein blutiges Chaos geherrscht, und er wusste, wie sehr Mr. Rockefeller alles verabscheute, was unordentlich und ungerecht war. Heute war zu erfahren, dass Präsident Woodrow Wilson Bundestruppen nach Ludlow schickte, um beide Konfliktparteien zu entwaffnen. Man war erleichtert, realisierte aber gleichzeitig, welche Dimension die Angelegenheit angenommen hatte.

Am zweiten Mai wachte Jules auf, weil durch das geöffnete Fenster ein ungewohntes Geräusch von der Strasse zu ihm heraufdrang. Es waren Menschenstimmen, ein kleiner Chor, der murmelte, dazwischen sang. Er stand auf und schaute hinunter. Was er sah, konnte er zuerst nicht einordnen. Es waren etwa zehn schwarz gekleidete Gestalten, manche hatte ihre Gesichter hinter schwarzen Masken versteckt. Sie gingen in langsamem Gleichschritt, an der Spitze des kleinen Zugs wurde eine Fahne getragen, zwei Männer trugen einen Kindersarg. Vor dem Eingang der Mansion hielten sie inne und begannen zu rufen:
"Rock – e – feller! Remem – ber Ludlow! Rock – e – feller! Remem – ber Ludlow!
Da stürmten die beiden Detektive aus dem Haus und begannen, die Protestierenden mit laut gebellten Befehlen und unter heftigem Gestikulieren zum Weitergehen zu bewegen, was ihnen schliesslich auch gelang. Jules schloss das Fester und zog sich an.

Die im Haus verbleibenden Angestellten wurden im Empfangsraum im Erdgeschoss versammelt. Mr. Rockefeller kündigte an, dass sich nun auch er nach Pocantico zurückziehen müsse. Er bezeichnete die Bediensteten, die ihn dabei begleiten würden, die andern würden im Haus verbleiben. Er konnte nicht angeben, für wie lange dieser Ausnahmezustand andauern würde, er rechne aber mit etwa zwei Wochen. Wenn er sich nicht mehr in New York befinde, werde den Protesten das Ziel entzogen. Die Lage sollte sich auf diese Weise schnell beruhigen. Die Bundestruppen hätten bereits begonnen, Waffen einzusammeln, und die Streikenden würden kooperieren, soweit er informiert sei. Wer hier im Haus Dienst tue, habe also nichts zu befürchten. Die Abfahrten der drei Automobile, die nach Pocantico fahren würden, erfolgten gestaffelt. Aus einer aufgehängten Liste könnten die Angestellten ersehen, wann sie an der Reihe seien.

Jules war froh, unter denen zu sein, die zum Landhaus der Familie fahren durften. Die Stimmung im Haus kam ihm nun doch hysterisch vor. Den ganzen Tag hindurch befragten Billy Ward und seine zwei Assistenten jeden einzelnen der Angestellten, mindestens eine halbe Stunde lang. Er kam kurz nach dem Mittagessen dran. Zuerst nahm man seine persönlichen Daten auf und er musste seine Papiere zeigen. Dann wurde er über seine Freunde und Bekannten in den Vereinigten Staaten ausgefragt. Er hätte am liebsten gesagt, dass er gar keine habe, aber das hätte man ihm wohl nicht geglaubt, und er wusste auch nicht, ob die Detektive das Personal schon vor den Ereignissen in Colorado beobachtet hatten. Also sagte er, als Kammerdiener habe er wenig Freizeit und daher auch wenige Freunde und Bekannte ausserhalb des Hauses. Er nannte die Stöcklis in Ohio, das hielt er für unverfänglich, dann auch Edmond, dessen Bereitschaft zur Unterordnung er kannte. Fiona verschwieg er mit klopfendem Herzen, obwohl ihn Mr. Ward direkt fragte, ob er eine Freundin habe.
"Im Moment nicht. Wie gesagt..."
Zu seiner Erleichterung liess man es dabei, fragte nun aber nach Namen, von denen er noch nie gehört hatte. Ob er Verbindungen habe zu einem Ferrer Center, ob er einen Mr. Alexander Berkman kenne, oder Mr. Carlo Tresca. Ob er Mitglied sei einer anarchistischen Gruppe, oder einer kommunistischen Partei. Schliesslich wurde er entlassen.

Sie kamen erst spät nachts in Pocantico an, die Kinder schliefen schon alle. Mr. Rockefeller wollte noch mit seiner Frau Tee trinken und die Situation bereden. Jules wurde weggeschickt und durfte sich zurückziehen. Er wollte noch einen Spaziergang durch den Park machen, liess aber davon ab, als er zwei bewaffnete Männer erblickte, die in einiger Entfernung ihre Runden drehten. Er setzte sich auf einen der Rohrsessel, die auf der Aussenterrasse standen, und drehte ihn so, dass er die Wachleute nicht sehen musste.

Für die Kinder war es am schwierigsten. Die grossen, Babs und John, und zum Teil auch schon Nelson, verstanden schon einiges von dem, was die Erwachsenen erzählten. Und sie beobachteten die Wachmänner mit ihren geschulterten Gewehren, und machten sich ihren eigenen Reim darauf. Ausserdem wurden sie in ihren Bewegungen, die sie üblicherweise an diesem Ort unternehmen durften, deutlich eingeschränkt. Keine unbegleiteten Ausflüge in den Park, keine Ausritte. Das Hallenbad bot einen gewissen Ausgleich, und vor allem Nelson spielte so lange Seehund und Walfisch, bis nicht nur seine Lippen, sondern auch die Finger und Zehen blau waren, und er noch ein halbe Stunde weiter zitterte, wenn man ihn endlich aus dem Wasser geholt und in warme Tücher gehüllt hatte. Jules war von Lady Aldrich Rockefeller gebeten worden, sich auch etwas um die Kinder zu kümmern, aber er wusste nicht, was da genau seine Aufgabe war. Er hatte es als Kind kaum je erlebt, dass Erwachsene mit ihm gespielt hatten. In guten Momenten hatte man ihm etwas gezeigt, was er noch nicht kannte, oder ihm etwas beigebracht. Ihn an etwas teilnehmen lassen, was bisher nicht zu seiner Kinderwelt gehört hatte. Also zeigte er den Kindern, wie man Holz so aufschichtet, dass der Stapel nicht wieder auseinanderfällt. Oder wo man jungen Löwenzahn fand, den man essen konnte. Einmal, als Nelson wieder einmal über Langeweile klagte, nahm er ihn bei der Hand und sagte: "Komme, ich zeige dir was!", ohne einen Plan zu haben. Er meldete dem Wachmann, dass sie zum Golfplatz hinunter gingen, weil er dachte, dort könnte er mit dem Buben vielleicht einen Tunnel graben in einem der Sandlöcher. Als sie beim ersten ankamen, sah Jules sofort, dass die Ränder der Sandgrube ein idealer Ort waren für Ameisenlöwen. Der Sand war dort feiner, und der Grasboden bildete eine Art Dach, unter dem es trocken blieb. Er hatte keine Ahnung, ob es in Amerika auch Ameisenlöwen gab, aber nach kurzem Suchen fand er mehrere der Trichter. Nelson hatte schon ein paarmal nörgelnd gefragt, was er ihm denn zeigen wolle. Nun kauerte sich Jules neben den Trichtern nieder und sagte:
"Schau, in jedem dieser kleinen Löcher sitzt ein kleines Tierchen, das wartet auf Beute. Suche mal ein paar Ameisen, dann wirst du sehen, was passiert."
Die erste zerdrückte Nelson aus Ungeschick, die zweite liessen sie in einen der Trichter fallen. Sie versuchte, an der Wand des Trichters emporzuklettern, aber der Sand war so fein, dass er unter ihren Beinchen wegrutschte. Kaum hatte der herunterrieselnde Sand den Grund des Trichters erreicht, wurde von dort wie von Zauberhand neuer Sand nach oben geschleudert. Das Kind zuckte beim ersten Mal verschreckt zurück, schaute dann aber fasziniert zu, wie die Ameise immer näher zum Zentrum des Trichters befördert und dort schliesslich von zwei Klauen gepackt wurde. Nelson war begeistert.
Auf dem Rückweg zum Haus schwieg er lange, dann fragte er:
"Sind wir belagert?"

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen