Mittwoch, 21. April 2021

Im neuen Haus

Jules wollte von Edmond begleitet werden beim Übergang zum neuen Dienstverhältnis. Schon der Abschied von den McCurdys stellte er sich kompliziert vor, weil sein Dienstherr sich doch an ihn gewöhnt und ihn manchmal in den Konflikten mit seiner Frau fast wie einen Komplizen behandelt hatte. Vor seiner neuen Aufgabe hatte er grossen Respekt. Seit er von Mr. Rockefeller Juniors Interesse an seiner Person erfahren hatte, interessierte er sich vermehrt für Informationen über den zukünftigen Dienstherrn. Er begann eine Vorstellung zu entwickeln von den Dimensionen der häuslich privaten wie der öffentlich beruflichen Verhältnisse, in die er da geraten würde. Schon die Liste der Hausangestellten war doppelt so lang wie diejenige seines bisherigen Arbeitgebers, und alle Gebäude und Räumlichkeiten, in denen er arbeiten würde, schienen die Ausmasse von Palästen zu haben. Auch Edmond wirkte nervös und reagierte ausweichend auf das von Jules geäusserte Bedürfnis nach Unterstützung, so dass sich dieser zu ungewohnter Deutlichkeit durchringen musste.
"Sie können mich da nicht im Regen stehen lassen, Edmond! Schliesslich war das ja Ihre Idee. Und es liegt wohl auch in Ihrem Interesse, dass das gut herauskommt."
Edmond beteuerte wortreich, er habe nie die Absicht gehabt, Jules allein zu lassen, und natürlich werde er alles in seiner Macht Stehende tun, ihn auf optimale Weise in sein neues Betätigungsfeld einzuführen.

Zuerst musste das alte Dienstverhältnis beendet werden. Die Besprechung mit den McCurdys fand im häuslichen Büro des Dienstherrn statt, am Konferenztisch, an dem sechs Personen Platz gehabt hätten. Man sass recht weit auseinander, Mr. McCurdy und Edmond an den schmalen Enden, Jules und Mrs. McCurdy an den Längsseiten, wobei diese beide ihre Stühle diskret seitlich verschoben, sie näher zu ihrem Mann, Jules zu Edmond. Diese Geometrie trug sicherlich zum förmlich steifen Verlauf des Gespräch bei. Mrs. McCurdy flocht allerlei kleine Anekdoten ein, von Vorfällen, bei denen Jules aus ihrer Sicht Fehler unterlaufen seien. Sie wollte offensichtlich die Tatsache, dass er von einem bedeutenderen Dienstherrn abgeworben worden war, nicht anerkennen und versuchte, aus seinem Abschied eine Kündigung ihrerseits zu schmieden. Edmond war aber zu Jules' Erleichterung sehr aufmerksam und durchkreuzte Mrs. McCurdys Pläne erfolgreich, indem er sich konsequent an ihren Mann wandte. Er brachte es sogar fertig, die grundsätzlichen Differenzen der Eheleute bezüglich der Anstellung eines Kammerdieners zu aktualisieren, indem er so tat, als sei er bereits beauftragt, einen baldigen Ersatz für Jules zu beschaffen, was er angesichts der Qualität des scheidenden Dieners als nicht gerade einfach bezeichnete. Über diese Auslassungen wurde Mrs. McCurdy so wütend, dass sie trotzig verstummte. Mr. McCurdy holte schliesslich aus seinem Portfolio ein Arbeitszeugnis für Jules hervor, das er vorbereitet hatte. Er überreichte es mit einer kurzen Rede des Dankes, die Jules berührte. Er hatte sich mit dem oft plumpen, zerstreuten Mann nicht leicht getan, aber gerade deshalb war er ihm ans Herz gewachsen. Er musste sich nicht zwingen, Mr. McCurdy die Hand zu reichen und sich seinerseits zu bedanken.

Er war sehr froh, dass der neue Arbeitsort so nahe beim alten lag, denn zum Zeitpunkt, als er sein Gepäck in die Vierundfünfzigste transportieren lassen musste, gegen Ende März 1914, lag mehr als ein Fuss Schnee auf den Gehsteigen. Es kam zu der erst zweiten, und gleichzeitig letzten, Begegnung mit dem schwarzen caretaker der McCurdys, William Ryan. Dieser hatte sich für seine Besorgungen während dem grossen Schnee einen Handschlitten gebaut, auf den er Jules' Taschen und Koffer mit Seilen festzurrte. Er redete nur wenig, in einem eigentümlichen Dialekt, und nahm dazu seine Pfeife nicht aus dem Mund. Jules verstand fast nichts, nickte und lächelte deshalb mehr als nötig. Sie konnten nicht nebeneinander gehen, weil nur ein schmaler Trampelpfad freigeräumt war. Der Hausmeister stapfte voraus und zog, Jules ging hinter dem Schlitten und war bemüht, ein Kippen des Gefährts zu verhindern. Er war froh um die Stiefel, die er sich angeschafft hatte.

Als er vor der Mansion stand, legte er den Kopf in den Nacken und schaute nach oben, bis ihm die Augen tränten. Er war beeindruckt. Acht Stockwerke türmten sich aufeinander, jeweils zwei oder drei zusammengefasst durch wuchtige Simse, die das Gebäude umschlossen wie Stahlbänder eine Transportkiste. Die schmale, mit nur drei Fenstern nebeneinander ausgestattete Seite bildete die Fassade gegen die Strasse. Zum Garten und zum daran anschliessenden, älteren Haus von Rockefeller Senior präsentierte das Gebäude eine hoch aufragende Wand, links und rechts gerahmt von zwei turmartigen Anbauten, in welche die mächtigen, nochmals etwas vorstehenden Kaminschächte eingebaut waren. Im unteren Teil wölbte sich die Fassade in der Mitte gegen den Garten vor und bot Raum für eine gedeckte Terrasse im ersten sowie eine offene im zweiten Stock.
"Sieht aus wie eine Fabrik, wenn Sie mich fragen."
Mr. Ryan hatte die Pfeife aus dem Mund genommen und war klar und deutlich zu verstehen. Sie suchten die Klingel und fanden schliessliche einen unscheinbaren Knopf, den sie drückten. Ein junger Hausangestellter öffnete ihnen und führte sie in die Eingangshalle, wo er Jules' Mantel abnahm und ihn bat, im Empfangsraum Platz zu nehmen. Er möge bitte auf den Butler, Mr. Dowers, warten. Das Gepäck werde in der Zwischenzeit ins Haus gebracht. Jules gab Mr. Ryan ein paar Münzen und verabschiedete sich von ihm. Dann setzte er sich auf einen der Stühle und wartete. Es war dunkel in dem Raum, und er hatte kalte Füsse.

Mr. Dowers war eine stattliche Erscheinung. Er war ähnlich gekleidet wie der Butler von Mr. McCurdy, mit schwarzem Cutaway und dezent grau gestreifter Hose, aber Jules sah sofort einen Unterschied in der Qualität der Stoffe und des Schnitts. Dowers war etwa gleich gross wie er, Jules schätzte sein Alter auf fünfundvierzig Jahre. Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, deutete der Butler wieder auf den Stuhl.
"Bitte setzten Sie sich doch noch einmal. Ich halte es für das Beste, wenn ich Ihnen zuerst den ganzen Ablauf Ihrer Einführung in unser Haus schildere, so wie er von Sir John in Absprache mit Lady Aldrich Rockefeller festgelegt wurde."
Am heutigen Tag sollte Jules den anwesenden Hausangestellten vorgestellt werden. Man würde ihm das Haus zeigen und ihm beim Bezug seines Zimmers im vierten Stock behilflich sein. Dort befänden sich auch die Zimmer der Kinder, der Kindermädchen sowie der zwei Butler. Die Kinder dürfte er bei dieser Gelegenheit ein erstes Mal kurz kennenlernen, sofern sie im Haus seien. Es könne auch sein, dass man bei der Besichtigung schon auf die Hausherrin stossen werde, was für eine kurze Begrüssung genutzt werden könne. Sir John sei heute und am Samstag in Pocantico, um nach seiner Mutter zu schauen, die leider erkrankt sei. Am morgigen Tag, am Donnerstag Vormittag um zehn Uhr dreissig, fände dann die offizielle Einführung ins Team der Angestellten statt, in Anwesenheit von Mr. Rockefeller Junior und seiner Gemahlin. Auch Jules' Vermittler, Mr. Edmond Jacquelin werde dort dabei sein, ebenso wie bei der darauf folgenden Erledigung der Formalitäten in Sir John's Büro. Jules werde in den ersten zwei Wochen von ihm, dem ersten Butler, sowei von der Haushälterin, Miss Annie Davis, betreut und bei verschiedenen innerhäuslichen Diensten eingesetzt. Es könne auch sein, dass er in dieser Zeit ein paar Mal mitfahren werde in Sir John's Büro im Standard Oil Building am Broadway. So könne er Schritt für Schritt an den Tagesablauf seines Dienstherrn herangeführt und damit vertraut gemacht werden. Mr. Rockefeller Junior werde dann das Signal geben für den Beginn von Jules' spezifischen Aufgaben als Kammerdiener. Ob dies so auch in seinem Sinne sei?
"Ja, ich kenne dieses Vorgehen aus meinem letzten Dienstverhältnis. Das hatte sich bewährt, vielen Dank!"
Jules folgte dem Butler zum Aufzug und sie liessen sich hochfahren zum Dachgeschoss des riesigen Hauses.

Was Jules auf den obersten zwei Stockwerken zu sehen bekam, machte ihn sprachlos. Es gab eine Turnhalle im Siebten, gefüllt mit Geräten, deren Funktion er längst nicht bei allen erkannte. Auch musste er sich vom Butler die Spielweise von squash erklären lassen, ein Spiel, für das ein eigener Platz eingerichtet war, mit hohen Wänden an drei Seiten. Es gab ein kleines Schwimmbad, dazu eine Badewanne, so gross, dass ein kleiner Elefant darin Platz gefunden hätte. Mr. Dowers nannte es ein spa, zweimal, weil Jules es nicht auf Anhieb verstand. Für die Kinder waren zwei Spielzimmer eingerichtet. Aus einem drangen fröhliche Kinderstimmen, und als sie eintraten, trafen sie auf zwei kleine Buben, die unter der Aufsicht eines Kindermädchens mit ihrer Eisenbahn spielten. Die Schienen bedeckten eine grosse Fläche des Fussbodens, eine aufziehbare Lokomotive war gerade dabei, in einem Tunnel zu verschwinden. Der grössere Bub versuchte den kleineren daran zu hindern, den Ausgang mit Klötzen zu blockieren, da klatschte das Kindermädchen in die Hände und hielt ihre Zöglinge dazu an, Jules die Hand zu geben und ihn, den neuen valet ihres Vaters, zu begrüssen.
"Das ist Mr. Chiquet, bitte sagt schön eure Namen."
Der Ältere stellte sich vor Jules auf, gab ihm die Hand, schaute ihm in die Augen und sagte:
"Guten Abend, Mr. Chiquet. Ich heisse Nelson und bin sechs Jahre alt."
Jules staunte. Die anerzogen guten Manieren wurden von dem kleinen Mann mit erstaunlicher Leichtigkeit aufgeführt. Als der Kleinere an der Reihe war, brachte er keinen Ton heraus und drehte verlegen am Saum seines Schürzchens. So redete der grosse Bruder an seiner Stelle.
"Und das ist mein Bruder Laurance, Sir. Er ist erst vier Jahre alt." Die Kinder wollten aufs Dach mitkommen, was ihnen aber von der nurse angesichts der Kälte und Nässe verwehrt wurde.

Zuoberst stand den Kindern bei freundlichem Wetter noch ein Spielplatz im Freien zur Verfügung, mit Sandhaufen, einem kleinen Fort aus Holz, Schaukelpferden und -schwänen, einem Tor für Ballspiele. Neben einem Garten wurde ein grosser Teil der Dachfläche eingenommen von einem verglasten Pavillon, darin sah Jules Liegestühle, Betten, Tische und Regale, verstellbare Trennwände und eine Theke mit Barstühlen. Es wurde ihm erklärt, dass sich hier manchmal, zum Beispiel in heissen Sommernächten, die ganze Familie zum Schlafen zurückziehe. Die Glaswände liessen sich fast nach Belieben drehen und verschieben, so dass für optimale Belüftung und eine angenehme Atmosphäre gesorgt sei. Man hatte eine beeindruckende Rundsicht aus dieser Höhe, die Mr. Dowers mit hundertundzwei Fuss angab. Er rechnete es um für Jules, mit ungefähr einunddreissig Metern sei es das höchste Privatgebäude von New York. Man hörte ihm den Stolz auf seinen Arbeitsort an. Es wurde ihnen schnell kalt, sodass sie wieder ins Innere und zum Treppenhaus gingen. Im fünften und sechsten Stock zeigte ihm Mr. Dowers je ein Schlafzimmer, einen Aufenthaltsraum und ein Badezimmer, in zwei unterschiedlichen Grössen und Graden der Luxuriosität. Es handelte sich um die Gästezimmer, die noch nie alle gleichzeitig belegt gewesen seien. Bei grösseren Einladungen werde den Gästen eine Übernachtung im Hause angeboten, seltener nähmen auch Geschäftsfreunde oder Bekannte für ein paar Tage die Gastfreundschaft der Rockefellers in Anspruch. Bei solchen Gelegenheiten könne ein beträchtlicher Teil der Angestellten an diese zwei Etagen gebunden sein.

Im vierten Stock, wo sich die Kinderzimmer, die Räume der Kindermädchen sowie diejenigen der persönlichen Betreuer der Familie befanden, also auch sein zukünftiges Zimmer, trafen sie auf die Hausherrin, die sich mit einer Kinderfrau gerade um den kleinsten Bub, um Winthrop, kümmerte. Ihn plagten die Zähne, er hatte rote Backen und weinte. Trotzdem wandte sich Mrs. Rockefeller sehr freundlich den zwei Eintretenden zu und begrüsste Jules mit kräftigem Händedruck. Er hatte schon Fotos von ihr in der Zeitung gesehen. Auffällig an ihrem Gesicht war der kurze Abstand vom Mund zu ihrer Nase, die dadurch länger wirkte, als sie tatsächlich war. Sie war eine grosse, stattliche Person, gehüllt in ein helles Kleid mit Spitzen an Kragen und Ärmeln. Um den Hals trug sie eine Kette aus einer Reihe grosser, runder Perlen. Ihr dunkles Haar bildete eine Art Kappe aus gedrehten Locken und Wellen. Sie hatte eine einnehmende Art, das Gegenüber anzuschauen, als wolle sie gleich einen Scherz machen um darüber zu lachen. Ihre Stimme war etwas schrill, und sie sprach sehr selbstbewusst.
"Ich nehme an, man kümmert sich gut um sie, Mr. Chiquet. Unser armer Winthrop zahnt, wir machen ihm jetzt einen Tee. Meinen Mann werden Sie wohl erst morgen antreffen. Er ist im Haus seiner Eltern, in Pocantico, und kümmert sich um seine Mutter. Es steht leider nicht gut um sie, die Arme hat eine Lungenentzündung. Bitte entschuldigen Sie mich nun!"

Im dritten Stock wurde Jules die Bibliothek gezeigt. Er kannte so etwas nur von Abbildungen, Wände aus Büchern, seitlich rollbare Leitern, grosse Tische mit Lederbezügen, darüber spezielle Lampen, deren Licht sich mit Klappen regulieren und richten liess. In diesem Stock befand sich auch das Schlafzimmer der Rockefellers, mit je einem anschliessenden Ankleideraum.
"Das wird für Sie ein wichtiger Raum werden. Ich werde Ihnen alles zeigen, was Sir John's Kleider und Toilette betrifft, aber das hat noch Zeit", sagte der Butler im dressing room des Dienstherrn. Der andere wurde ihm nicht gezeigt. Die Besichtigung wurde wirkungsvoll abgeschlossen mit einem Rundgang im ersten Stock, wo sich Jules alleine schon wegen der Höhe der Räume klein und unbedeutend vorkam. Dazu kam die einschüchternde Ermahnung des Butlers, sich vorsichtig und mit dem nötigen Abstand zu den chinesischen Porzellanvasen zu bewegen, die überall aufgestellt waren, auf speziell dafür eingerichteten Regalen, auf dem Sims des voluminösen Kamins, auf Sockeln und Säulen, manchmal verdoppelt durch dahinter angebrachte Spiegel.
"Die Sammlung von Mr. Rockefeller Junior ist einzigartig. Mit ihrem Gegenwert könnte leicht nochmals so ein Haus gebaut werden", verkündete der Butler mit Pathos in der Stimme. Mit den Säulen und Verzierungen aus Stuck, dem auf mehrfarbigem Parkett ausgelegten Perserteppichen, bestickten Polstersesseln, wuchtigen Kronleuchtern, Vitrinen mit weiterem Porzellan, Seidenvorhängen und Blumenarrangements entfaltete sich vor Jules' Augen eine Pracht, die auf ihn abweisend wirkte. Es fiel ihm schwer, sich Szenen des täglichen Lebens darin vorzustellen, mit lebendigen Menschen, die schwatzten und lachten. Unwillkürlich dachte er daran, wie sie zuhause manchmal Hühner aus der Stube scheuchen mussten, die sich dorthin verirrt hatten. Er konnte sich selber noch nicht sehen in solcher Umgebung. Trotzdem bemühte er sich, einer gewissen Bewunderung für den Pomp Ausdruck zu geben, weil Mr. Dowers dies zu erwarten schien.

Das Team der Hausangestellten, das sich am nächsten Morgen im Empfangsraum versammelte, war noch grösser, als er es sich vorgestellt hatte. Eine Sekretärin des Dienstherrn hatte eine Liste mit allen Namen und Funktionen vorbereitet. Die ersten Exemplare bekamen Jules und zwei weitere Angestellte, die heute offiziell in den Haushalt aufgenommen werden sollten, eine Wäscherin sowie eine zweite Köchin. Edmond war auch schon da und unterhielt sich lebhaft mit seiner früheren Kollegin, der Haushälterin Miss Davis. Als Mr. Rockefeller Junior, zusammen mit seiner Frau, eintrat, wurde es augenblicklich still. Sir John lächelte freundlich in die Runde, wirkte dabei aber angespannt und müde. Er sprach leise und in wohlgesetzten Worten. Jules sah verstohlen um sich und bemerkte mit Erstaunen, wie alle im Raum an den Lippen des Hausherrn hingen. Er hielt eine Rede von gut einer Viertelstunde, in der er an die Bereitschaft zur Pflichterfüllung sowie an den Teamgeist aller Anwesenden appellierte. Gegen Ende stellte er die Neuen vor, Jules und die zwei Frauen, Miss Ida Anderson und Augusta Wjovkist, die gut in ihr Arbeitsumfeld einzugliedern eine Aufgabe aller sein müsse. Jemand in Jules' Umgebung äusserte den Spruch, die skandinavische Fraktion würde also weiter verstärkt, was zu verhaltendem Gelächter Anlass gab. An dieser Stelle ergriff Mrs. Rockefeller das Wort. Sie wies auf die Verdienste der beiden leitenden Angestellten hin und liess Miss Swenson und Mr. Dowers vortreten. Applaus ertönte, und nachdem er verhallt war, forderte die Hausherrin alle Angestellten auf, die Haushälterin und den ersten Butler nach Kräften zu unterstützen und ihren Anordnungen strikte Folge zu leisten. Im übrigen könne man sich im Falle einer unlösbaren Meinungsverschiedenheit oder bei Problemen jeglicher Art auch immer vertrauensvoll an sie wenden, ein Angebot, das verschiedene Anwesende in der Vergangenheit schon genutzt und damit zum Hausfrieden beigetragen hätten. Jules sah vereinzelt Köpfe nicken. Es entstand ein Getuschel, und halblaut wurden Fragen geäussert zu zwei Männern, die in der Nähe des Dienstherrn standen, und die man nicht kannte. Mr. Rockefeller reagierte, und stellte sie vor als detectives Billy Ward und Charles Bacon. Ihnen komme die Aufgabe zu, in der gegenwärtigen Lage schwer einzuschätzender Dynamik für die Sicherheit des Hauses zu sorgen. Oft werde man die zwei Herren sicher nicht zu Gesicht bekommen – die Detektive grinsten zu dieser Bemerkung – , aber die Angestellten seien angewiesen, ihnen jederzeit für Auskünfte zur Verfügung zu stehen, wenn sie dies für angebracht hielten. Für den Schluss seiner Rede stellte sich Mr. Rockefeller wieder an die Seite seiner Frau und wechselte den Tonfall.
"Wie Sie sicher gehört haben, kam ich gestern Abend spät von Pocantico zurück, wo ich mich um meine schwer erkrankte Mutter kümmern musste. Ich werde am Samstag wieder hinreisen, wir hoffen aber zusammen mit den Ärzten, dass sie die Krise heil übersteht und bald wieder genesen wird. Ich lerne daraus selbst wieder, dass die Erbringung nützlicher Dienste unser aller gemeinsame Pflicht ist. Dem Hang zur Selbstsucht begegnen wir am besten, indem wir Opfer erbringen und so die Größe unserer menschlichen Seele freisetzen."
Gut gepredigt, fand Jules, und tatsächlich wurden einige Amen gemurmelt. Er konnte nicht einschätzen, ob sie ernst gemeint waren.

Danach gab es Tee und kleine Häppchen, welche im Stehen eingenommen wurden. Jules musste warten, bis er nach den zwei neuen Kolleginnen ins Büro des Dienstherrn gerufen wurde. Die Anstellung der zwei Detektive wurde unter den Herumstehenden lebhaft diskutiert, über den Grund dafür sprach man aber nur in Andeutungen. Es musste mit dem Streik in Colorado und der zunehmenden Kritik an Mr. Rockefeller Junior zu tun haben, das war auch Jules klar. Als er mit Edmond ins Büro trat, stand Sir John von seinem Schreibtisch auf und begrüsste sie beide durch Handschlag.
"Konnten Sie sich schon etwas eingewöhnen, Mr. Chiquet? Hat Ihnen unser Mr. Dowers alles Nötige gezeigt?
Als Jules dies bejaht hatte, setzte man sich an einen Besprechungstisch. Und wie es Edmond vorausgesehen hatte, lag ein schriftlicher Vertrag vor, in dreifacher Ausführung, den durchzulesen er höflich gebeten wurde. In dem Papier stand wenig, was von den Bedingungen bei seinem früheren Arbeitgeber abwich. Es stand nichts von einer Probezeit. Als Edmond danach fragte, verwies Mr. Rockefeller auf die gegenseitige Kündigungsfrist von einem Monat, eine Regelung, die sich bewährt habe. Im Krankheitsfall, nach einem Unfall oder für Besuche bei Verwandten stand den Angestellten grundsätzlich keine Bezahlung zu. In Einzelfall werde aber geprüft, ob dadurch ein Härtefall entstehe, den man in Betracht ziehen müsse. Was neu war und auch Anlass gab für eine ausführlichere Erläuterung, war ein Abschnitt, in dem es um Loyalität zum Dienstherrn und zu dessen Familie ging, auch um Diskretion bezüglich dessen, was ein Bediensteter im Hause an privaten und geschäftlichen Dingen mitbekomme. Es wurde betont, dass seine Anstellung im Haus Rockefeller jegliche andere berufliche Einbindung ausschliesse. Eine Reihe von Organisationen war aufgelistet, mit denen nichts zu tun zu haben er mit seiner Unterschrift bezeugen sollte. Ebenso wurden ihm jegliche patriotische Tätigkeiten oder Äusserungen untersagt, die mit seinem früheren Heimatland in Verbindung gebracht werden könnten. Man erklärte ihm, solche Aktivitäten hätten, gerade in New York, in letzter Zeit zugenommen, parallel zu den politischen Spannungen in Europa, und bei seinem Vorgänger, einem Kammerdiener mit deutscher Abstammung, zur Entlassung geführt.

Jules hatte das Gefühl, nicht ganz in seiner Haut zu stecken. Die in ruhigem, gleichmässig hellem Ton erklärende Stimme von Mr. Rockefeller schien in einer ihm kaum verständlichen Sprache zu sprechen. Es war wie damals vor sieben Jahren, als er frisch ins Land gekommen war, und seine Konzentration nicht ausreichte, jedes fremde Wort zu erfassen. Zweimal musste er gefragt werden, ob er alles verstanden habe und bereit sei, zu unterschreiben. Als er es getan hatte, gab er sich einen Ruck. Er wollte noch etwas Eigenes, Ehrliches sagen.
"Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Sir. Ich hoffe, Ihre Erwartungen erfüllen zu können, Sir."

Nach einem Mittagessen im Essraum der Bediensteten, auch im Erdgeschoss, hatte Jules eine Stunde für sich, auf seinem Zimmer im Vierten. Seine Taschen und Koffer standen noch unausgepackt herum. Er sah lange aus dem Fenster, auf das Tauwetter draussen. Weit unten zog ein Pferdegespann einen hölzernen Keil durch den Matsch, er hörte den Glockenschlag der nahen Kirche. Eine Taube landete auf dem Sims vor dem Fenster, und flog gleich wieder auf, als er eine Bewegung machte. Er zog seinen Kittel aus und hängte ihn über die Lehne des Stuhls, streifte die Schuhe von den Füssen und legte sich aufs Bett. Jetzt, wo erreicht war, was er sich heimlich gewünscht hatte während der letzten Jahre, fühlte er sich traurig und leer. Es war die Aussicht, sich in fremder Umgebung aufs Neue in ein System von Regeln und Verboten einfühlen zu müssen, die ihn müde machte. Er wusste, dass ihm dies, genauso wie die völlige Anpassung an die Wünsche und Launen eines Dienstherrn, bald gelingen und sogar Freude bereiten würde, aber im Moment spürte er keinerlei Energie in sich, wenn er an die kommende Zeit dachte. Er sehnte sich nach dem Stall, nach dem stummen Zutrauen der Tiere, nach ihrer Wärme und ihrem Geruch. Und schlief ein.

Vielleicht hatte es schon länger an der Türe geklopft, als er aufwachte. Draussen stand der jüngere Butler, Arthur Smith, der ihn im Auftrag von Mr. Dowers abholte zum Silber putzen. Als der Lift auf dem Stockwerk ankam, stiegen die älteren zwei Kinder der Rockefellers aus, die eben von der Schule heimgekommen waren. Der Butler sorgte für eine ordentliche gegenseitige Vorstellung. Beide Kinder trugen sehr gepflegt aussehende Schuluniformen, auf dem Kopf des Mädchens thronte eine riesige weisse Schlaufe. Sie gab Jules die Hand und deutete gekonnt einen Knicks an.
"Ich heisse Abby, aber die meisten sagen Babs zu mir. Ich bin elf Jahre alt."
"Wir nennen Sie Miss Abby", stellte Mr. Smith klar. Dem Bub schien das Begrüssungsritual lästig zu sein.
"Ich heisse einfach John."
"Mister John spielt darauf an, dass er zuweilen 'John der Dritte' genannt wird. Er ist acht Jahre alt, nicht wahr?"
Aber da waren die Kinder schon davongerannt.

Sie fuhren mit dem Lift in den ersten Stock, wo sie zwei grosse Körbe mit Besteck, Kannen, Platten und allerlei Tischaufsätzen abzuholen hatten. Danach ging es ins Untergeschoss, in die Küche, wo der grosse Tisch mit Tüchern abgedeckt war. Jules war gespannt, welche Methoden und Mittel in diesem Haus angewandt wurden. Miss Carlson, die Köchin, hatte ihnen einen grossen Kessel mit Wasser auf dem Herd bereit gestellt, und Mr. Smith begann, Soda und Salz mit einem Massbecher abzumessen und beizufügen. Das war etwas Neues für Jules. Die Brühe wurde aufgekocht, dann wickelte der Butler ein Stück graues Metall aus einem Lappen und liess es in den Kessel plumpsen.
"Aluminium!" sagte er stolz. "Man kann auch ein Stück Zink nehmen, aber das verbraucht seine Wirkung viel schneller."
Mit einer hölzernen Zange legte er nun Stück für Stück des Silbers in die kochende Lösung. Jules bekam einen grossen Holzlöffel und konnte mithelfen.
"Wir müssen schauen, dass ein grösseres Stück mit dem Aluminium in Berührung bleibt, und alle anderen wiederum mit diesem und untereinander. Es geht um elektrischen Strom, der dabei entsteht. Jedenfalls hat das Mr. Dowers so erklärt. Sie werden staunen, was jetzt passiert!"
Es war wirklich staunenswert, was sich vor ihren Augen abspielte. Das Silber hellte sich in Sekundenschnelle auf, bekam zwar nicht die helle Farbe, die durch Reiben mit Poliermitteln entstand, welche Jules kannte. Aber die Veränderung geschah überall, in allen Vertiefungen und Gravuren. Die Stücke wurden nun aus dem Kessel gefischt und auf dem Tisch ausgebreitet. Die Nachbehandlung erfolgte so, wie es Jules kannte, durch Reiben mit Putzmittel, nur dass es viel scheller und gründlicher gelang nach dem Zauberbad. Miss Carlson half mit, sodass sie sich recht schnell durch den Silberberg arbeiten konnten. Anschliessend mussten die schwarzen Finger geschrubbt werden, bis sie brannten. Und es gab heissen Kakao. Jules wurde ausgefragt über die Schweiz. Er versuchte zu erklären, dass seine Heimat, die Ajoie, nicht gleichbedeutend sei mit der Schweiz. Man sagte ihm Sätze vor, die er in seinen Dialekt übersetzen musste, und versuchte, es nachzusagen. Es wurde viel gelacht. Seine trübe Stimmung hatte er vergessen.

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