Dienstag, 6. April 2021

vor Umbrüchen

Der Oktober 1913 begann mit sintflutartigen Regengüssen, denen das Kanalisationssystem der Stadt bei weitem nicht gewachsen war. Das Wasser hob die Gullyplatten an vielen Orten in die Höhe und warf sie zur Seite wie Bierdeckel. Unterführungen und Keller wurden überflutet, Archive lösten sich auf, Kurzschlüsse führten zu Bränden. Und es regnete fast den ganzen Monat hindurch weiter, sodass dieser Oktober zu einem der nässesten seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen wurde.

Ein beunruhigender Brief des ältesten Bruders Joseph erreichte Jules und seine Schwestern. Sie setzten sich zusammen, im Aufenthaltsraum des Home Jeanne d'Arc. Es ging dem Vater, nach einer längeren Phase scheinbarer Genesung, wieder schlechter. Ausserdem machte sich Joseph Sorgen über die politischen Spannungen zwischen dem deutschen Kaiserreich und Frankreich, deren Auswirkungen er an der Grenze sehen konnte, sowohl in Basel, wo die Grenzwache durch Soldaten verstärkt wurde, als auch bei Bonfol, in der Nachbarschaft von Cornol, wo die gegnerischen Länder mit der Schweiz einen gemeisamen Grenzpunkt teilten. Er machte in seinem Schreiben deutlich, dass er ihre Heimkehr wünschte, zumindest vorübergehend, damit man sich gemeinsam Gedanken über die Zukunft der Familie machen könne. Für Marie war es sofort klar, dass sie zurückkehren werde. Berthe dagegen war masslos enttäuscht. Sie hatte die Krankheit des Vaters schon völlig vergessen und damit gerechnet, dass bald auch die jüngste Schwester Clara zu ihnen stossen werde. Auch Jules musste zugeben, dass er, wegen dem längeren Ausbleiben schlechter Nachrichten von zuhause, sich nicht mehr gefragt hatte, wie es dem Vater gehe. Es wurde ihm bewusst, wie wenig er bisher über das Altwerden, oder gar den Tod, seiner Eltern nachgedacht hatte. Und deutlicher als auch schon tauchte die Möglichkeit auf, sein amerikanisches Abenteuer könnte von begrenzter Dauer sein.
"Wir kommen wieder!", versuchte er Berthe trösten, aber sie legte den Kopf auf die Arme und heulte. Er verstand sie.

Mr. McCurdy überreichte ihm an einem Abend einen Briefumschlag von Edmond.
"Sie wollen uns doch nicht verlassen, Chiquet?"
Jules konnte nicht deuten, ob die Frage ernst gemeint war. Und er hatte keine Ahnung, was Edmond ihm mitteilen oder von ihm wollen könnte.
"Natürlich nicht, Sir. Vielleicht geht es um meine Schwester Berthe, Sir. Sie würde gerne als Hausangestellte arbeiten."
"Ach so!"
Mr. McCurdy schien nicht überzeugt zu sein.
Als Jules den Brief bei sich im Zimmer öffnete, las er wirklich von der Aussicht auf eine mögliche Arbeitsstelle seiner Schwester bei drei älteren, unverheirateten Geschwistern mit dem Namen Bayne, an guter Adresse. Edmond werde diese Option genau prüfen, was noch ein paar Wochen dauern könne. Er sei aber zuversichtlich. Dann kam eine seltsame Passage, die Jules betraf. Sie bestand nur aus Andeutungen. Er schrieb über Anzeichen von Interesse an seiner, Jules', Person aus allerhöchsten Kreisen, über die sie unbedingt bald, und persönlich, miteinander reden müssten. Er könne sich diese unerwartete und, im Falle ihre Eintretens, überaus glückliche Wendung selber nicht erklären. Vielleicht ahne Jules ja, woher und weshalb ihm das Schicksal winken könnte, aber weiteres lieber mündlich.

Jules sass auf seinem Bett, den Brief noch immer in der Hand. Er musste überlegen. Natürlich hatte er sofort an Rockefeller gedacht, aber warum sollte sich der Millionär jetzt plötzlich, mehr als zwei Jahre nach jener seltsamen Begegnung, für ihn interessieren? Er stand unter öffentlichem Druck wegen der Sache in Colorado, das wusste Jules von Fiona. Sie redete vom Colorado Coalfield War, wie es auch in Mr. McCurdys Zeitungen genannt wurde. Zudem redeten Mr. Kretschman und die anderen Angestellten im Haus häufig vom Umzug von Rockefeller Juniors Familie in die kürzlich fertigegestellte, achtstöckige Mansion an der Vierundfünzigsten. Die Rockefellers hatten in der Zwischenzeit fünf Kinder, und es gab viele Spekulationen über die Anzahl der Zimmer in dem riesigen Haus, und darüber, wie viele Hausangestellte dafür nötig seien. Natürlich träumten einige davon, einmal in so einer Umgebung arbeiten zu dürfen. Konnten diese Umstände, vielleicht zusammen mit einer Kündigung des bisherigen Kammerdieners, dazu führen, dass sich Mr. Rockefeller Junior an ihn, den Bauernbub aus dem Jura, erinnerte? Er versuchte, weiter reichende Überlegungen auf die Seite zu schieben und das Treffen mit Edmond abzuwarten.

Diesem erschien es am besten, wenn man sich an einem freien Sonntagnachmittag in einem Kaffee treffe, und so musste Jules schweren Herzens Fiona ausladen. Aber sie fand es aufregend.
"Da bin ich ja gespannt, ob du recht hast. Ob es wirklich um Rockefeller geht."
Halb scherzhaft fügte sie hinzu:
"Ich weiss nicht, ob ich das zulassen werde."

Als er Edmond im King's Coffee and Teas gegenüber sass, wollte dieser zu einer seiner ausschweifenden Einleitungen ansetzen, aber Jules unterbrach in sofort.
"Es geht um Mr. Rockefeller Junior, oder?"
Edmond schien einen Augenblick lang beleidigt, rührte in seinem Kaffee, räusperte sich und druckste herum. Schliesslich aber schwenkte er auf Jules' direkten Kurs ein und bestätigte:
"Ja, Sie haben es erraten. Ich weiss nicht, was da zwischen Ihnen vorgefallen ist, Jules. Man erwähnte, dass Mr. Rockefeller Junior Sie einmal gesehen habe, bei einer Besprechung in seinem früheren Haus an der Vierundfünfzigsten. Hat er Sie damals ausgefragt? Was hat er gesagt?"
Jules hatte nicht die Absicht, dem Vermittler von der speziellen Situation zu erzählen, die damals entstanden war, ob zufällig oder durch das Zutun des Millionärs.
"Nein, er hat nur gefragt, ob ich Mr. McCurdys Kammerdiener sei, was ich bejahte. Dazu gab ich ihm meinen Namen bekannt, und dass ich aus der Schweiz komme."
Edmond überlegte.
"Das könnte eine gewisse Rolle spielen. Aber am besten erzähle ich Ihnen der Reihe nach, wie mir Mr. Rockefellers Interesse an Ihnen überhaupt zu Ohren gekommen ist. Ich hatte vor Jahren das Vergnügen, mit Miss Annie Davis zusammenzuarbeiten, die jetzt Haushälterin ist bei den Rockefellers. Offenbar hat sich Mrs. Aldrich Rockefeller bei ihr nach einem zuverlässigen Vermittler erkundigt, wodurch mein Name ins Spiel kam. Gegenwärtig hat Mr. Rockefeller einen Kammerdiener deutscher Herkunft, der in letzter Zeit einen übertriebenen Enthusiasmus für die Sache seines ehemaligen Vaterlandes offenbart. Dem Dienstherr ist dies angesichts der politischen Lage in Europa, die vermehrt zu unerwünschten Resonanzen auch hierzulande führt, sehr unangenehm. Wie Sie vielleicht mitbekommen haben, steht Mr. Rockefeller auch wegen der Sache in Colorado in der öffentlichen Kritik, weshalb er sorgfältig darauf achten muss, dass keiner seiner Hausangestellten Indiskretionen irgendwelcher Art hinausträgt in ausserhäusliche Kreise. Noch schlimmer wären Beziehungen eines Angestellten zur Presse oder gar zu einer politischen Vereinigung. Er möchte sich also von seinem Kammerdiener trennen und sucht quasi ein unbeschriebenes Blatt. Jemand, der in dieser Situation ein Neutrum darstellt. Und selbstverständlich dennoch möglichst gute Empfehlungen für die Profession mitbringt."
"Und das wäre ich?"
"Das könnte Sie sein, ja doch."

Jules konnte Edmonds Überlegungen zwar nachvollziehen, aber angenehm war es ihm nicht, als "unbeschriebenes Blatt" oder gar als "Neutrum" zu gelten. Was sollte das überhaupt bedeuten? Aber er spürte ein Kribbeln im Bauch bei der Vorstellung, das erreichen zu können, was er sich nie ganz ernsthaft zu wünschen getraut hatte. Da kam ihm in den Sinn, dass sie ja im Sinne hatten, schon bald nach Cornol zurückzufahren.
"Meinem Vater geht es wieder schlechter, und wir haben beschlossen, ihn bald zu besuchen. Das heisst, ich könnte erst anfangs nächstes Jahr den Dienst antreten. Das ist wohl zu spät?"
Edmond beruhigte ihn.
"Nein, nein, das wird nicht so schnell gehen. Wie gesagt, war es ein vorsichtiges Herantasten von Seiten der Rockefellers, noch keine konkrete Anfrage. Und wir müssen Mr. und Mrs. McCurdy dazu bringen, Sie ohne Groll freizugeben."
Jules erzählte Edmond von seinem Eindruck, dass zwischen den Eheleuten keine Einigkeit darüber bestehe, ob Mr. McCurdy einen Kammerdiener haben sollte oder nicht.
"Da muss ich Ihnen wohl recht geben. Mrs. McCurdy ist eine starke Persönlichkeit, die gerne alles genau kontrolliert, was in ihrem Hause geschieht. Und ein valet ist immer eine Art Springer im Schach der Hausführung. Nicht einfach, das kann ich aus meiner Erfahrung als Butler sagen. Aber Sie scheinen damit gut zurecht gekommen zu sein bisher. Nun, jedenfalls wird es Mr. McCurdy schmeicheln, wenn sein Diener von Mr. Rockefeller Junior abgeworben wird, und ich habe noch ein zwei Männer an der Hand, die Sie ablösen könnten. Wann kommen Sie zurück?"
"Ende Januar, wäre das in Ordnung?"
"Ja das ist gut."
Edmond machte eine sehr ernste Miene.
"Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass Sie noch mit niemandem über diese Aussichten reden dürfen, auch nicht mit Ihren Familienangehörigen. Wenn Sie plaudern, sind Sie sofort aus dem Spiel. Ich denke, Sie sind nicht vertraut mit dem Grad der Diskretion, der von Ihnen verlangt werden wird, sobald Sie als Kammerdiener ernsthaft in Frage kommen, und erst recht ab dem Moment des Vertragsabschlusses, der mit grösster Wahrscheinlichkeit schriftlich und sehr detailliert behandelt werden wird. Sie bewegen sich dann in unmittelbarer Nähe einer höchst öffentlichen Person von enormer Bedeutung, was Ihnen eine entsprechende Verantwortung auferlegt. Können Sie mir da folgen?"
Jules bejahte es mit einem Kopfnicken. Er spürte seinen Magen, und Edmond sah seine Unsicherheit.
"Aber wir werden Sie sorgfältig darauf vorbereiten, seien Sie unbesorgt! Mit Ihrer Schwester Berthe werde ich noch sprechen wegen der Stelle bei den Geschwistern Bayne. Das könnte sehr interessant sein für sie, der ideale Ort, um als Hausangestellte zu beginnen. Die ältere Schwester ist ungefähr fünfundsechzig, sie hat das Sagen im Haus. Die jüngere und der Bruder sind um die Fünfzig, oder etwas darüber. Sehr nette, weltoffene Leute. Sie haben im Moment nur zwei Angestellte, eine Köchin aus Irland und einen Diener aus Japan."

Die Geschwister Chiquet beschlossen, ihre Heimreise auf Anfang Dezember zu planen, damit sie Weihnachten mit den Eltern zusammen in Cornol feiern könnten. Jules war froh von Fiona zu hören, dass auch sie über die Feiertage wieder einmal zu ihren Eltern und Brüdern nach Irland fahren wollte. Natürlich konnte er ihr gegenüber den Inhalt des Gesprächs mit Edmond nicht verheimlichen. Er spürte ihren Zwiespalt, wenn sie sich ihn als Kammerdiener bei Rockefeller Junior vorstellte, einem der ganz grossen Blutsauger, wie sie ihn nannte. Einerseits freute sie sich über seinen Erfolg, und war auch stolz auf ihn, andererseits las sie seit einiger Zeit alles über den Streik in Colorado. Sie sah Rockefeller verantwortlich für die immer wieder aufflammenden Gewaltausbrüche und die zunehmende, beidseitige Aufrüstung mit Waffen, die nichts Gutes verhiess für den Ausgang der Auseinandersetzungen. Und sie schwärmte geradezu für Mother Jones, die sechsundsiebzigjährige irische Aktionistin, welche sich auch durch falsche Anklagen und unrechtmässige Haftstrafen nicht unterkriegen liesse und nun auch in Ludlow die Frauen und Kinder der Streikenden unterstütze.
"Jetzt kommt dann der Winter, und die leben dort in Zelten, stell dir vor! Warum geht er nicht hin, dein Rockefeller? Warum kann er ihnen nicht das bisschen geben, was sie fordern? Ich versteh's nicht!"
Jules wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er hätte lieber weniger geredet und mehr Zärtlichkeiten ausgetauscht mit ihr, in der kurzen Zeit, die ihnen blieb.

Am sechzehnten November feierte die New Yorker Gemeinde der Cornoler gemeinsam das Fest des Heiligen Martin. Man hatte dafür den Saal des Gemeindehauses von St. Vincent de Paul reserviert, darin zwei lange Tischreihen eingerichtet und alles sorgfältig dekoriert. In vielen Haushalten war vorgekocht worden, damit die Speisen in der Küche nur aufgewärmt werden mussten. Auch traditionelle Backwaren und Desserts wurden in grossen Mengen antransportiert, dazu Wein und Schnaps. Jemand brachte sogar ein Fässchen damassine, das aus der Heimat per Schiff herbestellt worden war. Da man auch Begleitung mitbringen durfte, fragte Jules Fiona, ob sie Lust hätte, an dem Fest teilzunehmen. Es werde aber nur Patois gesprochen an dem Abend. Da sie neugierig war und zusagte, legte er ihr nahe, sie solle an dem Tag nichts essen, weil das Menu an St. Martin unglaublich reichhaltig und fett sei. "Bei uns werden da keine Gänse gegessen, aber viel Schweinefleisch und Würste. Isst du Blutwurst?"
"Ich weiss nicht, black pudding mag ich nicht so, aber ich glaube, die französischen sind ganz anders."
Zu Fionas Überraschung begann Jules zu singen:
Eh! vive lai Saint Maitchïn!
Maindgeans bïn di boudïn!
Eh! vive lai Saint Maitchïn!
Boyans di bon vïn!

Als er fertig war, klatschte sie in die Hände und umarmte ihn lachend.
"So eine fröhliche Melodie! Was bedeutet der Text?"
"Es ist eine Einladung zum Fest, von einfachen Leuten. Für einfache Leute, so wie wir halt sind: Es lebe der Heilige Martin! Lasst uns viele Würste essen und guten Wein trinken!"

Als sie abends den Saal betraten, herrschte schon munteres Treiben und ein beeindruckender Lärm. Die Leute standen zum Aperitif in Gruppen zusammen, eine kleine Musikkapelle spielte, Helferinnen der Kirchgemeinde eilten zwischen den Leuten hin und her und versorgten sie mit Weisswein und salzigem Gebäck. Jules stellte Fiona unzähligen Menschen vor. Er kannte fast alle und war froh, als Berthe auftauchte, Fiona am Ärmel von ihm wegzog und sich um sie zu kümmern schien. Nach einer Weile spielte die Musik einen Tusch und man wurde gebeten, sich zu setzen, weil der erste Gang serviert werde. Jules suchte Fiona und fand sie bei Berthe, die daran war, Plätze auszusuchen und zu besetzen, inmitten von Cornolern, die alle näher oder ferner mit ihnen verwandt waren. Rondez, Girard, Crétin. Man studierte schon die von Hand kolorierten Menukarten, überprüfte und kommentierte die Vollständigkeit des traditionellen Ablaufs der Speisen. Bouillon, Gelée de ménage, Blutwurst mit Apfelmus und Randensalat, Grillade mit Bratwurst und Atriaux, Schweinebraten mit Sauerkraut. Dann Damassine- sowie Kirsch- und Apfelschnaps. Und zum Dessert gebrannte Crème, Toetché und Chtriflates. Während sie die Suppe assen, wurde Fiona erklärt, was noch alles auf sie zukommen sollte.

Mit zunehmendem Genuss der Schnäpse wurde die Stimmung noch angeregter, das Stimmengewirr immer lauter. Man musste sich rufend unterhalten und die Mimik des Gegenübers gut im Auge behalten, um ihn zu verstehen. Jules wurde heiser, und ihm war schwindlig. Da stellte sich Fiona hinter ihn und legte ihre Hände auf seine Schultern. Als er zu ihr aufschaute, küsste sie ihn auf die Stirn und sagte:
"Komm, lass uns tanzen!"
Ein paar Stunden später fuhren sie mit der Untergrundbahn nach Norden. Jules brachte Fiona nach Hause zu Liam und Kuiwa. Sie waren beide müde und hatten zuviel gegessen und getrunken. Fiona legte ihren Kopf auf seine Schulter und ging die Erlebnisse des Abends durch, dabei mehr zu sich selber sprechend.
"Vieles ist bei euch ganz ähnlich wie bei uns, obwohl ich wirklich nichts verstehe, wenn ihr miteinander redet. Aber das ist umgekehrt auch so, du hast es ja schon erlebt, wenn wir unter uns sind, und nur gälisch reden und singen. Diese Lust an der eigenen Sprache, die einen einhüllt, und andere ausschliesst. Die Musik klingt ganz anders. Unbekümmert fröhlich, französisch irgendwie. Wie an einem Bauernfest."
"Wir sind Bauern", sagte Jules.
Sie hob den Kopf und schaute ihn an.
"Einmal Bauer, immer Bauer?"
Jules zuckte mit den Schultern und grinste.

Es war eine grosse Gruppe von Cornolern, die am fünften Dezember das Schiff nach Le Havre bestieg. Es gab solche darunter, die mehr Gepäck dabei hatten als sonst, weil sie das Abenteuer der Auswanderung beenden und endgültig ins Dorf zurückkehren wollten. Berthe mochte deren Geschichten nicht hören, sie war traurig und betrachtete ihre Rückkehr wie eine Niederlage. Zum Glück blieb das Wetter die ganze Fahrt über ruhig, sodass nicht noch die Seekrankheit zu ihrem Elend dazu kam. Jules konnte ein paar längere Gespräche mit seiner Schwester Marie führen, die ihm hauptsächlich von ihren Erlebnissen im Home Jeanne d' Arc und in der Kirchgemeinde erzählte. Die Arbeit im Nähatelier schien sie als unvermeidlichen Teil ihrer Pflichten anzusehen, über den es nichts zu berichten gab. In der kirchlichen Umgebung aber hatte sie ihren Platz gefunden, und der Name eines Mitarbeiters fiel mehrmals, sodass Jules den Eindruck hatte, sie entwickle zarte Bande zu einem Mann. Er selber war froh, die ruhigen Tage der Fahrt dazu nutzen zu können, über alles nachzudenken, was in der letzten Zeit passiert war, und was vielleicht auf ihn zukommen könnte. Die Aussicht, bei Rockefeller Junior arbeiten zu können, löste wiedersprüchliche Gefühle in ihm aus. Einerseits war er aufgeregt und freute sich auf eine neue Herausforderung. Auf der andern Seite war ihm klar, dass er dabei kläglich versagen könnte. Und er konnte das Erlebnis damals im Büro noch immer nicht einordnen. Wenn er jetzt, aus der Distanz, darüber nachdachte, konnte er gar nicht verstehen, weshalb diese Begegnung eine solche Bedeutung bekommen hatte. Und doch verfolgte ihn das Bild, wie sie einander gegenüber gestanden, wie Mr. Rockefeller ihn angeschaut und dabei wortlos genickt hatte.

Nach so langer Zeit wieder einmal die weihnächtliche Mitternachtsmesse in Cornol zu erleben, im Kreise der vollständig versammelten Familie, war eine berührende Erfahrung für alle. Es war eng gewesen am Heiligen Abend in der guten Stube. Man hatte den Tisch ausgezogen, und das von den jüngsten Schwestern, Berthe und Clara, geschmückte Bäumchen brauchte auch seinen Platz. Man sang alle Weihnachtslieder, die man kannte. Maman wusste alle Strophen auswendig, aber ihre Stimme war dünner geworden. Papa war gerührt und weinte ein bisschen. Alle steckten in ihren besten Kleidern, die Américains mit modischen Anteilen aus Übersee, der älteste Bruder in seiner Galauniform. Nach dem Essen legte man sich kurz hin, dann gab es eine Tasse Tee, und man machte sich auf den kurzen Weg hinüber zur Kirche. Die Leute vom Dorf strömten aus allen Richtungen herbei, leise miteinander sprechend und dabei Wolken ausatmend, die im Schein der Strassenlaternen hell aufleuchteten. Die Kirche war nur von Kerzen erleuchtet, die Krippe liebevoll hergerichtet mit viel Tannengrün. Auch hier sang man Lieder, wobei der Organist versuchte, die Gläubigen durch leichtes Vorauseilen zum Halten des Tempos zu bewegen. Es tönte wie immer, etwas dünn und falsch, aber vertraut. In seiner Predigt sprach der Pfarrer von der Notwendigkeit, Frieden zu bewahren, und alle wussten, damit war nicht nur ihr Dorf gemeint.

Papa war meist guter Dinge. Aber er war schwächer geworden, und seine Hustenanfälle waren manchmal begleitet von blutigem Auswurf. Maman war vom Arzt zu grösstmöglicher Sorgfalt bei der Hygiene im Umgang mit dem Patienten angewiesen worden, und man konnte sich denken, was das bedeutete. Ins Berner Oberland in die Kur zu gehen, kam für Papa nicht infrage. Er hatte schon einige Schübe seiner Krankheit erlebt und war zuversichtlich, dass er auch diesmal wieder gesund würde. Aber es war offenkundig, dass er den kleinen Hof nicht mehr lange alleine würde führen können. Jules nahm sich vor, seinen kommenden Aufenthalt in Amerika bewusst zu geniessen. Und in der kurzen Zeit zu Hause packte er an wie noch nie. Er mistete den Stall gründlich aus und kalkte ihn überall bis in Schulterhöhe. Er fegte die Spinnweben herunter und befreite die Balken von Staub und Sand. Er ersetzte alle gebrochenen Sprossen der Futtergitter, legte neue Bodenbretter, wo die alten durchgefault waren. Und er hackte Holz für zwei Winter. Seine Hände sahen bald nicht mehr aus wie die eines Kammerdieners, aber das war ihm gerade recht.

Dass seine Rückfahrt, diesmal mit der Chicago, fast zwei Wochen dauern würde, konnte er nicht wissen. Marie wollte noch in Cornol bleiben für eine Weile, und auch Berthe hatte sich dazu überreden lassen, abzuwarten, bis es Papa besser ginge. Vielleicht könnten sie dann in einem halben Jahr reisen und dabei Clara mitnehmen, die auch ihr Glück jenseits des Atlantik versuchen wollte. Jules aber machte sich wieder auf den Weg durch Frankreich, bestieg dann in Le Havre das Schiff. Es war schlechtes Wetter angesagt, mehrere Winterstürme waren im Anmarsch, auf ihrem Weg von West nach Ost. Wenn Jules später über diese Fahrt nachdachte, kam sie ihm vor wie ein dunkler, nicht enden wollender Tunnel. Er verlor mehrere Kilos, weil er tagelang nichts essen konnte und das wenige, das er heruntergebracht hatte, gleich wieder erbrach. Der Gestank, der sich überall in den Kajüten, Gängen, Toiletten ausbreitete, ja sogar die Luft in den Speisesäälen und auf Deck verpestete, war unerträglich. Mit der Zeit wurde er aber so allgegenwärtig, dass sein Gehirn es aufgab ihn wahrzunehmen. Die Bewegungen der Chicago vorauszusehen und sich eingermassen aufrecht und geradeaus vorwärts zu bewegen, war unmöglich. Man wurde umhergeschleudert und hatte bald überall blaue Flecken. Alles bewegliche Mobiliar wurde vom Personal entweder entfernt oder angeschraubt. Schwere Gepäckstücke mussten von den oberen Ablagen heruntergenommen oder angezurrt werden. Getrunken wurde alles, auch Kaffee und Tee, nur noch direkt aus der Flasche. Für die Teller gab es zwar Haltevorrichtungen, aber die Speisen rutschten zuweilen einfach auf den Tisch, und von dort auf den Boden. Manchmal krachte das Schiff mit solcher Wucht auf die Brecher, dass es wie von einer Explosion erschüttert wurde. Es folgten ächzende, knackende und polternde Geräusche, die einen das Auseinanderbrechen des Rumpfs befürchten liessen. Es wurde viel gebetet und geweint auf der Fahrt, und selbst die Mitglieder der Crew machten zuweilen besorgte Gesichter. Nach zwölf Tagen war der Spuk vorbei, das Meer beruhigte sich und wurde schliesslich, wie zum Hohn, spiegelglatt. Das Personal wollte bis zur Ankunft alle Spuren der Seekrankheit entfernt haben, und so roch bald jeder Winkel nach Alkohol und Chlor. Jules duschte ausgiebig, und langsam kamen sein Appetit und seine Fähigkeit, normal zu denken, wieder zurück. Am vierzehnten Februar 1914 betrat er wieder den Boden von Manhattan.

1 Kommentar:

  1. Gute Güte - das ist eine Riesengeschichte! Deine Ahnen hüben und drüben vom Atlantik hören nicht auf, sich zu wundern und miteinander zu diskutieren. Ganz sicher werden sie deine wundergute Phantasie und deine Ausdauer loben und anerkennen. Werden wir den Roman in einem Unik-Buch zu lesen bekommen?

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