Montag, 27. September 2021

Im Jazz Age

Sie erinnerte sich nicht oft an Träume, aber dieser verfolgte sie eine Weile.
Sie liest Kartoffeln auf mit ein paar anderen Mädchen aus dem Dorf. Ihr Rücken schmerzt, also richtet sie sich auf, fasst sich ins Kreuz und blickt in den Himmel. Es ziehen Wolken auf, sie müssen sich beeilen. Als sie ihren Blick wieder nach unten richtet, sieht sie am Horizont, winzig klein auf einer ansteigenden Hügelflanke, eine Prozession. Ein paar Priester und Ministranten in ihren weissen Spitzenhemden, darüber schwankende Banner und Kreuze. Ihnen folgen lauter dunkel gekleidete Menschlein. Von ganz weit her hört sie ihren dünnen Gesang. Als der Umzug auf der Hügelkuppe angekommen ist, sieht sie ihn auf einmal von ganz nahe. Viele tragen Masken, wie an der Fasnacht oder an einem Ball. Eine Musikkapelle ist aufgetaucht. Sie spielt Katzenmusik, die sich findet in einer schnellen Jazzmelodie. Die Frauen und Mädchen im Umzug beginnen wild zu tanzen, alle tragen knielange, glitzernde Röcke und Kurzhaarfrisuren, die Männer stellen sich im Kreis um sie auf. Statt der Masken tragen sie nun hohe, spitze weisse Hüte. Der Kreis schliesst sich immer enger um die Tanzenden, bis man sie nicht mehr sieht. Sie bekommt Angst und möchte sehen, was passiert. Drängt sich zwischen den weissen Hutträgern hindurch in die Mitte. Dort steht ein schwarzes Kälblein – und sie erwacht mit heftigem Herzklopfen.
Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie begriff, wo sie war. Draussen begann es zu dämmern. Nach dem Brummen des Verkehrs auf der breiten Avenue schätzte sie die Zeit auf halb sieben Uhr, da läutete ihr Wecker.
Elsie war eine Grosse jetzt. Da der Weg zur Lennox-Mädchenschule viel kürzer war als der frühere zum Kindergarten, und sie zudem meist abgeholt wurde von einer Kameradin, konnte sie jetzt gut alleine gehen. Julia weckte sie, überwachte das Anziehen und kontrollierte mit ihr zusammen nochmals den Schulranzen. Das Frühstück wurde ihr von Mathilde oder von der Köchin, Mary Sullivan, zubereitet, wobei das Mädchen meist kaum etwas hinunterbrachte. Also wurden ihr noch Pausenbrote gestrichen und mitgegeben, auch wenn unsicher war, was mit diesen jeweils geschah. Das Mittagessen bekam sie in der Schule, und das sei ganz ordentlich, wie sie sagte. An Nachmittag holte sie Julia oft noch ab, weil die Mutter und auch sie der Meinung waren, Elsie sei dann sehr müde und vielleicht nicht aufmerksam genug, um die grosse Kreuzung sicher zu überqueren. Wenn sie auf dem Heimweg von anderen Mädchen begleitet wurde, hielt sich Julia im Hintergrund und ging ein paar Schritte hinter der Gruppe.
Elsie hatte mit Klavierunterricht begonnen, bei einer Lehrerin, die einmal pro Woche ins Haus kam. Beim Üben konnten ihr weder Julia noch die Mutter helfen. Solche Unterstützung wurde nur gerade vom Vater akzeptiert, aber der hatte nur selten Zeit dafür. Elsie war ungeduldig beim Lernen, und die Liedchen und Etüden der Lehrerin fand sie blöd. Lieber wollte sie schon die schwierigen klassischen Sachen probieren, die ihr Daddy spielte, oder noch lieber, die Jazzmelodien. Er war begeistert von ihrem Interesse und suchte geduldig nach Stücken oder wenigstens kleinen Passagen, die er mit ihr zusammen spielen konnte, mit zwei, drei oder vier Händen. Eines davon blieb allen im Haushalt noch lange in Erinnerung, weil die beiden es an Sonntagnachmittagen immer und immer wieder probierten, solange, bis sie es einigermassen flüssig spielen und sogar Besuchern vorführen konnten. Mr. Bailey hatte Elsies Part stark vereinfacht und auf ein Notenblatt aufgeschrieben, mit der schön verschnörkelten Überschrift I Ain't got Nobody – by Spencer Williams. Das war für sie zu meistern, wenn auch ein wenig hölzern. Je sicherer sie wurde, desto mehr konnte ihr Vater die typischen Verzierungen und Verzögerungen des Jazz einbauen und am Schluss sogar dazu singen, ohne dass er Elsie damit drausbrachte. Man war allgemein sehr beeindruckt von dem Duo.
Jazzmusik war oft zu hören im Hause Bailey, für den Geschmack der Dienstherrin etwas zu oft und vor allem zu laut. Eine neue Errungenschaft war der von Mr. Bailey angeschaffte Radioapparat. Begründet hatte er seinen Kauf damit, dass er so die Übertragung von Sportereignissen, Nachrichten und politischen Ansprachen anhören könne. Bald aber entdeckten auch andere im Haushalt den Unterhaltungswert des Geräts. Mary McD hielt sich nicht an das Gebot, dass die Angestellten weder Grammophon noch Radioapparat ohne die Gegenwart und ausdrückliche Erlaubnis der Herrschaften bedienen durften. Ihre Lieblingssendung wurde die Fortsetzungsgeschichte über drei Freunde namens Amos, Andy und Kingfish. Julia hörte nur einmal mit. Die Männer sprachen mit stark näselndem Mittelwest-Akzent, die Geschichte war wirr und bestand eigentlich nur aus einer Aneinanderreihung von Sprüchen und Witzen, von denen sie die Hälfte nicht verstand.
Elsie durfte nur Radio hören, wenn ihr Daddy dabei war. Sie interessierten sich beide für die Musik schwarzer Musiker und Sängerinnen, die sie sich, andächtig nebeneinander auf dem Sofa sitzend, anhörten. Julia vernahm einmal, als sie gerade mit einem Stapel frisch gewaschener Wäsche unterwegs war zu Elsies Zimmer, aus dem Salon die langsamen, melancholischen Klänge eines Liedes. Sie blieb vor der Türe stehen und lauschte. Eine seltsam von Pausen durchlöcherte Melodie auf dem Klavier, oft nur zwei Akkorde, dann wieder eine Pause, in der die Frau alleine weitersang, sich vom Rhythmus fast widerwillig mitziehen liess. Sie verstand nur eine paar Worte des Refrains: ...if I do, dooo, dooo, if I do. Sie fand es schmerzhaft schön.
Später begriff sie, dass solche Musiksendungen auch dazu da waren, für den Kauf der abgespielten Musikstücke auf Schallplatten zu werben, denn bald hörte sie den Song öfters, weil Mr. Bailey ihn in seiner Sammlung stehen hatte. Er war festgehalten auf einer dieser zerbrechlichen schwarzen Scheiben mit runder, blauer Ettikette in der Mitte. Ein zweites Stück, auch einen Blues, wie er es nannte, hatte er gleich dazugekauft, weil er so begeistert war von der Sängerin Bessie Smith und ihrem Pianisten Clarence Williams, von dem er auch alle Noten anschaffte, die er auftreiben konnte.
Man hörte ihn oft reden vom erstaunlichen und erfreulichen Erfolg schwarzer Musiker, Sängerinnen und Tänzerinnen in jüngster Zeit, und es war ihm dabei anzusehen, dass er sich darüber freute. Er war aber der Meinung, dass man solchen Zuspruch nicht gleichsetzen könne mit einer allgemeinen Verbesserung der gesellschaftlichen Lage der Schwarzen im Lande, oder ihn schon gar nicht als ein Anzeichen beginnender Gleichstellung ansehen dürfe. Er machte sich grosse Sorgen über den wachsenden Einfluss des Ku Klux Klans überall im Land, vor allem aber in seiner Heimatstadt Denver, wo ein Klansman gerade daran war, seinen Vater aus dem Bürgermeisteramt zu drängen.
"Die scheuen sich nicht mehr davor, ihre Kreuze mitten in der Stadt anzuzünden, am liebsten vor den Portalen katholischer Kirchen. An ihren Umzügen machen hunderte mit, in diesen weissen Anzügen mit Kapuzen, die so überaus lächerlich wären, würden sie nicht alle in Angst und Schrecken versetzen, gegen die der Klan Hass und Gewalt schürt: unsere schwarzen Mitbürger, die irischen und alle sonstigen Katholiken. Die Indianer sowieso."
"Und Alkoholtrinker wie du und dein Vater!", warf Mrs. Lemen mit bitterem Spott ein. Sie war vor dem Klan in Denver zu ihnen nach New York geflohen, auf unbestimmte Zeit, wie sie sagte. Sie habe einsehen müssen, dass der Erfolg der Hassprediger wohl nicht von kurzer Dauer sei. Am Schlimmsten hatte sie getroffen, wie nun immer mehr Frauen den Klan unterstützten, ja sogar schon eigene Abteilungen gründeten, mit Kapuzenuniform.
"Was dieser Griffith während dem Krieg angerichtet hat mit seinem Film, ist einfach unerträglich. Birth of a Nation, pah! Birth of a Nightmare hätte er heissen müssen! Und angeführt wird der ganze Zirkus von diesem schmierigen Zahnarzt aus Dallas, den sie den "Grossen Zauberer" nennen. Es ist zum Verrücktwerden!"
Mrs. Bailey machte ihrer Mutter Zeichen, sie solle sich zurückhalten, denn mittlerweile war Elsie dazugestossen und spitzte ihre Ohren. Julia hatte miterlebt, wie das Mädchen auf Zeitungsbilder von Umzügen und Versammlungen des Klans mit einer Mischung aus Faszination und Angst reagierte. Es war ihr schwer gefallen, Erklärungen zu finden, welche die Fragen eines Kindes hätten beantworten können, wo sie es doch selber auch nicht verstand und nur wirres Zeug dazu träumen konnte.
Der längerfristige Zuzug von Mrs. Lemen machte verschiedene Umstellungen in den zwei Stockwerken der Wohnung nötig. Sie bekam im oberen zwei grosse Zimmer, die schon möbliert waren, dazu ein Bad. Da man aber aus ihrem Haus in Denver ein paar ihrer Lieblingsmöbel kommen liess – ihr Bett, einen grossen Lehnstuhl, eine Kommode und einen Kasten – , musste für die verdrängten Stücke Platz gefunden werden. Mrs. Bailey nahm diesen Umstand zur Gelegenheit, fast alles im Haus umzustellen, trotz tiefer Seufzer und Augenverdrehens ihres Mannes. Sie gab einige Möbelstücke an wohltätige Vereine weiter und kaufte Neues, Moderneres. Am meisten Kummer bereitete ihr die Schwierigkeit, pro Raum eine ästhetisch ansprechende, in sich stimmige Ordnung herzustellen, so ihre Worte. Julia konnte nur staunen, wie viel Planung, wochenlanges Überlegen, Beratungen mit Fachleuten, und schliesslich welche Geldmengen in einen Bereich des Lebens gesteckt wurde, der hier "wohnen" genannt wurde, oder auch "residieren". Sie hätte gerne mit Mathilde eine Beurteilung der Erneuerungen ausgetauscht, aber diese wollte sich nicht festlegen.
"Wenn es ihnen gefällt...", war ihre Antwort.
Am meisten beeindruckte Julia das neu eingerichtete Schlafzimmer. Wenn man in den hohen Raum eintrat, kam man sich ein wenig vor wie in einer Kirche, denn gegenüber der zweiflügligen Türe war das Ehebett vor einer golden glänzenden Wandinstallation aufgebaut wie ein Altar. Eine hochstehende, mit grossen Quadraten aus Blattgold belegte Tafel, mit einem feinen schwarzen Rahmen und einer schmalen, torartigen schwarzen Fläche in der Mitte, bildete die Mittelachse. Weitere Tafeln in abnehmender Höhe und Breite fügten sich links und rechts daran. Das ganze erinnerte Julia an die Silhouette von Manhattan, was vielleicht beabsichtigt war. Das Bett darunter und davor war riesig, und so lang wie breit, so dass man nur dank der Anordnung von Decken und Kissen wissen konnte, wie man sich hineinzulegen hatte. Julia wollte sich nicht zu sehr mit der Vorstellung beschäftigen, wie die Herrschaften damit umgingen. Das Bett herzurichten war eine Arbeit, die nur zu zweit zufriedenstellend bewältigt werden konnte. Ausserdem gab es in dem Raum einen Schminktisch mit einem grossen runden Spiegel, den man drehen und schwenken konnte. Daneben waren unzählige Flakons und Tiegel aufgestellt, die mit ihren grotesken Formen, Farben und Materialien um Aufmerksamkeit stritten. Zwei hohe, zierliche Nachttischchen aus dunkel gebeiztem Holz, darauf je eine elektrische, sehr modern aussehende Lampe aus Messing, standen links und rechts neben dem Bett. Schwieriger war es, die zwei Sessel mit den runden Lehnen und den mit farbigen Rhomben verzierten Seidenbezügen so hinzustelllen, dass es der Vorstellung der Dienstherrin entsprach. Sie mussten irgendwie schräg, aber eben richtig stehen, nachdem man sie für die Reinigung mit dem vacuum cleaner verschoben hatte. Mrs. Bailey hatte gleich zwei dieser als Servant to the Home angepriesenen Heuler anschaffen lassen, erstens, weil die Apparate doch ziemlich schwer waren und sie deshalb auf jedem Stock einen haben wollte. Zweitens war sie durch Hinweise in den Broschüren des Herstellers, welche die Gesundheit von Kindern auf staubigen Kinderzimmerteppichen betraf, dazu bewogen worden, bei der Reinigung ihrer Böden keine Kosten zu scheuen. Julia kam mit der Maschine bald gut zurecht. Sie gab eine Mischung aus Tönen von sich, zu der man ungeniert singen konnte, das hatte sie von Mary McD abgeschaut. Allerdings durfte die Aufmerksamkeit nie nachlassen beim Staubsaugen. Im Kinderzimmer, aber auch rund um den Schminktisch der Lady konnten sich kleine Dinge auf dem Boden befinden, die kostbar waren und keinesfalls eingesogen werden durften. Wenn es im Rohr klingelte, war es schon zu spät und der ganze Inhalt des Sacks musste in der Besenkammer auf ausgebreiteten Zeitungen durchsucht werden. Ebenso war Vorsicht geboten in der Nähe der bis auf den Boden reichenden Vorhänge, damit der Stoff nicht in den Schlund des Hoover geriet. Strikte verboten war es, den Saugrüssel aus Bequemlichkeit zum Abstauben von Kaminsimsen, Zeitungstischchen und Ablagen auf Kommoden zu benutzen. Zu gross war dann die Gefahr, dass Stifte eingesogen, Brillengestelle verbogen oder Bücherumschläge zerrissen wurden. Letzteres war zu Mr. Baileys grossem Ärger passiert mit einem Buch, dessen Umschlag durch Julias Unerfahrenheit und Unkenntnis gleich nach der Anschaffung des Vakuumreinigers beschädigt wurde. Zum Glück war es unter der Aufsicht von Mrs. Bailey geschehen, welche die Kraft des Luftstroms ebenso unterschätzt hatte wie sie. Das Buch mit dem Titel Tales of the Jazz Age lag noch einige Zeit danach auf den Beistelltischchen herum. Der Riss war trotz der liebevollen Flickarbeit des Dienstherrn noch immer gut zu sehen, was auf Julia wie ein Vorwurf wirkte, denn auch Elsie war traurig gewesen über das Unglück, weil sie die Zeichnungen mit den tanzenden und musizierenden Figuren auf dem Umschlag so liebte. Sie hatte, als ihr Vater das Buch gekauft hatte, gleich bemerkt, dass da ein Zusammenhang bestehen müsse zu dem Titelblatt der Moderzeitschrift ihrer Mutter, das sie in ihrem Zimmer an die Wand geheftet hatte und zu dessen Figuren sie mit Julia zusammen wilde Geschichten erfand. Nun wusste sie auch, wie der Zeichner hiess und entdeckte es immer als erste, wenn in einer Zeitung ein cartoon von ihm zu finden war.

Im Frühsommer kündigten die Baileys an, sie wollten für eine Woche nach Denver fahren. Mr. Baileys Vater war wie befürchtet als Bürgermeister abgewählt worden. Zwar überspielte er die Niederlage in der für ihn typischen Weise, und sein Sohn war während der vergangenen vier Jahre meist überhaupt nicht einverstanden gewesen mit seiner Politik, aber nun schien es dem Junior doch ein Anliegen zu sein, nach seinem Erzeuger zu schauen und ihn bei seinen Überlegungen zu einem Neuanfang zu unterstützen. Mrs. Bailey und Mrs. Lemen wollten mitfahren um abzuklären, ob sie das Haus an der Race Street vielleicht vermieten könnten.
Es war Mary McD, welche den Vorschlag machte, in jener Woche die Geburtstage von Julia und Mathilde nachzufeiern. Julia war im März des letzten Jahres dreissig Jahre alt geworden, Mathilde dieses Jahr im gleichen Monat, und beide hatten gemäss der Gewohnheit in ihrer Familie, aber zum grossen Erstaunen ihrer Kollegin, kaum Notiz genommen von dem Ereignis. Immerhin hatte Julia ihrer Schwester zum Dreissigsten einen Kuchen gebacken, was diese sehr gefreut und auch ein bisschen gerührt hatte. Nun aber drängte Mary die beiden Schwestern, es einmal richtig krachen zu lassen, und zwar so, wie man es hier und heute eben mache: mit einer Party in einem Club, wo man tanzen und auch Alkohol trinken könne. Sie kenne einen in Harlem, der vor zwei Jahren erst von einer Kreolin namens Gabrielle Ellois eröffnet worden sei. Dort gebe es richtigen Schnaps und gutes Bier, weder gepanschtes Zeug noch giftigen Fusel. Die Musiker seien immer schwarz, meist noch unbekannte Künstler, die sich die Patronne leisten könne und die ein tanzendes Publikum nicht nur tolerierten, sondern es sogar kräftig anheizten. Darunter seien aber richtig gute Talente, die auch schon von grösseren Clubs abgeworben worden seien. Und wie es denn stehe mit der Polizei, wollte Mathilde wissen. Sie habe keine Lust, in eine Razzia zu geraten und auf der Wache zu übernachten, oder gar die Stelle aufs Spiel zu setzen wegen einer Geburtstagsparty. Mary McD meinte, sie habe dort schon mehrmals gefeiert. Es werde nicht übermässig viel getrunken, das Publikum sei schwarz und weiss gemischt, was allein schon ein Grund sei für besondere Vorsicht. Die Razzien würden mit grosser Zuverlässigkeit vorher angekündigt dank Madame Gabrielles guten Beziehungen zur Polizei, und für private Feste könne man das Lokal auch mieten bis elf Uhr abends, danach sei es wieder für alle Gäste geöffnet. Das sei aber kein Nachteil, den dann werde es meistens erst richtig lustig.
Mathilde wollte sich nicht auf Mary McD's Einschätzung verlassen und schlug Julia deshalb vor, sie könnten noch Margaret fragen, die scharze Freundin der O'Fallans, die ja in Harlem wohnte und einen Club mit dem Namen Gabrielle's Rear Room vielleicht kannte.
Es war etwas kompliziert, bis sie mit Margaret telefonieren konnten, weil sie sich weder ihren Nachnamen noch die Adresse gemerkt hatten. Von Caoimhe bekamen sie aber die Nummer, und es stellte sich heraus, dass auch die O'Fallans bereits einmal in dem Lokal gewesen waren.
"Ich könnte mir das auch vorstellen, dort meinen Geburtstag zu feiern. Es ist sauber, hat gerade die richtige Grösse für etwa vierzig bis fünfzig Gäste. Wobei man sagen muss, dass sich nach elf dann wohl doppelt so viele hineinquetschten, aber die Musik und die Stimmung waren grossartig. Und die Chefin spielt auch selber sehr gut Piano. Sie ist sehr speziell, ihr werdet sehen. Aber fragt auf jeden Fall noch Margaret. Sie sollte die Bedingungen und den Preis kennen, wenn man das Lokal für ein paar Stunden für sich haben will."
Und lachend fügte sie hinzu:
"Und natürlich kommen wir gerne auch, wenn ihr uns einladet!"

Die Schwestern schluckte etwas, als sie den Mietpreis erfuhren, aber Margaret konnte sie davon überzeugen, dass er in einem vernünftigen Verhältnis stehe zu dem, was man in dem Lokal bekomme. Eine erste Runde Getränke und Geknabber, saubere Gläser, saubere Tische, Böden und Toiletten. Eine bewachte Garderobe. Und sogar die Musiker seien eigentlich schon bezahlt, wobei sie sich natürlich über eine zusätzliche freiwillige Hutsammlung freuten. Richtig essen könne man in dem Lokal aber nicht, da gebe es nur Gebäck, Oliven, eingelegte Gurken, manchmal Erdnüsse oder Pistazien, was eben zu den Drinks und zum Bier passe. Sie schlug darum vor in einem kleinen, nahe gelegenen italienischen Restaurant am späten Nachmittag einen Raum zu reservieren, dort zu essen und dann auf den Abend in den Club zu wechseln. Und so wurde es dann gemacht.
Julia staunte, wie sehr sie die Vorbereitungen des Festes in Anspruch nahmen. Mathilde fand es ratsam, den Herrschaften von dem Plan zu erzählen, denn es war offensichtlich, dass sie sich mit etwas beschäftigten, was nicht mit ihrer Aufgabe zu tun hatte. Vor allem Mary McD, die ja eigentlich die Idee zu der Feier gehabt hatte und deshalb bei allem dabei sein musste, war schon lange vor dem Eeignis völlig aus dem Häuschen. Aber Mrs. Bailey fand es richtig, dass man seinen dreissigsten Geburtstag mit einem richtigen Fest begehe. Sie mahnte dennoch zu Vorsicht und Zurückhaltung, vor allem, was den Alkohol betreffe. Mr. Bailey hatte noch nie von dem Club gehört und versuchte herauszufinden, welche Musiker dort spielten oder gespielt hatten. Als ihm dies nicht gelang, bat er Julia und Mathilde, ihm dann ausführlich zu berichten.
Die Herrschaften, Mrs. Lemen und Elsie waren bereits in Denver, als der grosse Tag gekommen war. Mary McD hatte von ihren Freundinnen einen ganzen Koffer voll mit Kleidern, Schuhen, Hüten, Schmuck und Schminksachen erbettelt, die nun im Salon auf Stuhllehnen, Tischen und am Boden ausgebreitet lagen, bereit zum Anprobieren. Sie ging als Beispiel voran, um die eher zurückhaltenden Schweizer Frauen anzuregen und zu ermutigen, sich dem Anlass angemessen in Szene zu setzen. Was sie selber betraf, war sie wild entschlossen, ihre Kostümierung risque zu gestalten, worunter sie zum Beispiel verstand, viel von ihren Beinen zu zeigen. Die Röcke, die sie einen nach dem andern an- und wieder auszog, waren alle ziemlich kurz, wenigstens einseitig, und zeigten bei der leisesten Bewegung ihre Knie. Die Strümpfe waren weiss oder schwarz. Sie rollte sie herunter, bis sie unterhalb des Knies einen runden Wulst bildeten, als Blickfänger, wie sie sagte, oder sie versah sie mit einem Strumpfband, über dem sie gleich noch ein zweites anbrachte, kein Mensch wusste, warum. Statt einen der Topfhüte aufzusetzen band sie sich ein Kopftuch um, schräg verwegen wie eine Piratin. Dies wollte sie auch an Mathilde ausprobieren, aber obwohl Julia fand, es stehe ihr sehr gut, fand es ihre Schwester kindisch und nahm sich statt dessen einen kleinen, runden Hut, dessen Krempe vorne senkrecht nach oben gefaltet und mit einer Pfauenfeder verziert war. Die Röcke wollten beide nicht zu riskiert kurz haben, aber auch bei ihnen wurden die Knie sichtbar, wenn sie ein paar Tanzschritte ausprobierten.
"Wenn das Maman sähe!", rutschte es Julia heraus, was Mathilde dazu bewog, einen noch kürzeren Rock anzuziehen, den sie vorher auf die Seite gelegt hatte. Schliesslich zeigte ihnen Mary McD, wie man sich flappy schminkt. Die Schwestern hatten so etwas ein- oder zweimal in Cornol gemacht als sie dreizehn und vierzehn waren, bei einer befreundeten Wirtstochter, welche sich hinter die Sachen der Serviererinnen gemacht hatte. Sie bemalten sich und kicherten dazu wie damals.
Es war eine gute Idee gewesen, vor dem Besuch des Tanzlokals beim Italiener zu essen. An diesem Teil des Festes nahm auch ihre ältere Schwester Joséphine teil, die unter keinen Umständen zum Tanzen in ein Etablissement mitkommen wollte, in welchem in gesetzeswidriger Weise Alkohol ausgeschenkt wurde. Wein hätte man auch zum Nachtessen bestellen können, aber Julia und Mathilde verzichteten darauf, damit auch andere Gäste, die vielleicht Joséphines Abneigung gegenüber einer Übertretung teilten, sich nicht ausgeschlossen fühlten und mit ihnen feiern konnten. Und es wurde auch so ein sehr fröhliches frühes Nachtessen, mit vielen Bekannten, Freunden und Verwandten aus dem Jura, welche die Mehrheit der Gäste bildeten und auch die Sprache bestimmten. Mary McD versammelte kurz entschlossen die "echten New Yorker" am unteren Teil des langen Tisches, so dass alle auf ihre Rechnung kamen. Die Nachmittagssonne schien schräg durch die Glasfront des Restaurant-Anbaus, als die Pasta serviert wurde. Der Wirt hatte seine drei jugendlichen Kinder als Hilfen engagiert, so dass die dampfenden Teller fast gleichzeitig vor alle Gäste hingestellt wurden. Für eine kurze Zeit wurde es still am Tisch und der Raum füllte sich mit den Düften von gekochten frischen Tomaten, Basilikum, Knoblauch und Parmesankäse. Für Julia hätten die Nudeln etwas weicher gekocht sein dürfen, aber sie kannte inzwischen die Gewohnheit der Italiener, und der Geschmack der Sauce war traumhaft. Sie schenkte sich und ihren Tischnachbarn Wasser ein aus einer bauchigen Flasche und liess den Blick umherschweifen. Wer würde wohl alles zum Tanzen mitkommen nach dem Essen? Schräg gegenüber neben Mathilde sass Nora Roche, mit der sie damals die Party auf dem Dach gefeiert hatten. Die würde sicher mitkommen. Sie war mindestens so verwegen aufgemacht wie Mary McD. Auf ihrem Bubikopf tronte eine Art Turban, und der Ausschnitt war so tief und sass so locker, dass Julia ihre Brüste sehen konnte, wenn sie sich vorbeugte. Schnell kontrollierte sie mit einem Blick nach unten, ob das bei ihr nicht auch der Fall war. Auf der andern Seite ihrer Schwester sass der japanische Koch, mit der diese bei den Geschwister Bayne zusammen gearbeitet hatte. Er trug einen fein gestreiften Sommeranzug und plauderte angeregt mit Geneviève Girard, eine der Freundinnen Joséphines aus Cornol. Bei diesen zwei war Julia nicht sicher, ob sie sich auf das Abenteuer im Jazzclub einlassen würden, anders als bei ihrer älteren Schwester, die sich demonstrativ dunkel gekleidet hatte und sich mit einer der Cousinen aus der Crétin-Familie unterhielt, die zu ihrer Rechten sass. Man würde ja bald sehen, wer sonst noch von diesem oberen Teil des Tischs mitkommen würde. Am unteren Ende ging es schon wieder sehr laut zu. Dort sassen Mary McD, sowie die O'Fallans und Margaret, welche einige Freunde mitgebracht hatten, die Julia nicht kannte. Vier davon waren so schwarz, dass sie im Gegenlicht der Abendsonne nicht einmal erkennen konnte, wer Mann und wer Frau war. Aber diese Gäste würde sie ja bald in Aktion erleben, denn Margaret hatte angekündigt, sie werde ein paar sehr talentierte Tänzerinnen und Tänzer einladen, die Schwung in die Bude bringen sollten. Sie merkte, wie sich die Vorfreude und eine leise Aufregung in ihrem Bauch bemerkbar machte, und nahm sich vor, nicht zu viel zu essen bei der zweiten Runde, zu der Braten angekündigt war.

Wie gut diese Entscheidung gewesen war, sich den Bauch nicht zu sehr zu füllen, merkte sie später am Abend, als sie sich im Gabrielle's Rear Room auf einen der Stühle der seitlich stehenden Clubtische fallen liess. Die Waden brannten, sie atmete schwer und ihr Blick war vernebelt von mehreren Drinks mit exotischen Namen, die der schwarze Barkeeper für sie gemischt und geschüttelt hatte. Sobald sie sass, wurde ihr schlecht und sie musste sich am Tisch hochziehen, um an der Tanzfläche und dem Podium der Musiker vorbei die Toilette zu erreichen. Bei den ersten Schritten schwankte sie deutlich, dann riss sie sich zusammen und erreichte die Türe im Hintergrund des Lokals ohne Zwischenfall. Mary McD stand vor dem Spiegel und schminkte sich neu. Als Julia neben sie trat, lachte sie laut auf und sagte:
"Wie siehst denn du aus, du bist ja ganz bleich um die Nasenspitze!? Und der Lippenstift ist verschmiert. Komm, ich zieh dir nach!"
Aber Julia wollte sich zuerst einmal das Gesicht mit kaltem Wasser waschen. Als sie damit fertig war und auch ein paar Schlucke getrunken hatte, ging es ihr besser. Mary McD hatte sich eine Zigarette angezündet und bot ihr auch eine an. Julia wehrte Rauch und Angebot mit einem heftigen Wedeln der Hände ab.
"Ja, du hast recht", sagte Mary, und drückte die angerauchte Zigarette in der Waschschüssel aus. "Wir wollen ja noch weiter tanzen. Die Musik ist fantastisch, oder? Und auch die Chefin singt und spielt toll, findest du nicht? Hast du übrigens gesehen, wie die auf deine Schwester steht? Sie flirtet immer mit Frauen aus dem Publikum, aber so scharf habe ich sie noch nie erlebt!"
Julia erschrak. Natürlich hatte sie bemerkt, wie Madame Gabrielle, die in weissem Frack und Zylinder auftrat und mit einer tiefen, männlich klingenden Stimme sang, ihrer Schwester immer wieder über die Schulter zugezwinkert und ihr sogar eindeutig schmachtende Blicke zugeworfen hatte. Mathilde war, mit einem leisen Lächeln auf den Lippen, einfach dagesessen und hatte ihre Augen unverwandt auf die Sängerin gerichtet. Julia versuchte, nicht über die Szene und schon gar nicht über daraus abzuleitende Folgerungen nachzudenken, und hatte sich nach dem Auftritt der Hausherrin heftig in den Charleston gestürzt, zu dem die fünfköpfige Band aus lauter schwarzen Musikern aufspielte. Es war ihr gelungen, den Vorfall zu vergessen, bis ihn nun Mary McD zurückgeholt und ihm durch ihre Beobachtung eine nicht zu leugnende Existenz verliehen hatte. Sie konnte kein Wort herausbringen. Mary sah sie von der Seite an und stellte ihren Kopf schräg.
"Oh, entschuldige! Ich wollte dich nicht erschrecken, und es hat auch gar keine Bedeutung. Die Ellois macht keinen Unterschied zwischen den Frauen. Dass sie Mathilde angemacht hat, sagt nichts über deine Schwester, glaub mir!"
Und, als Julia noch immer nichts sagte:
"Und wenn schon, so etwas gibt es eben! Komm, wir gehen wieder zu den andern. Ich sage den Musikern, sie sollen was spielen, wozu man shimmy tanzen kann. Und ich zeige dir und Mathilde, wie es geht. Dann könnt ihr mal sehen, wie man beim Jazz ins Fliegen gerät!"

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