Mittwoch, 13. Oktober 2021

Scharfe Gegensätze

In ihrer Vorfreude hatte sich Julia den Sommer in Cornol in den hellsten Farben ausgemalt. Nun wurde aber der August im Jahr 1925 völlig verregnet. Den Bauern war das Heu auf den Feldern verfault, auch ihrem Bruder Alcide. Der Boden konnte das viele Wasser nicht mehr aufnehmen, so dass sich in allen Senken grosse Pfützen und gar Teiche bildeten. Man konnte froh sein um das bisschen Gefälle der Felder rund ums Dorf, die nun, da der Regen aufgehört hatte, über unzählige gurgelnde und glucksende Rinnsale in Richtung der Flüsschen Erveratte und Allaine allmählich entwässert wurden.
Mathilde und sie waren erst seit ein paar Tagen zu Hause, für kurze Zeit entlassen aus den Diensten von Mrs. Bailey und ihrer Mutter, die sie zusammen mit der elfjährigen Elsie gegen das Ende der folgenden Woche in Paris wieder erwarteten. Julia kam alles unwirklich vor, nicht nur die luxuriösen Umstände der Reise bis zu diesem kurzen Besuch in Cornol. Auch hier fühlte sie sich manchmal wie durch einen Schleier getrennt vom Geschehen, von ihrer Umgebung und von den Menschen. Als sie Mathilde von dieser seltsamen Empfindung erzählte, erfuhr sie, dass es ihrer Schwester ganz ähnlich erging.
«Nun sind eben wir die américaines», meinte Mathilde. «Wir kleiden uns anders, haben diese Kurzhaarfrisuren, über die man hier die Nasen rümpft. Wahrscheinlich bewegen wir uns sogar anders. Wir haben früher gespottet über solche Rückkehrerinnen, wie sie mit ihrem Arsch wackelten auf der Dorfstrasse, und ihre Nasen hoch trugen. Vielleicht machen wir das jetzt auch und merken es nicht einmal. Ab und zu fällt uns ein Wort zuerst auf amerikanisch ein, und schon ist es draussen! Der Gegensatz war auch noch nie so gross zwischen den Orten, an denen wir gerade noch waren und dem hier, oder?»
Der Unterschied zwischen ihren Verwandten, den Nachbarn und überhaupt allen Menschen im Dorf, und den Wohlhabenden bis Schwerreichen, die sie auf dem Schiff und im Hotel in Paris angetroffen hatten, fand Julia besonders verstörend. Zwar waren Mathilde und sie auch schon auf der France gereist, aber damals in der zweiten Klasse. Nun hatten sie Teil gehabt, und waren Teil gewesen, dieser ungeheuer verschwenderischen Pracht, die dem Dampfer den Beinamen «Versailles der Meere» eingebracht hatte. Ihnen waren Männer und Frauen begegnet, die sich schrecklich langweilten und über alles und jeden in ihrer Reichweite herzogen, weil es nichts auf der Welt gab, was sie nicht schon – besser, teurer, aufregender! – gesehen zu haben glaubten. Aus der Erfahrung, alles kaufen zu können, leiteten sie das Recht ab, die andern beurteilen und über sie bestimmen zu dürfen nach ihrem Belieben. Julia hatte eine Lady gesehen, die ihrer Kammerzofe ein teures Abendkleid, das diese ihrer Dienstherrin aufs obere Deck nachgetragen hatte zur Prüfung, aus den Händen riss und es kurzerhand über Bord werfen wollte. Es wurde vom Wind hochgehoben und verfing sich in den Seilen eines Mastes, wo es bis zur Landung im Havre flatterte wie eine Fahne. Am Nebentisch im Esssalon trank ein älterer Herr jeden Abend eine Flasche Wein, für deren Preis man auf dem Viehmarkt in Pruntrut eine schöne Kuh hätte kaufen können. Alcide hatte nur gelacht, als sie ihm diese Geschichte erzählten. Er war ein richtiger Bauer geworden, ein paiyisain mit harten, schwieligen Händen, sonnenverbranntem Gesicht und einem etwas schweren Gang. Seine streng nach Stall riechenden Arbeitskleider tauschte er nur an Sonntagen für den Gang zur Kirche, zu seiner Freundin oder zum Viehmarkt gegen einen der schönen Anzüge aus Amerika. Dann aber wusch und rasierte er sich sorgfältig und verwandelte sich auf wundersame Weise in einen môssieu, nach dem sich die Frauen im Dorf umdrehten.
Es hatte Julia und Mathilde gefreut, dass er und Célestine sich gefunden hatten, wieder gefunden, musste man sagen, denn die zwei waren als Jugendliche ein heimliches Liebespaar gewesen, was seine jüngeren Schwestern damals aufgeregt verfolgt hatten. Célestines Mann hatte sich nach dem grossen Krieg mit der Spanischen Grippe angesteckt und war an der folgenden Lungenentzündung gestorben, seine Frau als Witwe mit einer kleinen Tochter zurücklassend. Alcide schaute zu den beiden, ohne daraus eine grosse Sache zu machen. Und fast schien es so, als ob er bei Célestine den Kummer über den Verlust seiner grossen Liebe zu Fiona vergessen könnte. Sein Gehör war nochmals schlechter geworden. Wenn man zu ihm sprach, musste man darauf achten, ihm das Gesicht zuzuwenden, damit er von den Lippen ablesen konnte. Ihn schien das weniger zu stören als seine Umgebung. Maman konnte darüber schimpfen:
«Er hört nur noch, was ihm passt. Wenn irgendwo Land günstig zu haben ist, oder wenn jemand einen Blick auf seine schönste Kuh geworfen hat, dann kriegt er immer alles mit. Aber wenn er mir eine klemmende Schublade flicken sollte, ist er taub wie ein Stein!»
Alcide lachte übers ganze Gesicht, sich lautlos schüttelnd. Meinte schliesslich:
«Ich komme zurecht. Und es hat auch Vorteile: die Leute reden sowieso meist zuviel und wenn, dann lauter Unsinn. Bald werde ich mich aus der Armee ausmustern lassen, dann muss ich nicht mehr bezahlen jedes Jahr.»
Julia hatte sich bei ihm erkundigt, wie es der Mutter gehe. Sie sei noch immer rüstig, allerdings klage sie in letzter Zeit über Schmerzen in den Hüftgelenken. Sie könne nicht mehr lange stehen oder grössere Strecken zu Fuss zurücklegen. Einen Stock wolle sie nicht. Aber sie habe noch immer genug Kraft, nach anderen zu schauen auch ausserhalb der Familie, zum Beispiel zu çte paûre Juliette, einer alleinstehenden Nachbarin, für die sie zweimal in der Woche mit koche und ihr die Medikamente besorge.
Ihre Nichte und die Neffen hatten sie kurz nach ihrer Ankunft erlebt. Célinas Tochter Marianne war nun neun Jahre alt, die vier Buben von Jean Baptiste zwischen drei und neun.
«Wenn die so weiter machen, wird die Wohnung in Riehen bald zu klein, dann müssen sie etwas Rechtes finden, ein Haus», fand Alcide.
Es war eine fröhliche Begegnung geworden mit den Kindern, obwohl das Wetter nicht mitspielte. Als sie ihre Tanten bestürmten, sie sollten einmal richtig amerikanisch reden, begannen diese, Schlager zu singen. Zuerst Julia alleine, dann mit Mathilde zusammen. Bald steigerten sie sich unter dem Beifall der Kinder richtig hinein und sangen aus vollem Hals:
Somebody loves me
I wonder who
Maybe it’s you

Und:
Chicago, Chicago
You todell’ing town
Chicago, Chicago
I’ll show you around.

Damit alle den foxtrott oder charleston dazu tanzen konnten, wurde der Stubentisch auf die Seite geschoben und der Teppich eingerollt, fast wie bei den Baileys. Maman stand in der Türe und schaute kopfschüttelnd zu, aber da sie nicht wegging, konnte man ahnen, dass sie sich über die Lebendigkeit der Jugend freute.
Über Célina hatte sich Julia sehr gefreut, sie strahlte eine ruhige Zufriedenheit aus und schien mit ihrem Mann und ihrer Tochter glücklich zu sein. Offenbar gefiel es ihr auch am Zürichsee, wohin die junge Familie gezogen war. Sie kamen oft und regelmässig nach Cornol. Mit Marianne sprach sie konsequent Französisch, was dazu beitrug, dass sich ihre Tochter gut verständigen konnte mit den Verwandten. Sie liebte alle Tiere. Von Alcide hatte sie das Melken gelernt, und wie man die Kühe mit dem Stecken und lauten Zurufen dorthin lenkte, wo man sie haben wollte. Die Hühner füttern, Eier einsammeln, aber auch den Stall ausmisten waren Betätigungen, die sie mit Freude und staunenswerter Ernsthaftigkeit ausführte. Célina erzählte, sie habe noch vor zwei Jahren jedesmal ein grosses Drama vollführt, wenn sie wieder von Cornol wegmusste. Julia musste ihrer Schwester recht geben: sie war wirklich vernarrt in Marianne. Sie war anders als Elsie vor zwei Jahren, ungezwungener und natürlicher. Natürlich musste sie ihr alles erzählen über dieses geheimnisvolle Mädchen, das in New York in einer palastähnlichen Wohnung lebte und von Julia bedient und betreut wurde, die doch eigentlich ihre Lieblingstante war.
Bei Jean Baptistes Buben war man sich nicht so sicher, ob sie gerne herkamen. Sie verstanden wenig von dem, was man zu ihnen sagte und sprachen kaum von sich aus Französisch. Der Patois war für sie ein lustiger Kauderwelsch, eine Art Geheimsprache, die sie manchmal im Spiel nachäfften, aber kaum Interesse daran zeigten, sie zu lernen. Die mittleren zwei, Pierre und Alcide Junior, waren das letzte Mal abgehauen, als sie alleine nach Cornol in die Ferien gehen mussten, so hatten sie unter dem Heimweh gelitten. Man musste sie stundenlang suchen und fand sie schliesslich, beide weinend, auf einem Feldweg am Waldrand. Sie hatten vorgehabt, nach Hause, nach Riehen zu laufen. Aber sie waren auch lustig. Nachdem Mathilde und Julia ihre Gesangsnummer fertig hatten, wollte die Kleinen ebenfalls etwas zum Besten geben. Sie stimmten das Lied von den Petignat an:
Que le matan thuai les Pe, Pe, Pe,
Que le matan thuai les Petignats,
Vivent les Ai, z'Ai, z'Ai
Vivent les Aidjolats.

Anstelle des ihnen unverständlichen Fluchs, der Teufel solle die Petignats holen!, sangen sie einfach täratätä les Pe, Pe, Pe, tärätätä les Petignats, zum grossen Vergnügen der Erwachsenen.

Erst ganz zum Schluss ihres Aufenthalts übergaben die beiden Schwestern Alcide einen dicken Umschlag voller Dollarnoten, Geld, das sie für ihn und die Mutter gespart hatten. Alcide machte grosse Augen, als er das dicke Bündel sah, und noch mehr erstaunte ihn, als er erfuhr, was die beiden bei den Baileys verdienten.
«Donnerwetter, das ist einiges mehr als das, was mir Rockefeller bezahlt hat! Den Amerikanern muss es wirklich ausgezeichnet gehen seit dem Krieg. Wenn man denkt, wie dreckig es die Deutschen noch bis vor Kurzem hatten, weil sie den Siegern viel mehr zahlen mussten zur Wiedergutmachung, als sie eigentlich konnten. Da haben die Leute das Geld mit dem Leiterwagen angekarrt, wenn sie ein Möbelstück kaufen wollten. Ich habe es zwar nie recht glauben wollen, aber ein Kilo Kartoffeln soll im November Dreiundzwanzig neun Milliarden Mark gekostet haben, das kann man sich gar nicht vorstellen. Jetzt soll es wieder aufwärts gehen, seit sie die neue Mark haben, die Rentenmark und die Reichsmark. Ich glaube sie haben zwei aufs Mal.»
«Und wie ist es hier?», wollte Mathilde wissen. Alcide wiegte den Kopf hin und her.
«Es geht. 1921 und 1922 war es schlimm mit dem fièvre aphteuse, da musste ich auch alle meine Tiere töten lassen und habe kaum eine Entschädigung bekommen. Aber jetzt geht es langsam aufwärts. Land ist günstig zu haben, und die Hilfskräfte für die Ernte können nicht viel verlangen. Arme Kerle! Aber für uns Bauern ist das natürlich gut. Maman kann nicht mehr so viel machen, aber Célina kommt oft vorbei um zu helfen.»
Als er begriff, dass er den Schwestern mit seinen Worten ein schlechtes Gewissen machen könnte, fügte er schnell hinzu:
«Ihr macht das gut dort drüben. Geniesst es, solange es so gut läuft. Wir kommen schon zurecht hier!

Zuweilen half nur der Gang aufs Klo um wieder zu sich zu kommen. Sie drehte den Schlüssel um, dann den Lichtschalter, und blickte um sich. Die vernickelten Kreuze der Drehgriffe funkelten sie an wie bösartige Augen. Sie wusste, wie schwer es war, alle Kalkflecken von diesen Vorrichtungen zu entfernen. Hier sah sie keinen einzigen. Statt eines gelben Seifenblocks, wie einer zuhause in der Küche im schief hängenden Drahtgestell über dem Schüttstein lag, waren die Seifen hier zart lila, grünlich und bläulich gefärbte Kissen, jeden zweiten Tag ersetzt durch nagelneue mit scharfen Gussnähten und verschnörkelten Stempeln mit dem Namen des Hotels. Sie klappte den glänzend lackierten Deckel aus dunklem Holz hoch, schürzte den Rock, schob die Unterhosen zu den Waden hinunter und setzte sich. Ihre Füsse ruhten auf einem kleinen Teppich mit weichem, violettem Flor, der sich mit einem halbrunden Ausschnitt nahtlos um den Fuss der Klosettschüssel schmiegte. Sie roch an ihren Unterarmen um zu prüfen, ob noch Reste des heimatlichen Stallgeruchs wahrnehmbar seien. Elsie hatte bei ihrer Ankunft das vornehme Näschen gerümpft und festgestellt:
«Ihr riecht komisch.»
Und Mrs. Bailey hatte ihren Ausführungen über die geplanten und unmittelbar bevorstehenden Unternehmungen mit deutlich hörbarer Betonung beigefügt:
«..., wenn Sie sich dann frisch gemacht haben.»
Als sie zur Papierrolle griff, um sich abzuwischen, bemerkte sie das in trostloser Perfektion zu einer Spitze gefaltete Ende. Es hatte eine leicht andere Form als die, welche sie vor ein paar Jahren vom Butler der Leslies gelernt hatte und seither anwandte. Sie dachte an die auf einen Nagel gespiessten Zeitungsblätter im Häuschen in Cornol und seufzte tief.
Ihre Rückkehr nach Paris, ins Luxushotel Majestic an der Avenue Kléber, zu Mrs. Bailey mit Mutter und Tochter, war nicht so harmonisch verlaufen, wie sie sich das vorgestellt hatte. Fast schien es so, als würde es die Dienstherrin bereuen, ihre Kammerzofe und das Kindermädchen so grosszügig beurlaubt zu haben. Elsie war deutlich anzumerken, dass sie sich tödlich gelangweilt hatte.
«Jeden Tag in diese blöde Ausstellung!», klagte sie. «Da gibt es gar nichts für Kinder, und Mom interessiert sich nur für Möbel und solche Sachen.»
«Nicht in diesem Ton, junge Dame!», schalt sie die Mutter. «Nun ist ja Julia wieder hier. Ihr könnt zusammen in den Zoo gehen, und ins Puppentheater. Ausserdem gibt es in der Ausstellung eine Ecke mit Spielsachen, die du noch gar nicht gesehen hast. Und vielleicht gehen wir noch alle zusammen in dieses spanische Ballett, das soll ganz fantastisch sein.»
Elsie verzog weiterhin schmollend ihren Mund. Auch Mrs. Lemen schien froh zu sein, nun dank der Verfügbarkeit von Julia und Mathilde wieder etwas für sich unternehmen zu können, unabhängig von ihrer Tochter, für die der Hauptzweck der Europareise tatsächlich im Besuch der Exposition des Arts Décoratifs bestand. Dafür war sie nach Paris gekommen, und das wollte sie nun auch voll und ganz auskosten, wie sie sagte. Julia konnte sich vorstellen, dass ihr Mann seine geschäftlichen Verpflichtungen auch deshalb nicht verschoben hatte, weil er den Hang zur Besessenheit seiner Frau kannte, wenn es um schöne Dinge ging. Allerdings hatte er durch sein Zuhausebleiben auch die Kontrolle über die Ausgaben seiner Ehefrau aus der Hand gegeben, die schon einige Bestellungen exquisit moderner Möbelstücke und Textilien, inklusive shipping nach Amerika, getätigt hatte. Es waren also weitere Auseinandersetzungen zum Thema der Wohnungseinrichtung an der Park Avenue zu erwarten.
Jetzt, wo ihr Aufenthalt in Paris nur noch wenige Tage dauern würde, verlieh das Bewusstsein der beschränkten Zeit allen Erlebnissen einen besonderen Glanz. Damit die Damen und die elfjährige Miss alle ihre noch verbleibenden Gelüste befriedigen konnten, wurde sorgfältig geplant. Elsies Zoobesuch, Mrs. Lemens Rundgänge im Louvre und im Grand Palais sowie Mrs. Baileys Erkundungen in den unzähligen Pavillons der Exposition mussten so arrangiert werden, dass die gemeinsamen Morgen- und Nachtessen im Speisesaal des Majestic nicht tangiert wurden. Nicht vergessen durfte man die ärgerliche, aber weit verbreitete Gewohnheit der Franzosen, ihre Museen und öffentlichen Einrichtungen am Dienstag geschlossen zu halten. Dazu kamen zwei Veranstaltungen, für die man Tickets gekauft hatte: eine Vorführung am späten Nachmittag im Théatre Guignol du Champ de Mars, zu der Mrs. Bailey nicht mitkommen würde, sowie das Ballett L’Amour Sorcier von de Falla im Theater Trianon, das sie alle zusammen ansehen wollten.
Es war nicht vorauszusehen gewesen, dass Elsie schliesslich den lebensgrossen Plüschbären im village des jouets den Vorzug gab gegenüber den richtigen Braun- und Eisbären im Pariser Zoo. Julia hatte mit ihr in New York verschiedene Tierparks besucht in den vergangenen Jahren, und das Mädchen war immer vorbehaltlos begeistert gewesen. Nun war Elsie in ein Alter gekommen, in dem sie Vergleiche zu ziehen und sich in das Schicksal eingesperrter Tiere einzufühlen vermochte. Was sie früher belustigt hatte, zum Beispiel die ewig gleichen Gänge eines Eisbären hin und her entlang dem Wassergraben, und wie er in einer Achterschlaufe den Kopf pendeln lässt an den Wendepunkten, veranlasste sie sie nun zu einer beharrlichen Fragerei. Und als sie nach Julias unzureichenden Erklärungen von einem amerikanischen Touristen die Auskunft bekam, dies sei so genanntes stereotypic behaviour, eine leider bei Zootieren häufig auftretende Form des Irreseins, war sie so entsetzt, dass sie den Park sofort verlassen wollte.
Nun standen sie zwischen unzähligen Kindern, Kindermädchen und Eltern vor einem überdimensionierten Puppenhaus, das ebenfalls als einer der Anziehungspunkte im Spielzeugdorf der grossen Ausstellung eingerichtet worden war. Und obwohl Elsie längst aus dem Alter herausgewachsen war, in dem sie noch mit ihrem Puppenhaus gespielt hatte, fand sie es lustig, mit Julia zusammen, sich gegenseitig auf immer neue Details aufmerksam machend, diese mit grosser Kunstfertigkeit nachgeahmte Welt häuslicher Menschen zu betrachten.
Über Mittag trafen sie sich mit Mrs. Lemen und Mathilde in einem der Restaurants an der Champs Elisée. Da die Septembersonne noch angenehm warm schien, konnten sie sich draussen an einen Tisch setzen, etwas Kleines essen und trinken und sich gegenseitig erzählen, was sie erlebt hatten. Mrs. Lemen war noch immer sehr aufgeregt und begeistert von ihrem Besuch in einer Galerie an der Rue Bonaparte, wo sie sich mit Mathilde zusammen eine Ausstellung «surrealistischer» Maler angesehen hatte. Sie habe schon einiges gelesen über diese Richtung der modernen Kunst, die sich von den dunklen Seiten der menschlichen Seele inspirieren liesse, habe aber bisher noch kaum Bilder oder Skulpturen gesehen. Die Ausstellung sei erstaunlich vielfältig und, für sie gänzlich unerwartet, voller Humor gewesen. Mit einem Seitenblick auf Mathilde sagte sie:
«Es gab witzige Bilder, die auch Ihnen gefallen haben, nicht wahr, Mathilda? Zum Beispiel diese fast leere Leinwand eines Malers namens Mirò, ich meine, er ist Katalane. Ein bisschen sah es aus wie eine vergrösserte Postkarte. Oben links stand, in verschnörkelter Schrift: Photo. Rechts unten sah man einen blauen Farbfleck, die Ölfarbe sah aus, als sei sie mit dem Finger aufgetragen und verschmiert worden. Darunter stand, in der verbundenen Schrift einer Feder und auf feinen Bleistiftlinien: Ceci est la couleur de mes rêves
Sie hatte den französischen Satz offenbar auf dem Weg hierher geübt, denn sie brachte ihn fast mühelos und mit einigermassen korrektem Akzent über die Lippen.
«Ich überlege mir nun ständig, welche Farbe meine Träume haben, fantastisch!», fügte sie hinzu.
Mathilde hatte zu den enthusiastischen Ausführungen nur still gelächelt, immerhin ein- zweimal genickt, als Mrs. Lemen das Bild beschrieben hatte. Als diese sich nun der Enkelin zuwandte und sie nach deren Erlebnissen des Morgens befragte, zwinkerte Mathilde ihrer Schwester zu und sagte halblaut:
«Çât des dôbats!» – «Die sind verrückt!»
Das Werk eines anderen Verrückten sahen sie sich am Nachmittag an. Mrs. Bailey zuliebe traf man sich nochmals in der Ausstellung, und zwar bei einem Pavillon mit der Bezeichnung de l’Esprit Nouveau, der, wie sie sagte, von der Ausstellungsleitung beinahe geschlossen worden war wegen seiner «radikalen Modernität». Ein Landsmann von Julia und Mathilde, sie meine sogar, aus derselben Gegend der Schweiz wie sie, habe das Haus geschaffen, ein berühmt-berüchtigter Architekt, der sich Le Corbusier nenne, eigentlich aber Jeanneret heisse wie sein Cousin, mit dem er in diesem Fall zusammengearbeitet habe.
Der Pavillon war wirklich modern. Er sah aus wie eine Schachtel aus Beton, die auf kurzen Stelzen über dem Boden schwebte. Eine Seite war fensterlos und durch schmale Stege in zehn grosse, quadratische Flächen eingeteilt. In den vier linken waren, Orange auf Ochsenblutrot, zwei riesige Buchstaben, ein E und ein N, aufgemalt. Das Kreuz aus den darüber liegenden, nackten Betonstegen liess die Schrift wie hinter einem Fenster aussehen. In der Mitte erklärte ein schwarzweisses, aufgemaltes Schild den Sinn der Abkürzung: l’Esprit Nouveau. Diese Seite, sowie der durch ein Loch in der Decke eines kleinen Innenhofs wachsende Baum gefielen Elsie und auch Julia am besten. Im Innern war das Haus zwar faszinierend einfach eingerichtet. Julia fröstelte es aber bei der Vorstellung, in solchen Räumen leben zu müssen. Ihr Blick prallte von leeren Flächen zurück, die Stimmen und auch ihre Tritte hallten. Nichts stand einfach so herum, wie die Dinge in normalen Häusern, die von lebenden Menschen herumgeschoben werden und schliesslich dort ihren Platz finden, wo sie am wenigsten im Wege stehen. Alles zeugte von einer durchdringenden Kraft, einem unbeirrbaren Willen, die Räume genau so einzurichten, wie sie ausgedacht waren. Mathilde schien es ähnlich zu gehen wie ihr.
«Hierher kannst du keine eigenen Möbel mitbringen.» Und lachend fügte sie hinzu:
«Stell dir mal unser Sofa und den Stubentisch vor hier drin!»
«Oder die Kommode mit den Lourdes-Madonnen!», schlug Julia kichernd vor.

Ohne Vorbehalte beeindruckt waren alle vom spanischen Tanz der beiden Stars im Ballett von Manuel de Falla. Schon das Theater mit seinen zwei senkrecht übereinander hängenden Balkonen und den roten Plüschsesseln war eindrucksvoll. Als es sich gefüllt hatte mit hunderten festlich gekleideter Zuschauer, war die Stimmung freudig gespannt. Von Antonia Mercé, genannt la Argentina, und Vicente Escudero, den beiden Protagonisten des Stücks, hatte man schon viel gehört und gelesen, und manche im Publikum kamen schon zum dritten oder vierten Mal in die Aufführung, um ihren Tanz, vor allem aber ihr äusserst kunstvolles Geklapper mit Schuhsohlen und Kastagnetten zu erleben. Der Vorhang hob sich und gab den Blick frei auf ein glühend rot leuchtendes Bühnenbild, eine gefährlich schöne, symmetrisch zur Mittelachse aufgebaute Hölle aus Tüchern, mit Leinwänden bespannten Holzrahmen, Treppenstufen und Podesten. Elsie suchte Julias Hand, hielt und drückte sie fest bis zu Pause. Was sie sahen, war wirklich atemberaubend. Die Tanzenden, vor allem aber die beiden Hauptfiguren, wirbelten manchmal so schnell und scheinbar schwerelos auf der Bühne umher, dass man ihnen kaum folgen konnte. Dann wieder standen sie fast still, mit aufs Äusserste angespannten Körpern, stampften und traten den Boden in so rasend schnellen Rhythmen, dass es unmöglich war zu erkennen, wie sie es genau machten. Ähnlich war es mit dem Spiel der spanischen Klappern, auf denen die Finger ihre Wirbel vollführten. Julia bemerkte, und machte Elsie flüsternd darauf aufmerksam, dass die Kastagnetten der Argentina etwas heller tönten als diejenigen ihres Partners. Durch diese Unterscheidung konnten sie in der Folge eine Art furioses Zwiegespräch der beiden ausmachen, das die Tanzbewegungen ergänzte.
Sie kehrten nach der Aufführung ganz benommen ins Hotel zurück und Elsie konnte lange nicht einschlafen.
«Kann man tanzen lernen?», wollte sie von Julia mitten in der Nacht wissen.
«Das kann man sicher. Du musst das in Ruhe mit deinen Eltern besprechen. Jetzt aber solltest du schlafen. Bald werden wir auf dem Schiff sein. Dann spielen wir wieder shuffleboard mit deiner Grandma, und mit Mathilde.»
Elsie hatte endlich die Augen geschlossen. Sie murmelte:
«Und ich werde wieder gewinnen.»

Man hielt es meist nicht lange aus an Deck, auf dieser Überfahrt. Das Meer war ein bewegter Teppich aus dunkel blaugrün schimmernden Wellen mit darauf reitenden Kronen aus weissem Schaum, die immer wieder von starken Böen abgerissen und zerfleddert wurden. Elsie war erstaunt, dass es auf dem Ozean auch regnen kann. Sie musste laut rufen, damit Julia sie verstand.
«Spüren es die Fische, wenn es so stürmt?»
Julia konnte es nicht genau sagen.
«Ich glaube, das Wasser bewegt sich nicht bis in die Tiefe, die Wellen sind nur oben drauf. Und nass sind sie ja schon.»
Über die Tiefe des Atlantiks wusste Elsie etwas aus der Schule. Eigentlich hätte sie jetzt schon wieder im Unterricht sein müssen, aber unter der Voraussetzung, dass sie nach ihrer Reise über ihre Erlebnisse berichten würde, hatte ihre Mutter die Verlängerung der Sommerferien erwirken können. Die Lehrerin hatte auf Elsies Reise Bezug genommen und der Klasse etwas über die Schiffahrt auf dem Atlantik erzählt.
«Das Meer ist mehr als siebentausend Fuss tief, da wo wir jetzt fahren», brüllte sie.
Julia schauderte.
«Komm, wir gehen wieder hinein, bevor wir ganz nass sind!»
Der Wind orgelte in den Ohren und peitschte einem nasse Schwaden ins Gesicht. Als sie die Türe öffnen wollten, reichte ihre vereinte Kraft nicht aus, bis Julia sich darauf besann, wie man einen störrischen Ochsen aus dem Stall zieht. Sie hob ihr Bein, setzte den Fuss auf den Türrahmen und stiess sich davon ab. Drinnen war es warm und still. Elsie drückte sich an Julia.
«Du bist stark!»
In den Salons der ersten Klasse herrschte ein Wettstreit unter den wohlhabenden und reichen bis schwer reichen Fahrgästen. Viele hatte sich in Europa mit teuren Kleidern nach der neusten Mode ausgestattet, die sie nun unbedingt vorführen mussten. Manche Frauen wechselten ihre Garderobe bis zu viermal am Tag, um ihren Konkurrentinnen zu zeigen, wie exquisit ihr Geschmack sei und was sie sich alles leisten konnten. Sogar Mrs. Bailey, die sich zuerst darüber gefreut hatte, – «wir bekommen hier eine Gratis-Modeschau zu sehen!» – wurde es nach wenigen Tagen zu viel. Und als von der Schiffsleitung eine soirée dansante angekündigt wurde, beschloss sie kurzerhand, diejenige der zweiten Klasse mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Julia und Mathilde war es recht, denn der Name der Musikkapelle, die dort aufspielen sollte, The Creole Birds, war vielversprechend. Ausserdem würden sie so an dem Abend auch Bekannte aus Cornol treffen. Den neunzehnjährigen Jean Baptiste aus der rotte der Grillon zum Beispiel, «ein süsser Bub», wie Mathilde gefunden hatte, als sie ihn beim Einsteigen gesehen hatten. Und der konnte wirklich tanzen wie der Teufel, weiss der Himmel, wo der das gelernt hatte. Bei den modernen Tänzen, foxtrott, charleston, shimmy und wie sie alle hiessen, war es auch an so einem Anlass völlig normal, dass alle, die Lust hatten zu tanzen, einfach auf die Fläche stürmten und loslegten, ohne sich um die mühsame und oft demütigende Paarbildung zu kümmern. Als Elsies Mutter und Grossmutter sahen, wie auch andere Kinder und Jugendliche tanzten, durfte sie zeigen, was sie von Daddy und Mary McD gelernt hatte. Und so bildeten sie ein wildes Quartett, der junge Grillon, Mathilde, Julia und Elsie. Es gab Momente, wo sich um sie ein Kreis von Zuschauern bildete, die sie anfeuerten.
Weil sie danach nicht schlafen konnten, verliessen die beiden Schwestern in den frühen Morgenstunden ihre Kajüte, und betraten das obere Deck mit wahllos übereinander angezogenen Kleiderschichten. Der Sturm hatte nachgelassen, aber es war Nebel aufgezogen, der sich, von mehreren starken Scheinwerfern beleuchtet, wie eine undurchdringliche, leuchtende Glocke über das Schiff gestülpt hatte und mit ihm mitfuhr. Als ein Horn plötzlich ein tiefes Röhren von sich gab, zuckten sie zusammen.
«Hoffentlich wissen die, wo sie hinfahren!», meinte Mathilde.
Julia hatte auf dem untersten Deck eine kleine Gruppe von Männern entdeckt, die sich gegenseitig Zigaretten anboten und sie anzuzünden versuchten. Sie trugen Latzhosen, manche direkt über dem nackten Oberkörper. Als sie von einem entdeckt wurde, winkte er und machte die andern auf die zwei Frauen aufmerksam. Erst jetzt erkannte Julia, dass es nicht Schwarze waren, wie sie zuerst gedacht hatte, sondern Maschinisten, deren Gesichter und Arme vom Öl schwarz gefärbt waren. Sie winkte zurück, ein paar der Männer schwenkten ihre Kappen und riefen etwas, was nicht zu verstehen war. Da tauchte aus einer eisernen Tür ein weiterer Mann auf, der mit den Armen fuchtelte und dazu brüllte. Die Arbeiter warfen ihre Kippen über die Reling und verschwanden schnell in der dunklen Öffnung, der letzte zog die Türe hinter sich zu.
Sie schwiegen beide. Unter ihren Füssen spürten sie das leise Zittern der Motoren, die tief unter ihnen von den Männern am Laufen gehalten wurden.

1 Kommentar:

  1. Wow! - Wieder ein starkes Stück Erzählkunst - lebendige Zeitgeschichte! Chapeau !

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