Dienstag, 19. Oktober 2021

becoming Mrs. Jean Dirand

Es dauerte eine Weile, bis an der Park Avenue die gewohnte Ordnung des Alltags wieder eingerichtet war. Mit eine paar Tagen Verspätung kam eine riesige Transportkiste an, die eigentlich mit ihnen zusammen auf der France befördert, dann aber von den Zollbehörden zurückbehalten und sichtbar gründlich untersucht worden war. Mrs. Bailey hatte darin von einer französischen Firma Geschirr, zwei Schmuckkästchen, einen bemalten Wandschirm – in seine Einzelteile zerlegt – sowie drei Lampen sorgfältig einpacken und die Hohlräume mit Stroh ausstopfen lassen. Nun sah sie zu ihrem Ärger, dass die Kiste geöffnet, alles durchwühlt und mehr schlecht als recht wieder eingepackt worden war. Dabei war ein Teller zu Bruch gegangen und eine Lampe hatte einen Kratzer abbekommen. Sie diskutierte mit ihrem Mann darüber, ob es sich lohne für diese Schäden die vorher abgeschlossene Versicherung in Anspruch zu nehmen. Julia hörte zum ersten Mal von der Möglichkeit, für Gegenstände, die auf der Reise beschädigt oder gestohlen wurden, eine Entschädigung zu verlangen.
„Versichern lassen kann man alles“, erklärte Mr. Bailey auf ihre verwunderte Nachfrage. „Man zahlt einfach dafür. Je höher das Risiko eines Schadenfalles, wozu die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadensereignisses ebenso gezählt wird wie die Höhe der Kosten, die zur Behebung des Schadens benötigt werden, desto höher die Prämie, die im Voraus bezahlt werden muss. Die Bauern in Ihrem Land kennen sicher eine Versicherung gegen Unwetter, gegen Hagelschlag zum Beispiel, nicht wahr?“
Julia wusste, dass viele Bauern in Cornol nichts hielten von der Hagelversicherung, die es in der Ajoie schon seit Generationen gab. Zu oft hatte diese in der Vergangenheit Schwierigkeiten gemacht bei der Auszahlung von Entschädigungen. Alle wussten, dass die einbezahlten Prämien nicht ausreichten, wenn es in zwei aufeinander folgenden Jahren zu starken Unwettern kam. Der Bund hatte immer wieder Streit mit dem Kanton darüber gehabt, ob und, wenn ja, wie viel und von wem zusätzliche Gelder bereitzustellen seien für den Fall solch katastrophaler Ereignisse.
„Das ist hier ähnlich“, meinte der Dienstherr. „Viele Bauern nehmen das Risiko in Kauf, indem sie keine Prämien an eine Gesellschaft zahlen. Es gibt aber auch solche, die selber Geld auf die Seite legen für den Fall. Manche tun sich als Kooperative zusammen. Wenn es einzelne trifft, wird dann aus der gemeinsamen Kasse solidarisch geholfen.“
Soweit sie wusste, hielt es auch ihr Bruder Alcide so.
Mr. Bailey hatte sich in Abwesenheit seiner Frau ein grösseres Büro im oberen Stock eingerichtet. Da er damit die Absicht verband, vermehrt zu Hause zu arbeiten, hatte diese den Plan sehr begrüsst. Zwischen dem bisherigen Büro und einem Nebenraum, der als Teil der Bibliothek wenig genutzt worden war, hatte ihr Mann die Wand entfernen lassen, wodurch ein grosszügiger Arbeits- und Besprechungsraum entstanden war. Durch eine neu geschaffene Tür zu Treppenhaus und Aufzug konnten Klienten und Geschäftspartner von Mr. Bailey empfangen werden, ohne dass sie die familiäre Sphäre betreten mussten. Diese Regelung funktionierte nicht von Anfang an, so dass Julia und Mathilde immer wieder unbekannten Personen gegenüberstanden, die an der Wohnungstüre geklingelt hatten.
Einer dieser Besucher ging Julia nicht mehr aus dem Sinn. Er hatte seinen Hut gezogen und ihn vor der Brust gehalten, sie mit seinen hellen, grüngrauen Augen unverwandt angesehen, den Kopf leicht schräg gehalten wie zu einer Frage. Er war nicht gross, etwa gleich wie sie. Er sah sie weiterhin stumm an.
"Sie wollen zu Mr. Bailey, nehme ich an?", fragte sie schliesslich.
"Ähm, ja. Entschuldigen Sie! Mein Name ist Dirand, Jean Dirand. Mechaninal Engeneer. Ich sollte eigentlich angemeldet sein. Sind Sie seine Sekretärin?"
Sie musste lachen.
"Nein, nein! Ich bin nur das Kindermädchen der Familie. Ich bringe Sie in Mr. Baileys Büro, wenn Sie mich..."
Sie wollte mit dem Arm die Richtung zur Aussentüre des Büros draussen im Flur anzeigen und berührte ihn dabei an der Schulter. Er versuchte ihr Platz machen, wich dabei aber auf die Seite aus, auf der sie an ihm hatte vorbeigehen wollen, und es kam zu einem dieser merkwürdigen Tänzchen, hin und her, unter zunehmend verlegenem Lachen, bis sie sich schliesslich einigen konnten und er hinter ihr zur anderen Türe schritt.
"Kindermädchen haben eine ehrenwerte und sehr sinnvolle Aufgabe", sagte er förmlich, als sie für ihn angeklopft hatte. "Wie ist ihr Name?"
"Julia. Julia Chiquet. Aus der Schweiz, Sir."
"Alors, vous parlez français?", fragte er noch, dann wurde die Türe geöffnet, Mr. Bailey liess den Besuch eintreten und schloss gleich wieder. Julia stand noch einen Moment verwirrt da. Sie verstand nicht, warum ihr Herz klopfte. Mr. Dirand war deutlich älter als sie. Sie schätzte ihn auf etwa fünfzig, sein Haaransatz war schon weit nach oben gerutscht. Er war sorgfältig gekleidet gewesen, mit einem fein gestreiften Anzug aus Kammgarn, mit Weste, schneeweissem gestärktem Kragen und einer schönen Seidenkrawatte. Ganz leise der Geruch seines Rasierwassers, als sie ihm unversehens nahe gekommen war. Alles an ihm war sehr korrekt gewesen, aber ein Beau war er nicht. Ein rundliches Gesicht mit etwas schmalen Lippen, die Hände von einem Handwerker oder Bauer. Es war die Art und Weise, wie er sie angesehen hatte, und seine sanfte Stimme vielleicht, die sie für ihn einnahmen. Sie schüttelte ihren Kopf, einmal, zweimal, atmete dann tief durch. Ging wieder an ihre Arbeit.

Das nächste Mal traf sie ihn zufällig, und wieder völlig unverhofft, als sie Elsie an einem Nachmittag von der Schule abgeholt hatte und mit ihr der Sechsundsiebzigsten entlang in Richtung der grossen Avenue ging. Das Mädchen hatte die Gewohnheit, bei jedem Hund, dem sie begegneten, stehen zu bleiben und, wenn es die Besitzer und auch das Tier zuliessen, ihn zu streicheln. So war es auch bei diesem schwarzen Mischling, den Julia zuerst argwöhnisch musterte, bevor sie mit dem Blick der Leine folgte und sah, dass diese von Mr. Dirand gehalten wurde. Elsie bettelte:
"Darf man ihn streicheln? Oh bitte...!" Sie hatte sich, noch bevor der Mann richtig antworten konnte, niedergekniet und den Hund mit beiden Händen am Hals zu kraulen begonnen. Dieser liess ein wohliges Brummen ertönen und wedelte begeistert, so dass sein ganzes Hinterteil hin und her wackelte.
"Oh, Hallo!", sagten Julia und Mr. Dirand fast gleichzeitig, worauf sie, ebenso spiegelbildlich, in Lachen ausbrachen.
"Sind sie unterwegs zu Mr. Bailey?", fragte Julia dann, und merkte im gleichen Augenblick, wie dumm die Frage war, denn Mr. Dirand würde ja wohl kaum mit dem Hund zu einer geschäftlichen Besprechung gehen. Ausserdem war er ihnen entgegengekommen.
"Nein, ich wohne hier. Das heisst, gleich um die Ecke."
"Oh!", mehr brachte Julia nicht heraus. Zum Glück fragte Elsie nach dem Namen des Hundes. Mr. Dirand gab ihr freundlich Auskunft.
"Es ist eine Sie. Bessie heisst sie. Und wie heisst du?"
"Ich heiss Elsie. – Sie ist so süss!" Sie streichelte weiterhin das Tier, das versuchte, ihre Hand zu lecken.
"Ich begleite euch noch ein Stückchen", schlug Mr. Dirand vor. "Komm, Bessie!"
Er nahm den Hund dicht an seine Seite und schlug entschlossen den Weg in Richtung Park Avenue ein. Julia wollte so vieles fragen, wusste aber nicht, wo sie anfangen sollte. Schliesslich brachte sie heraus:
"Sind Sie auch Anwalt wie Mr. Bailey?"
Er lachte.
"Nein, das wäre nichts für mich! Ich bin Maschineningenieur, im Bau von Automobilen. Ich entwickle Antriebssysteme, und da gibt es Projekte, die reif wären für die Anmeldung zu einem Patent. Da ich in einer Firma arbeite, bei Durant Motors, wollen die natürlich die Rechte für sich. Ich muss da schauen, dass ich nicht übers Ohr gehauen werde. Dazu brauche in Mr. Baileys Rat."
"Dann sind Sie ein Erfinder?", fragte Julia bewundernd.
"Ja – auch. Vieles, was wir Ingenieure machen, sind Weiterentwicklungen, kleine oder grössere Verbesserungen an Dingen, die bereits funktionieren. Damit eine als Erfindung gilt, muss etwas wirklich Neues dazu kommen. Die Grenzen sind fliessend, was den Schutz von Erfindungen schwierig macht, aber auch spannend."
Es wurde fast unmöglich, sich zu verständigen, weil sie bei der Avenue angekommen waren, auf der die stehenden Autokolonnen einen ohrenbetäubenden Lärm veranstalteten. Julia musste mit Elsie nach einer Möglichkeit suchen, hinüber zu kommen.
"Soll ich sie noch auf die andere Seite begleiten?", fragte Mr. Dirand laut.
"Nein, nein, wo denken Sie hin! Zweimal durch dieses Durcheinander, noch dazu mit dem Hund, das wäre Blödsinn!"
Er nickte, griff in die Westentasche und gab ihr seine Visitenkarte.
"Ich lasse Sie, sie müssen sich konzentrieren!", rief er dann und machte lächelnd eine kleine Bewegung mit dem Kinn in Elsies Richtung. Dann drehte er sich um, mit dem Hund an kurzer Leine.
"Goodbye Bessie!", schrie Elsie den beiden nach.
Als sie zu Hause angekommen waren, merkte Julia, dass sich die Karte in ihrer geballten Hand in ein angefeuchtetes Röllchen verwandelt hatte. In ihrem Zimmer strich sie sie glatt und las:

Jean L. Dirand
Mechanical Engeneer
309 E 75th St. New York City


Der Herbst war schon fast vorbei, und mit ersten Frostnächten kündigte sich der Winter an, von dem alle hofften, er möge für einmal mild ausfallen. Am Morgen stieg eine dicke Nebelwand aus dem East River empor und wurde vom kalten Ostwind in die Strassenschluchten von Manhattan gedrückt. Wenn man Glück hatte, lichteten sich die weissen Schwaden nach dem Mittag und die Sonne begann ihr Zauberspiel. Beleuchtete einzelne Gebäude wie mit gigantischen Bühnenscheinwerfern, liess den Asphalt der schnurgeraden Strassenzüge aufleuchten als glitzernde Spiegelbahnen. Formte die aus den Gullys aufsteigenden Dampfwolken zu Jazz tanzenden Geistern.
Julia lag bei geöffnetem Fenster auf Jeans breitem Bett. Es wurde langsam kalt im Zimmer, aber sie war zu faul, aufzustehen und es zu schliessen. Als sie beim Ausatmen kleine Wolken auszustossen begann, wälzte sie sich stöhnend auf den Bauch, schob ihre Beine über den Bettrand und stemmt sich hoch. Langsam ging sie zum Fenster und schaute einen Moment auf die Fünfundsiebzigste. Menschen auf dem Heimweg warfen lange Schatten, ein Fuhrwerk mit zwei Pferden klapperte vorbei, ein Auto musste ausweichen und hupte. Ein Junge prellte seinen Ball in schnellem Rhythmus aufs Pflaster des Trottoirs. Sie schloss das Fenster.
Wenn sie darüber nachdachte, konnte sie gar nicht glauben, dass Jean und sie sich erst seit drei Wochen kannten. Sie hatte in dieser Zeit so konzentriert und beharrlich gearbeitet wie noch nie, selbst Mrs. Bailey war dies aufgefallen. Als die Dienstherrin, halb im Spass, nach dem Grund für ihren Eifer gefragt hatte, entschied sich Julia spontan dafür, ihr geradeheraus zu sagen, was los war.
"Ich habe einen Mann kennengelernt, Mrs. Bailey. Ich glaube, es ist was Ernstes."
"Aha! – Oh! Ich freue mich für Sie, Julia!"
Julia bemerkte die Schwankungen in ihrer Stimme trotz der wenigen Worte und erschrak. Schlagartig wurde ihr klar, dass Mrs. Bailey die möglichen Konsequenzen dieser als ernst bezeichneten Beziehung zu einem Mann fürchtete: dass ihre Zofe sie verlassen könnte. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht!
"Ich habe nicht vor... ich meine... wenn Sie weiterhin mit mir zufrieden sind...", stotterte sie. Sie verhedderte sich in ihren durcheinander wirbelnden Gedanken und verstummte. Tränen schossen ihr in die Augen.
"Na, na, Julia! Kommen Sie!", hatte Mrs. Bailey gemurmelt, sie mit beiden Händen bei den Schultern gefasst und sie dann für einen kurzen Moment an sich gezogen.
In der darauf folgenden Unterredung war die Dienstherrin mit ihr zusammen verschiedene mögliche Wege in ihre Zukunft durchgegangen, in aller Ruhe und mit einer Direktheit, die Julia erst bewusst machte, worüber sie noch alles nachzudenken hatte. Sie war noch gar nicht so weit gewesen, eine Heirat mit Jean in Erwägung zu ziehen, und obwohl er ein-, zweimal etwas in diese Richtung angedeutet hatte, war das Thema zwischen ihnen noch nie offen besprochen worden. Mrs. Bailey aber hatte darüber geredet, als sei es das Normalste der Welt, einen Mann zu heiraten, mit dem man es "ernst" meinte. Julia hatte es ihr auch nicht übel genommen, dass sie ihr – Julias und Jeans – Alter in die Überlegungen einbezogen und gefunden hatte, so viele weitere Gelegenheiten, eine Familie zu gründen, fänden wohl beide nicht mehr. Mr. Dirand sei ein seriöser Mann mit solidem Einkommen, wohne dazu an einer sehr guten Adresse. Auch ihr Mann sei von seinen angenehmen Umgangsformen und vor allem von seinen Fähigkeiten beeindruckt.
Das alles musste Julia natürlich sofort mit Mathilde besprechen. Diese hatte Jean nur einmal gesehen, fand aber nach diesem ersten Eindruck und nach dem, was die Baileys von ihm hielten, er sei "ein guter Mann". Zum Heiraten könne sie nichts sagen, da sie die Ehe für sich selber mittlerweile entschieden als Möglichkeit ausschliesse, wie Julia ja wisse. Aber mit Jean solle sie so bald als möglich offen reden.
"Wills du denn Kinder haben mit ihm?", hatte sie plötzlich gefragt, und Julia hatte in der Frage, unausgesprochen aber deutlich, gehört: jetzt noch, in euerm Alter?

Sie ging in Jeans Küche, um etwas Kleines für sie beide zu kochen. Sie hatte ein Stück Suppenfleisch mit Knochen, Gemüse und frisches Brot eingekauft, dazu aus dem Hinterzimmer des Ladens eine Flasche Rotwein besorgt, eingepackt in eine braune Papiertüte. Jean würde bald von seinem Büro am Broadway nach Hause kommen und den Hund mitbringen, den er während der Arbeit beim Hauswart und dessen Kindern lassen durfte. Er ging immer zu Fuss, eine halbe Stunde Weg, der grösste Teil davon quer durch den grossen Park. Er sitze und stehe genug herum bei der Arbeit, und beim Spazieren könne er am besten denken. Sie hörte seine Worte in ihrem Kopf, nicht nur diese. Dass er sie liebe, sagte er nicht oft, aber wenn, dann auf französisch. Sie rieb sich das Ohr, als habe er es gerade hinein geflüstert. Packte die Flasche aus und öffnete sie, damit der Wein Luft bekam.
Das Fleisch war verkocht und liess sich fast nicht mehr schneiden, als sie endlich am Tisch sassen.
"Du hast rote Backen, schön siehst du aus!", sagte er mit breitem Lächeln, als sie ihm einschenkte.
Sie gab ihm mit der flachen Hand einen Klaps auf die Stirn und setzte sich.
"Daran bist du schuld, wilder Kerl!"
Er wackelte in gespieltem Ernst mit dem Kopf.
"Ich weiss nicht. Wenn ich so darüber nachdenke, wer hier wirklich wild ist...?"
Sie sah ihn an. Am liebsten hätte sie ihn vom Tisch weg und hinüber gezogen ins Schlafzimmer, wäre gleich noch einmal über ihn hergefallen. Er schien es in ihrem Blick zu sehen.
"Oh, oh! Jetzt wird erst mal gegessen!" Er schaute sie nicht mehr an und schöpfte mit betonter Sachlichkeit Suppe und Gemüse aus dem Topf, schnitt Brot und machte sich an den Knochen zu schaffen. Der Moment war vorbei, aber es war gut, denn sie hatte ja auch Hunger.

Wie man mit Jean reden konnte, musste sie herausfinden. Er konnte sehr gesprächig sein, wenn es um seinen Beruf ging, um technische Dinge, die ihn interessierten. Damit er über sich erzählte, woher er kam, wie er dachte, wie er zu seiner Familie und zu anderen Menschen stand, musste man ihn schon beharrlich befragen. Darin war Julia gut.
Jean war als Zweitältester von vier Kindern in Vesoul, in der Franche-Compté aufgewachsen. Sein Vater hatte in der Verwaltung einer Mine gearbeitet, wo Jean nach der Beendigung der Schule Arbeit fand in der mechanischen Werkstatt. Er besuchte Abendkurse für Maschinenbauer und Ingenieure und absolvierte die Abschlussprüfungen mit Bravour. Als sein Versuch scheiterte, in die polytechnische Schule in Paris aufgenommen zu werden, entschied er sich kurzerhand, seiner Schwester nach Amerika zu folgen. Das war 1894, Julia war damals gerade zwei Jahre alt, Jean aber ein einundzwanzigjähriger, ehrgeiziger junger Mann. Sein Schwager, der als Mechaniker in einer grosse Werkstatt für Fuhrwerke in Connecticut arbeitete, riet ihm, sich in Flint bei der Durant-Dort Carriage Company zu bewerben. Er vermutete damals, dass dieser grosse Hersteller von Pferdefuhrwerken früher oder später auf motorgetriebene Fahrzeuge setzen würde. Dafür brauche man tüchtige Ingenieure. Es kam dann nicht ganz so, wie sich Jean das vorgestellt hatte. Durant war das Unternehmen mit Dort nicht gross und dynamisch genug. Er gründete eine riesige Firma, General Motors, mit dem Plan, möglichst viele Automarken entweder unter diesem Dach zu versammeln oder aus dem Markt zu drängen. Während dem grossen Krieg stieg Durant aus der Company mit Dort aus. Er hatte sich mit seinem Partner verkracht, der sehr patriotisch war und sich der Kriegsproduktion zur Verfügung stellte, während Durant den Krieg verabscheute und nicht bereit war, seine Fähigkeiten und sein Geld diesem Unternehmen zur Verfügung zu stellen, das in seinen Augen Wahnsinn war. Jean blieb noch eine Weile bei der Dort Motor Car Company, weil ihn die neue Entwicklung von Automobilen brennend interessierte und man ihm genügend Freiräume gewährte, um eigene Entwicklungen zu lancieren. Durant stieg erst viel später ins Geschäft mit den Automobilen ein, eigentlich erst vor fünf Jahren. Jean beobachtete ein Jahr lang, was Durant vorhatte, und folgte ihm dann zur neu gegründeten Durant Motors Inc., wo er jetzt arbeitete.
Julia konnte sich diese Verwicklungen nicht alle merken. Sie wollte aber noch mehr wissen, anderes.
"Warum wolltest du Amerikaner werden?"
Jean überlegte. Begann dann zögerlich:
"Ich war fünfundzwanzig. Mir gefiel das Land, das von Menschen aus so vielen Gegenden der Welt gegründet wurde und von ihnen am Leben erhalten wird. Und es gefällt mir noch immer. Die Freiheit, die man hier hat, etwas aus seinem Leben zu machen. In Frankreich läuft immer alles über Paris. Du kannst nicht in der Provinz Ingenieur werden, du musst es an eine der Eliteschulen im Zentrum schaffen, sonst hast du keine Chance. Hier sind die besten Schulen auf viele Orte verteilt, und sie stehen in Konkurrenz zueinander. Das spornt sie an!"
"Wärst du auch für Amerika in den Krieg gezogen?", wollte Julia wissen.
"Ich glaube schon. Aber ich war froh, dass ich schon zu alt war, als Amerika in den Krieg eintrat. Und dass er ein Jahr darauf beendet war. Vielleicht hätte ich sonst auch noch gehen müssen."
Julia sah ihn nachdenklich an. Strich ihm dann mit dem Handrücken über die Wange.
"Und wie sind deine Verwandten hier? Siehst du sie oft? Und stellst du sie mir dann vor?"
Er schwieg eine Weile. Sie wusste schon, dass er es nicht gerne hatte, wenn sie ihm mehrere Fragen aufs Mal stellte, aber daran würde er sich gewöhnen müssen.
"Meine Nichte Martha wirst du sicher gut mögen. Sie ist nur ein paar Jahre jünger als du. Meine Schwester und ihr Mann, Diane und Alfred, sind auch in Ordnung."
Und nach einer weiteren Pause:
"Ich finde, wir sollten in Connecticut heiraten..."
Julia stand abrupt auf und stellte sich vor ihn hin.
"Machst du mir gerade einen Antrag, Monsieur Dirand? Fragst du mich, ob ich dich heiraten möchte?"
Er schaute sie von unten an und nickte fast unmerklich.
"Dann frage mich richtig! Bitte!", befahl sie. Es kam etwa strenger heraus als sie beabsichtigt hatte.
Er stand auf und nahm ihre Hände in seine, drückte sie bei jedem Wort.
"Liebe Julia, willst du meine Frau werden?"
"Aber ja, lieber Jean!"

Sowohl Mathilde als auch Mrs. Bailey, und noch entschiedener ihre Mutter, Mrs. Lemen, sie alle fanden, Julia solle unbedingt weiter als Kindermädchen und Kammerzofe arbeiten, auch wenn sie verheiratet war. Julia musste davon nicht überzeugt werden. Sie wusste längst, was sie dieser Tätigkeit im Umfeld einer wohlhabenden, gebildeten Familie verdankte. Sie war stolz auf ihren Beruf, auf die Anerkennung, die sie dabei erfuhr, auf den guten Lohn nicht zuletzt. Mathilde riet ihr, das Thema Jean gegenüber behutsam anzugehen.
"In dieser Hinsicht kennst du ihn ja noch nicht. Viele Männer berufen sich auf die Tradition, wenn es um diese Frage geht. Aber im Grunde geht es ihnen um die Ehre. Darum, ob sie in der Lage sind, den Lebensunterhalt für zwei, und schliesslich für eine ganze Familie, alleine zu bestreiten. Und einige wollen ihre Frau zu kontrollieren, indem sie sie ans Haus fesseln. Sie wollen sie für sich alleine haben, als gehöre sie ihnen. Aber mach langsam, jage ihn nicht in die Trotzecke!"
Jean merkte aber sofort, worum es ging, als Julia herumdruckste.
"Du willst weiter bei den Baileys arbeiten, sehe ich das richtig?", fragte er sie. Und als sie schon befürchtete, sie habe es verdorben, fuhr er weiter:
"Für mich ist das OK. Ich war lange Junggeselle, du bist so viel jünger als ich. Und ich liebe meinen Beruf. Wie sollte ich da auf die Idee kommen, dir deinen zu verbieten, dir den Kontakt zu anderen Menschen zu erschweren? Dazu ist meine Stellung auch nicht so sicher wie es vielleicht scheint. Die Automobilbranche entwickelt sich rasend schnell, Firmen können plötzlich verkauft werden oder bankrott gehen. Und Durand ist ein Spieler, ein Börsenspekulant. Wer weiss, vielleicht bin ich dann einmal froh, wenn du auch etwas verdienst."
Julia fiel ein Stein vom Herzen, und sie liebte die nüchterne Art, mit der Jean ihr Raum neben sich liess. So konnte man sich rasch einig werden über die praktischen Folgen, welche die Heirat mit sich bringen würde. Jean wollte seine langjährige Haushälterin, die ihm dreimal pro Woche den Haushalt gemacht hatte, nicht ganz entlassen. Sie sollte weiterhin dienstags für die Wäsche und zum Putzen kommen. Mit Mrs. Bailey vereinbarte Julia, dass sie jeweils am Wochenende, von Samstag bis Montag Mittag, frei hatte und auch zu Hause übernachten durfte. An den anderen Tagen sollte sie weiter an der Park Avenue arbeiten wie bisher. Für Anlässe wie Einladungen, Ausflüge und Ferienreisen der Familie Bailey würde man sich jeweils absprechen und eine spezielle Abmachung treffen.
Jean bestand darauf, dass Julia von ihren Herrschaften eine Absicherung für den Krankheitsfall und fürs Alter bekam. Er brachte dieses Anliegen bei den Baileys vor, als er sich dort offiziell als Julias zukünftiger Ehemann vorstellte. Julia war erschrocken darüber, dass er diese Forderung gerade bei dieser Gelegenheit äussern musste. Aber sie merkte an Mr. Baileys Reaktion, dass er es nicht als Dreistigkeit ansah und verübelte, sondern ihren Mann als ebenbürtiges Gegenüber behandelte. Als sie ihren neuen Vertrag in der Hand hielt, kam sie sich sehr amerikanisch und modern vor. Und sie freute sich darüber, dass Mathilde, die immer von einem solchen Arbeitsverhältnis geredet, es aber nie geschafft hatte, die Absicht in Tat umzusetzen, nun dank Jeans Initiative auch ihre Versicherung erhielt.
Die zivile Trauung fand am elften August 1926 im Büro eines Friedensrichters von Greenwich in Connecticut statt. Trauzeugen waren Mathilde und Jeans Schwester Diane. Wegen der Frage, ob sie auch in der Kirche heiraten sollten, kam es beinahe zum Streit zwischen Jean und Julia. Er war zwar katholisch aufgewachsen, verhielt sich aber in Glaubensfragen sehr skeptisch, was sie seinem scharfen, auf Technik und Wissenschaft ausgerichteten Verstand zuschrieb. Für sie aber war es so völlig klar, dass nur die kirchliche Zeremonie einer Heirat Gültigkeit verschaffte – die Ehe war schliesslich ein Sakrament! – , dass sie schon der Gedanke entsetzte, es bei dem trockenen Akt im Richterbüro zu belassen. Ganz abgesehen davon wusste sie, dass sie ihrer Mutter nach so einem Frevel nicht mehr hätte unter die Augen treten können. Es reichte schon, dass sie von der Hochzeit einer ihrer Töchter per Brief aus Amerika erfahren sollte.
Jean willigte nur ein, damit sie sich wieder beruhigte, das wurde ihr auf etwas bittere Weise klar.
Aber der Anlass geriet schliesslich doch zu einem Fest, in bescheidenem Rahmen zwar, aber so, dass Julia später gerne daran zurückdachte. Da in den Kirchen von Unionville, wo Jeans Verwandte wohnten, kein passender Termin frei war, fand die Trauung schliesslich in der kleinen, modernen Kirche Saint Roch in Geenwich statt, in dem kleinen Ort, wo schon zivil geheiratet worden war.
Julia war zu Tränen gerührt über den Umstand, dass Mr. und Mrs. Bailey mit dem Automobil von New York hergefahren waren, zusammen mit Mrs. Lemen und Elsie. Mathilde, die schon vorher angereist war, um bei den Vorbereitungen für das Festessen in einem der Gasthöfe von Greenwich zu helfen, hatte kein Wort davon gesagt.
"Ein bisschen sind wir doch auch Familie, nicht wahr?", sagte Mrs. Lemen, als sich Julia nach der Trauung bei ihr bedankte. "Ich wünsche Ihnen und Ihrem Mann alles Gute, Julia! Und ich bin froh, dass Sie uns erhalten bleiben." Julia brachte kein Wort heraus, also breitete Mrs. Lemen die Arme aus und drückte sie kurz an sich.
Auch ihre ältere Schwester Joséphine wünschte ihr Gottes Segen, und die Art und Weise, wie sie dies auf Patois tat, war für Julia tröstlich. Sie konnte sich einbilden, durch Joséphines Stimme auch den Segen der fernen Mutter erhalten zu haben.

An die Zeremonie erinnerte sie sich hinterher nicht mehr genau. Zu viele Gedanken waren in ihrem Kopf durcheinander gegangen. Der Priester war ihr unsympathisch gewesen, der Ring musste enger gemacht werden. Der Organist hatte einen Patzer an den andern gereiht. Aber Jeans ruhige Nähe hatte ihr Sicherheit gegeben. Die Angst, einen Fehler zu begehen, die in den letzten Tagen zugenommen hatte, fiel von ihr ab. Sie heirateten am Gedenktag des Heiligen Rochus in einer ihm geweihten Kirche, wenn das kein gutes Omen war! Dazu kam die Anwesenheit ihrer Schwester und der ganzen Familie Bailey, die alle keine Mienen machten, als täte sie etwas Falsches. Und sie durfte sich nun Mrs. Jean Dirand nennen, oder Mrs. Chiquet Dirand, – Ha!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen