Donnerstag, 8. Juli 2021

Spiel und Ernst

Wie Julia vorausgesehen hatte, wurde der kleine George im Verlauf des Herbstes fast völlig ihrer alleinigen Obhut anvertraut. Mrs. Leslie erwartete ihr zweites Kind, ein Umstand, der ihr das Dasein als Ehefrau und Mutter noch schärfer als Gefangenschaft, in erzwungener Ferne zum pulsierenden Leben der Stadt, erscheinen liess. Da die mit der frühen Schwangerschaft verbundene Übelkeit diesmal ausblieb, war sie voller Kampfgeist und setzte es gegen den Willen ihres Mannes durch, sich als Organisatorin eines grossen Wohltätigkeitsballs in New York zu betätigen.
"Bevor ich so rund bin wie eine Wassermelone, und nur noch dasitzen und warten kann", wie sie bemerkte.
Mr. Leslie äusserte Bedenken, sie könnte sich überanstrengen, und stellte die Gefahr von Komplikationen oder gar einer Fehlgeburt dem Nutzen einer Wohltätigkeitsveranstaltung gegenüber. Die Dienstherrin liess das nicht gelten.
"Unsere Unterstützung für das Warren Goddard House ist sehr wichtig, gerade auf den Winter hin. Sie betreiben eine Suppenküche für arme Kinder, die sonst keine warme Mahlzeit bekommen. Und nächstes Jahr soll noch eine Kinderklinik eingerichtet werden. Damit kann man viele Leben retten!"
Mr. Leslie wollte zwar nicht glauben, dass es in New York City so viele arme Kinder gebe, aber dem Hausfrieden zuliebe gab er schliesslich nach.

Julia war beeindruckt. Sie hatte Mrs. Leslie bisher eher ängstlich, oft klagend erlebt. Nun war sie wie verwandelt, ihre Gesichtszüge waren voller, erwachsener. Sogar ihre Stimme schien Julia verändert. Sie sass tiefer und wirkte entschlossen. Julia kannte sich nicht aus mit den Auswirkungen einer Schwangerschaft, aber diese hier waren augenfällig. Nun blieb sie oft mehrere Tage mit George, der Köchin und dem Butler im grossen Haus zurück. Der Bub konnte, mit etwas Glück und Geschick, jeden zweiten Tag in den kindergarten gebracht werden, der, wie sie von Mrs. Leslie belehrt worden war, nach den Methoden einer gewissen Elizabeth Harrison geführt wurde.
"Da wird er gefördert, und er lernt andere Kinder kennen und kann mit ihnen spielen", war die Begründung der Mutter.
"Damit er lernt, sich zu wehren und durchzusetzen. Er soll ein leader werden, wie ich", so der Vater.
Julia wusste nicht, was es bedeuten sollte, als Kind "gefördert" zu werden. Sie hatte zwar in Cornol auch den Kindergarten besucht, aber für sie und Mathilde war diese Einrichtung eine Randerscheinung gewesen, etwas für regnerische und kalte Tage, an denen man nicht im Dorf und seiner Umgebung spielen konnte, in der wilden, unübersichtlichen Herde der Kinder, und unter der meist nachlässigen Aufsicht der Grossen, wenn sie gerade in der Nähe waren. George ging nicht immer gerne hin, manchmal sträubte er sich und weinte. Er war schüchtern, liess sich von anderen Kindern sein Spielzeug wegnehmen ohne Mittel zu finden, dies zu verhindern. Am liebsten spielte er alleine, aber in der Nähe seiner Mutter, oder jetzt vermehrt bei Julia. Er sang und plauderte beim Spielen vor sich hin. Wenn Julia ab und zu einen Laut von sich gab, oder wenn er ihr etwas zeigen und sie zum Staunen bringen konnte, war er glücklich. Auch, wenn sie ihm vorlas, am liebsten immer dasselbe. Peter the Rabbit, oder die Nursery Rhymes mit der Maus.
Appley Dapply
has little sharp eyes
And Appley Dapply
is so fond of pies.
George liebte Reime, also sagte sie ihm auch alle Verse auf, und sang ihm alle Lieder, die sie kannte. Auf Patois. Inzwischen waren die Herrschaften nicht mehr dagegen, vielleicht weil sie festgestellt hatten, dass ihr Kleiner trotz der Kinderfrau aus dem Jura lernte, korrekt amerikanisch zu sprechen. Und sie fanden es süss, wenn er durch die Räume trällerte in dieser seltsamen Sprache:
Tschainte, tschainte, petét l'oûegé!
Am allerliebsten aber half der Bub in der Küche. Die Köchin, Victoria, war leicht zu überreden, ihm ein Plätzchen einzurichten am grossen Tisch, allerdings nur wenn die Hausherrin nicht da war. Diese wäre entsetzt gewesen, wenn sie ein Messer in der Hand ihres Lieblings gesehen hätte, und sei es noch so kurz und stumpf, mit dem er mit grosser Hingabe und Konzentration die Kartoffeln und Möhren zerteilte, die man ihm hinlegte. Julia kannte das von sich und ihren Geschwistern: Kinder haben ein feines Gespür dafür, welches das echte, das richtige Werken ist, das auch den Erwachsenen wichtig und notwendig erscheint, und welches das Kinderspiel, das zwar Freude bereitet, worauf man jedoch jederzeit verzichten kann. Oft fehlen den Tätigkeiten, welche die Erwachsenen für Kinder vorsehen, der Ernst und das Gefährliche. Und Widerstand, den zu überwinden Anstrengung kostet oder auch misslingen kann. Ihre Eltern waren nicht ängstlich gewesen, und hatten sie früh teilnehmen lassen an dem, was sie selber taten. Wenn das, was die Kinder tun durften, zur Erledigung der vielen Aufgaben beitrug, die auf dem Hof, in den Feldern, oder in der Uhrmacherwerkstatt im ersten Stock zu erledigen waren, machte sie das stolz, vor allem wenn die Grossen ihren Beitrag so respektierten, wie er herausgekommen war. Julia stellte fest, dass sie viel über solche Dinge nachdachte als Kindermädchen von George. Sie fragte sich nun oft, ob sie einst Kinder haben werde, und wie sie es als Mutter würde machen wollen. Es brauchte den rechten Mann dazu. Aber wie musste so einer sein?

Jedenfalls musste er anders sein als Joseph, der Butler. Das fand sie aber erst heraus nach einer einige Wochen dauernden Affäre mit ihm. Sie merkte früh, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte, dass sie ihm gefiel. Seine Stimme war anders, wenn er mit ihr redete, samtpfotig, tief und warm. Ein wenig unheimlich auch. Und er konnte sie mit seinen hellblauen Augen so unverschämt anschauen, bis sie rot wurde und die Augen niederschlagen musste. Er zwinkerte ihr zu während der Arbeit, suchte die Berührung, wenn er ihr etwas übergeben oder abnehmen musste. Sie war hin und hergerissen gewesen über sein Gebaren. Einerseits war sie stolz, dass für einmal sie gemeint war, und nicht eine ihrer Schwestern oder Freundinnen wie so oft früher. Aber es machte sie auch misstrauisch, wie leicht Joseph sein Balzverhalten zu fallen schien, wie spielerisch und routiniert er um sie warb. Es war nahe liegend sich zu fragen, die wievielte unter seinen sicher zahlreichen Eroberungen sie sein würde. Und was wohl mit ihren Vorgängerinnen passiert war, wenn es dem schönen Mann eingefallen war, weiter zu ziehen. Die letzte hatte er mit einem Kind sitzen lassen, wie sie zum Glück erfuhr, noch bevor es zwischen ihnen zum Äussersten kam. Eine Verkäuferin im Dorfladen, eine Freundin der Unglücklichen, hatte es ihr erzählt. Sie war sehr erschrocken, und mit einem Mal aufgetaucht aus einem Taumel, den sie immer schlechter hatte steuern können. Wenn sie von Joseph im Halbdunkel eines Gangs gepackt, an die Wand gedrückt und leidenschaftlich geküsst worden war, hatte sie sich zu Beginn noch heftig gewehrt, manchmal war es ihr auch gelungen, ihn zu vertrösten. Nicht hier, nicht jetzt, später, vielleicht. Dann wurde sie aber immer öfter überschwemmt von ihrem eigenen Verlangen, vom Trotz auch, gegen die inneren Stimmen, die sie von Lust und Sünde abhalten wollten. Weder beten noch beichten half, sie wollte diesen Mann, auch wenn sie wusste, dass sie sich unaufhaltsam dem Moment näherten, der für sie als Frau eine ganz andere Bedeutung haben würde als für ihn. Aus dem sie im schlimmsten Fall einen dicken Bauch und den Verlust ihrer Integrität davon tragen würde. Als sie erfuhr, dass Joseph vor Kurzem genau dies einer andern Frau angetan hatte, anscheinend ohne sich weiter um sie zu kümmern und ohne sich für sein Verhalten zu schämen und es folglich zu ändern, war sie darum auf einen Schlag wieder nüchtern. Wurde gar, in den Augen des verdutzten Butlers, zur Furie. Im Garten des Anwesens, als die Herrschaften wieder einmal in der Stadt waren, und der Bub im Kindergarten, stellte sie ihn zur Rede. Zuerst war sie so aufgeregt und wütend, dass sie ihn mit einer Schimpftirade in ihrem Dialekt überfiel. Er verstand zwar kein Wort von dem was sie sagte, wusste aber sofort, worum es ging und begann sich zu verteidigen. Es sei bei ihr etwas ganz anderes, dieses Mal meine er es ernst, und natürlich wolle er sich der Verantwortung stellen und sie heiraten. Das brachte für Julia das Fass erst recht zum Überlaufen.
"Was willst du!? Da ist dir etwas in der Reihenfolge verrutscht, mein Lieber! Männer wie du gehen davon aus, sie könnten sich einfach bedienen. Die Früchte pflücken, anbeissen und fallen lassen. Ich habe mich auf deine Zärtlichkeiten eingelassen, seit Wochen. Haben wir uns dabei kennen gelernt? Wurde ich einmal von dir ausgeführt? Hast du mir in dieser Zeit je von dir erzählt? Oder mich gefragt, wer ich bin, woher ich komme und was ich möchte? Wie kannst du behaupten, dass du mich heiraten willst? Weisst du, wie meine Schwester Mathilde zu solchen wie dir sagt? Du bist ein schöner boûeb, aber ein Arsch! Und ich bin ein Dummkopf, dass ich das mit mir machen liess. So, Schluss! Gehen wir arbeiten!"

Sie hatte erwartet, dass es nach diesen Vorkommnissen sehr schwierig würde, weiterhin mit dem Butler im gleichen Haus zu arbeiten, aber es kam anders. Joseph verhielt sich eine Zeit lang sehr förmlich ihr gegenüber, mied auch den Kontakt, so weit es möglich war. Dann aber brachte er es bei einer Gelegenheit, bei der sie zu zweit das Besteck putzen mussten, zu ihrer Überraschung fertig, sich zu entschuldigen. Dabei wirkte er ganz verwandelt, scheu und verdattert. Fast tat er ihr ein wenig leid. Aber dann kam ihr die Frau in den Sinn, die er sitzen gelassen hatte. Sie gab sich einen Ruck und erzählte ihm, was man ihr über ihn berichtet habe. Es schien ihm furchtbar peinlich zu sein, aber er stritt nichts ab. Also hakte sie nach:
"Ist es denn schon zu spät? Vielleicht kannst du das ja wieder gutmachen mit deiner... wie heisst sie?"
"Molly. Molly Ryan."
Es stellte sich heraus, dass Joseph grosse Angst hatte vor Mollys Vater und ihren Brüdern, vor der ganzen irischen Sippe. Und davor, dass er im Falle einer Heirat gezwungen würde, nach Irland zurückzukehren, und dann in die britische Armee eingezogen, vielleicht sogar in den Krieg ziehen müsste.
Das hättest du dir vorher überlegen müssen, dachte Julia, aber weil er da zerknittert und schuldbewusst vor ihr sass und sie sich schon so überlegen vorkam, verzichtete sie darauf, es zu sagen. Ihr genügte, dass für Molly noch nicht alles hoffnungslos schien.

Mrs. Leslies Wohltätigkeitsball war ein grosser Erfolg gewesen. So kurz vor Weihnachten war die New Yorker Gesellschaft in Spendelaune, und zudem hatten einige der angesehensten Familien die Gelegenheit benutzt, ihre Töchter einem ausgesuchten Publikum im besten Licht vorzuführen. Die Dienstherrin war über ihren Erfolg und die damit verbundene Anerkennung wie in einem Rausch. Jedes Detail musste erzählt werden, aber Julia hatte Mühe, sich einen solchen Anlass überhaupt vorzustellen. Offenbar ging es dort zu wie in den süssromantischen Romanen, die sie und ihre Schwestern als Jugendliche gelesen hatten, verbotenerweise. Mit kichernden jungen Mädchen, gehüllt in raschelnde Wolken aus seidenem Taft. Und galanten Jungmännern mit cravates blanches, die sich in den parfümierten carnets de bal Tänze mit ihrer Angebeteten reservieren liessen. Mr. Leslie machte sich noch immer Sorgen, ob das nicht alles zuviel gewesen sei für seine Ehefrau, die sich in Erwartung befand. Wie Julia für sich feststellte, ging es ihm aber auch darum, für das kommende Weihnachtsfest seine Eltern in würdigem Rahmen zu empfangen, wozu er die Hilfe von Mrs. Leslie natürlich brauchte und also hoffte, ihre Energie reiche nun auch noch, ohne ihr und dem ungeborenen Kind zu schaden, für diesen weiteren Anlass. Er versammelte seine Hausangestellten in der Küche und beschwor sie, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen, damit seine Ehefrau geschont, gleichzeitig aber die dem Haus angemessene Noblesse aufgebaut werden könne. Es war offensichtlich, dass er seinen Eltern etwas beweisen wollte, vor allem seiner Mutter, laut Josephs Kommentar. Es musste, wie jedes Jahr, ein riesiger Truthahn bestellt werden. Die Vorhänge wurden herunter genommen und gewaschen, das Silber bis auf das letzte Löffelchen geputzt. Die Tanne liess Mr. Leslie vom Förster, den er persönlich kannte, fällen, auf Mass zurechtstutzen und liefern. Sie musste genau so lang sein, dass sie die Decke der Eingangshalle berührte, wenn sie in ihrem schmiedeeisernen Ständer aufgerichtet und mit der Spitze aus böhmischem Glas versehen war. Für die Arbeit in der Küche wurde eine zusätzliche Hilfe, nur für diesen einen Tag, eingestellt, eine sechzigjährige Witwe aus der Nachbarschaft. Spezialistin für die Füllung des Truthahns, sowie für die Cranberries und die Brotsauce. Julia sollte an dem Abend zuerst schauen, dass der Bub sein Abendessen bekam, ihn dann baden und, wenn die Grosseltern da waren, im Schlafanzug präsentieren. Vielleicht gebe es noch ein paar Geschenke zum Auspacken für ihn, dann solle sie ihn ins Bett bringen und möglichst bald darauf beim Servieren helfen.

Der Abend verlief zufriedenstellend, die ganz grossen Katastrophen blieben aus. Die Herrschaften waren den ganzen Tag mit Vorbereitungen beschäftigt gewesen, unter höchster Anspannung, die Julia auf ein entsprechendes Verhältnis der Eheleute zu seinen Eltern beziehungsweise ihren Schwiegereltern schliessen liess. Der Duft des Truthahns erfüllte das Haus, während noch am Baumschmuck, der auf Mrs. Leslies Anordnung zweimal in seiner Grundfarbe geändert werden musste, letzte Korrekturen vorgenommen wurden. In der Küche werkte Mrs. Wilson, die zugezogene Hilfe, an den Saucen und kommandierte die junge Hausköchin solange herum, bis sie heulte. Danach versöhnten sie sich wieder bei ein paar Gläschen Madeira, der als spezielle und streng geheime Zutat für den Bratensaft angeschafft worden war. Auch Julia bekam eine goutte davon, was ihr half, die Anfälle trotzigen Zorns von George dem Dritten gelassen zu überstehen. Der Kleine spürte, wie hektisch überdreht seine Eltern dem Abend entgegenfieberten, und legte sich quer, wo es nur möglich war. Als Mr. und Mrs. Leslie Senior endlich vor der Haustüre standen und klingelten, war es gerade besonders schlimm. Mrs. Leslie bedeutete Julia, sie solle den tobenden Buben packen und mit ihm im Kinderzimmer verschwinden, und obwohl sie diese Massnahme unpassend fand, gehorchte sie. George war schwer geworden, und wenn er sich wehrte, war er eine für den Rücken gefährliche Last. Als sie ihn in seinem Zimmer auf das kleine Tischchen stellen wollte, dessen Höhe sie ideal fand, um den Kleinen an- und auszukleiden, zwickte sie die Hexe ins Kreuz. Sie fasste sich an den Rücken und stöhnte.
"Ah non, médje! É te, tchervôte de gosse!"
Augenblicklich hörte George auf mit seinem Gebrüll und sah sie mit grossen Augen an.
"Hast du Aua gemacht, Julia?"
Als sie nickte, klammerte er sich an sie und bohrte sein Gesicht in ihren Schoss.
Steif und ganz vorsichtig setzte sie sich neben ihn.
"Das war kein guter Tag für dich, ich weiss. Aber Mommy und Daddy ist es nun mal ganz, ganz wichtig, dass Grandma und Grandpa ein schönes Weihnachtsessen bekommen. Wenn die Grossen sich so etwas vornehmen, dann haben sie nicht noch die Kraft, sich mit einem zornigen George zu streiten. Aber ich bin ja auch noch da. Jetzt gehen wir baden, du darfst alle deine Enten mitnehmen. Dann ziehen wir das Pyjama an und gehen deinen Grosseltern ganz brav Gute Nacht sagen. Hilfst du mir? Bitte, mein Rücken tut so weh!"

In der Küche assen sie noch tagelang Truthahn, als kalten Salat, im Sandwich, oder gezupft zu allen möglichen Resten der herrschaftlichen Mahlzeiten. Das Weihnachtsessen und der damit verbundene Auftritt der Senioren wurden ausführlich besprochen, kommentiert und mit früheren Familienessen verglichen.
"Die Eltern der Lady waren erst einmal hier, jedenfalls soweit ich es erlebt habe", erzählte der Butler. "Sie wohnen in Florida. Mit ihnen war es viel entspannter. Mr. und Mrs. Hoyt sind sehr freundliche, lockere Menschen."
"Nun, die Leslie Seniors kann man sicher nicht als locker bezeichnen", meinte darauf die Köchin. "Sie meckert einfach an allem und jedem herum. Der Truthahn war ihr zu trocken, die Füllung zu fett, das Dessert fand sie unpassend, ebenso den Wein. Ich finde, man kann ja solche Meinungen haben, aber dass man das auch laut bemerkt, wenn man eingeladen ist! Wenn man zudem blind sein muss um die Anstrengungen der Jungen nicht zu sehen, die es einem hinten und vorne recht machen wollen. Ich finde das respektlos. Mrs. Leslie hat so gelitten, und ihr Mann lässt sich von seiner Mutter herumschubsen wie ein kleiner Junge, man kann fast nicht zusehen!"
Julia hatte nicht viel mitbekommen von den schwierigen Gästen. Als sie mit dem frisch gebadeten und ordentlich gekämmten George das Esszimmer betreten hatte, wurde dieser von Mr. Leslie Senior mit dröhnender Stimme begrüsst. Der Bub verhielt sich seinen Grosseltern gegenüber scheu und fremdelnd. Erst als er zwei Pakete überreicht bekam, lächelte er wieder, setzte sich mitten auf den Teppich und begann die Geschenke auszupacken. Einen weiteren Teddybären und eine hölzerne Eisenbahn, die es mit dem mechanischen Blechspielzeug, das er von seinem Vater bekommen hatte, nicht aufnehmen konnte. Trotzdem bedankte er sich artig, liess sich von der Grossmutter in die Wangen kneifen und hörte sich mindestens dreimal an, wie gross er geworden sei. Als er herzhaft gähnte, durfte ihn Julia wieder in Empfang nehmen. Bei dieser Gelegenheit wurde sie vom Hausherrn vorgestellt.
"Dies ist Julia Chiquet, unsere neue nurse aus der Schweiz."
Mrs. Leslie Senior würdigte sie keines Blickes. Sie hatte die von George verstreuten Weihnachtspapiere eingesammelt und faltete sie mit energischen Kniffen zusammen. Julia nahm den Buben bei der Hand und führte ihn hinaus. Ihr Kreuz schmerzte bei der kleinsten Bewegung.

Sie hoffte, sich bis zum Silvester wieder normal bewegen zu können, denn es stand ein Fest mit den Cornolern bevor, das alle Geschwister gemeinsam feiern wollten. Alcides Freundin Fiona sollte auch dabei sein, für sie würde es ein Abschiedsfest werden, vielleicht ein endgültiges. Julia war voller Bewunderung für ihren Bruder, der trotz aller Traurigkeit seine Geliebte loslassen wollte, weil sie beide zuhause gebraucht wurden. Sie hoffte, sich nie auf diese Weise entscheiden zu müssen in ihrem Leben. Sie war oft traurig in diesen Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Gerne hätte sie die Festtage mit den Eltern verbracht, und mit ihrer kleinen Nichte und dem Neffen, die im vergangenen Jahr zur Welt gekommen waren. Sie hätte viel lieber zu diesen kleinen Kindern aus ihrer eigenen Familie geschaut, vielleicht brauchten deren Eltern auch nötiger Hilfe als die Leslies mit ihrem schönen Haus, ihren Angestellten und dem vielen Geld. Aber dann hätte sie nichts verdient, und nichts abgeben können, um ihre Eltern zu unterstützen. Die Aussicht, Alcide einige Dollars mitzugeben, wenn er im kommenden Jahr heimfahren würde, tröstete sie ein wenig. Und mit ihrem Rücken wurde es täglich besser dank einer Salbe, die sie auf Rat von Mr. Follis, dem Chauffeur, in der Apotheke gekauft hatte. Er bekam oft Rückenschmerzen, wenn er lange fahren musste, vor allem auf den holperigen Strassen von New Jersey, und seit er dieses Heilmittel entdeckt habe, ginge es ihm jeweils rasch besser. Sie solle sich vor dem Schlafengehen einreiben, weil die Herrschaften sonst die Nase rümpfen würden wegen dem strengen Mentholgeruch. Julia war es im Moment egal, was die Herrschaften dachten, und Mrs. Leslie schien sich nicht an dem Duft zu stören. Sie war auch sonst sehr mitfühlend und verschonte Julia mit Arbeiten, die ihr Kreuz hätten belasten können. Sie selber durfte auch nicht mehr schwer tragen, der Umfang ihres Bauches hatte sichtbar zugenommen und sie watschelte mit immer kürzeren Schritten im Haus herum, gerade so, als müsste das Kind jederzeit zur Welt kommen. Dabei sollte es erst im April so weit sein.

Das Silvesterfest fand nicht wie üblich in der Gemeinde von St. Vincent de Paul statt, weil deren Saal dieses Jahr den Obdachlosen des Quartiers für ihre Feier zur Verfügung gestellt wurde. Man hatte eine Lagerhalle gefunden, die wegen Besitzerwechsel vorübergehend leer stand. Sie wurde gründlich geputzt und festlich hergerichtet. Der Raum war sehr geräumig, eine Schaustellerfirma von Coney Island rüstete ihn mit reichlich Tischen und Bänken aus und baute sogar eine erhöhte Tanzbühne ein. Freiwillige Helfer gab es genug unter den Cornoler Auswanderern, und so wurden Bühne, Wände und Tische aufwändig dekoriert mit allerlei bäuerlichem Gerät. Mit Garben von Weizen und Roggen, mit Trockenblumen, Bandschlaufen, Fahnen und Kokarden. Und wie immer kochte man in zahllosen Haushalten das Essen vor, schleppte es an und hielt es warm in geeigneten Behältern. Mit dem Vorrat an Wein und Schnaps hätte man eine Armee versorgen können. Die Musikkapelle umfasste dieses Mal auch einige Bläser, und ein Chor hatte sich formiert und fleissig geübt.

Es wurde ein schönes Fest. Ausgelassen fröhlich und abgrundtief traurig. Nicht nur Alcide, Fiona und die mitfühlenden Schwestern wurden von sich widersprechenden Gefühlen geschüttelt. Bei ihnen schien wenigstens der Grund klar zu sein mit der bevorstehenden Trennung der zwei Liebenden. Aber auch bei den feiernden Landsleuten bahnte sich eine unmittelbar unter der Festlaune lauernde Traurigkeit immer wieder Bahn an die Oberfläche. Es kam vom Krieg, von den schrecklichen Bildern und Berichten in den Zeitungen während des auslaufenden Jahres, den geschilderten Sorgen in Briefen. Niemand wusste, wie lange das Schlachten noch andauern, wie weit es sich noch ausbreiten würde. Immer unwahrscheinlicher wurde die Hoffnung, die neue Heimat könne ihre Neutralität bewahren, und damit wuchs die Angst, das alte, so kleine und verletzliche Heimatland könne auch zwischen die Fronten geraten. Man konnte nicht einmal mehr damit rechnen, mit einem Schiff nach Europa zu fahren, weil deutsche Unterseeboote jederzeit auftauchen und ihre Torpedos abfeuern konnten. Die Redner an dem Abend sprachen von Hoffnungen für das neue Jahr, ohne recht daran zu glauben. Die Stimmen schwankten und in den Augen glitzerte es. Wer jetzt Witze erzählte und laut herauslachte, konnte im nächsten Augenblick in Schluchzen ausbrechen und sich hilflos an seinen Tischnachbarn klammern. Lebhaft tanzende Paare verlangsamten plötzlich ihre Bewegungen, fielen sich in die Arme und verharrten minutenlang bewegungslos auf der Bühne, um schliesslich still, Hand in Hand, an ihre Plätze zurückzukehren. Manche tranken zu viel Schnaps, legten ihren Kopf auf die Arme und schliefen am Tisch ein.

Julia merkte, wie schwer es für Alcide war, die andern zu verstehen im Lärm des Festes. Sein Gehör machte es ihm fast unmöglich, einzelne Stimmen herauszuhören aus dem Gewirr von Musik und menschlichen Stimmen, dem Klappern von Geschirr und Scharren von Stühlen. Nachdem er eine Weile still geblieben war – er sass zusammengesunken und hatte seinen Kopf auf Fionas Schulter gelegt – stand er plötzlich auf und begann eine Rede, ohne sich darum zu kümmern, ob man ihn verstand.
"Geliebte Fiona, liebe Schwestern, zehn Jahre habe ich nun in den Vereinigten Staaten verbracht. Als Bauer-Uhrmacher bin ich gekommen, dann servierte ich in einem Club, zuletzt war ich Kammerdiener bei Rockefeller Junior. Ich habe schönes Geld verdient, das ich nun nach Hause bringen und damit uns und unsere Eltern versorgen kann. Ich habe die schönste, klügste und beste Freundin gefunden, dich, Fiona Walsh aus Ballingarry. Du kehrst nun auch in deine Heimat zurückkehrt, um die Eltern zu unterstützen. Der Krieg hat ihnen einen Sohn, deinen Bruder, geraubt und den anderen schwer versehrt zurückgegeben. Was für Zeiten sind das, in die wir hineingeboren wurden! Was kann man Sinnvolles tun? "Diener sein ist nichts Dummes", hat mir einst Alice, die Frau eines Onkels in Ohio, gesagt. Auch ihr seid alle Dienerinnen. Es ist nicht immer einfach, in diesem Beruf seinen Stolz und seine Würde zu bewahren. Aber seht uns an, wir können das! Und auch wenn ihr hier in der Fremde, für fremde Leute arbeitet, tragt ihr alle bei..."
Weil jetzt wieder die Musik aufspielte, verstand Julia nicht mehr, was ihr Bruder sagte. Aber es war deutlich, dass er zum Abschluss dieser für ihn so ungewöhnlichen Rede gelangen wollte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, während er weiterhin die Lippen bewegte. Er stellte sich hinter Fiona, klammerte sich an ihre Schultern und küsste sie auf den Scheitel. Suchte und fand sein halbvolles Glas, und wollte es in Richtung seiner Schwestern erheben. Aber diese waren alle aufgesprungen und drängten sich zu ihm vor. Jede wollte ihn umarmen, es bildete sich ein dichter Knäuel aus Leibern, Armen, Händen und Köpfen. Gegen Mitternacht wurden alle Fenster und die Eingangstüre geöffnet. Man füllte die Gläser, während die Kirchenglocken der Umgebung läuteten. Als sie verstummten, verharrten auch die Festgäste still und stumm. Das sonst übliche laute Mitzählen der zwölf Schläge blieb aus. Das neue Jahr, 1917, löste das alte ab, und die Cornoler hörten nicht mehr auf mit Umarmen und sich gegenseitig Mut zusprechen.
"Bouénne annèe, bouénne annèe, bouénne annèe!"

Julia fand nicht, dass es gut anfing, dieses neue Jahr. Schlechte Nachrichten folgten sich Schlag auf Schlag, und da Mr. Leslie sich nicht getraute, die politische Lage mit seiner hochschwangeren Frau zu besprechen, wandte er sich mit seinen diesbezüglichen Sorgen an sein Hauspersonal. Im Februar verkündete der deutsche Kaiser, seine U-Bootflotte würde wieder jede Schonung ziviler Schiffe fallen lassen, was Präsident Wilson zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland bewog. Kurz darauf brach in Russland die Revolution aus, der Zar musste abdanken und es bildete sich eine provisorische Regierung, die mit dem Parlament sowie den streikenden Arbeitern und Soldaten zusammenarbeiten wollte. Anfangs März schliesslich veröffentlichte die New York Times den Inhalt eines Telegramms vom deutschen Staatssekretär des Auswärtigen Amtes an den deutschen Gesandten in Mexiko. Das verschlüsselte Schreiben war vom britischen Geheimdienst entziffert worden und schockierte die amerikanische Öffentlichkeit durch seine Dreistheit. Deutschland rechnete, unter anderem wegen seines unbeschränkten U-Bootkrieges, mit dem sicheren Eintritt der USA in den Krieg. Man bat Mexiko um Unterstützung bei einem kommenden Krieg mit den Vereinigten Staaten, und versprach als Gegenleistung die Unterstützung bei der Rückeroberung der an Nordamerika verlorenen Gebiete in Neumexiko, Texas und Arizona.
"Unverschämt! Das ist ein Kriegsgrund!", rief Mrs. Leslie aus. Und so war es auch. Am sechsten April erklärten die USA Deutschland den Krieg. Was das bedeutete, konnte Julia genauso wenig einschätzen wie alle die Menschen, die sie danach fragte.

Anfangs April kam es zu einem fürchterlichen Temeratursturz an der Ostküste Nordamerikas. Eine Kaltfront drückte, vom nordöstlichen Atlantik her kommend, die warme Luft vom Boden weg nach oben und liess die Thermometer um fast vierzig Grad Fahrenheit abstürzen. Es kam zu Gewittern, und am Neunten blieb nach einem Blizzard eine Schneedecke von einem halben Fuss über New York und New Jersey liegen. Am Tag darauf gab es Nachwuchs im Hause Leslie. Rhoda Leslie kam als kerngesundes Mädchen zur Welt. Sie war zwanzig Zoll lang und sechseinhalb Pfund schwer, völlig normal nach Julias Umrechnung. Was es bedeutete, für zwei kleine Kinder verantwortlich zu sein, sollte sie bald erfahren.

1 Kommentar:

  1. Ich fiebere mit - wenn sich letzt nur keine Grippe-Pandemie im Jura und in Riehen festkrallt ...

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