Montag, 19. Juli 2021

I vôs sailue Mairie

Sie kam nicht dahinter, was genau der Grund war für Mr. Leslies Ablehnung des breastfeeding – was für ein Wort! – bei seiner Tochter Rhoda. Er begründete es mit gesundheitlichen Überlegungen zugunsten von Mutter und Kind, die einer näheren Prüfung aber selbst durch sie, die sich ja kaum auskannte, nicht standhielten. Es passte ihm nicht, wie seine Frau sich so exklusiv mit dem Baby befasste, ihm körperlich so viel näher war als ihrem Ehemann in dieser Zeit, so ihre Vermutung. Ausserdem wurde er in seinem Schlaf gestört, wenn die Kleine alle zwei Stunden gefüttert werden musste in der Nacht. Meist waren dabei noch die Windeln zu wechseln. Kam hinzu, dass seine Frau am Anfang nicht in der Lage war, diese mütterlichen Verrichtungen alleine zu bewältigen, was zur Folge hatte, dass sie, Julia, jeweils mit dem frisch gewickelten Baby das elterliche Schlafzimmer betreten und die kleine Rhoda ihrer Mutter an die Brust legen musste. Er empfand dies – wie sie meinte, mit Recht – als Einbruch in seine private Sphäre. Schliesslich lief es auf einen als vorübergehend bezeichneten Versuch mit getrennten Schlafzimmern der Eheleute hinaus, was Mr. Leslie brummend hinnahm. Rhoda hatte man von der Geburt an in Julias Zimmer untergebracht, in einer sehr hübschen, neu angeschafften Wiege. Das kleine Mädchen bestimmte ihren Schlafrhythmus vollkommen, und da sie nur kurze Phasen tiefen Schlafs zuliess, war Julia am Tage immer müde. Wenn George im Kindergarten war, spielte dies keine grosse Rolle. Sobald er aber nachhause kam, brauchte sie alle ihre Kraft, um freundlich und geduldig mit ihm umzugehen, denn auch der junge Herr litt unter der Vorherrschaft des Neuankömmlings, dieses kleinen Monstrums, um das sich auf einmal die ganze Welt drehte. Es nützte nichts, ihm die Vorteile seines Gross-Seins auszumalen, ihm aufzuzählen, zu was er, im Gegensatz zu seiner Schwester, schon alles fähig sei. Er durchschaute das Prinzip, das ihr zu unbegrenzter Macht zu verhelfen schien: Kleinheit und Hilflosigkeit. Also wollte er auch wieder so sein. Man konnte förmlich zusehen, wie er sich rückwärts ins Kleinkinddasein verkroch, Errungenschaften und Fertigkeiten aufgebend, die er schon ganz sicher und selbstverständlich beherrscht hatte. Er machte wieder in die Hosen, sprach wie ein Baby, hatte Angst vor allem und jedem, und verschmähte beim Essen fast alles, was man ihm anbot. Er brachte den Vater zu Tobsuchtsanfällen, und auch Julia fand es manchmal zum Verzweifeln. Sie kam an ihre Grenzen und suchte Trost im Gebet.

Einmal war ihr die Hand ausgerutscht, als sie George schon zweimal frisch hatte anziehen müssen, weil er sich voll gekackt hatte, und dann beim darauf folgenden Essen sein Gemüse ausspuckte, ihr mitten ins Gesicht. Sie hatte nicht fest zugeschlagen, es war eher ein Klaps gewesen, aber er schrie wie am Spiess und hatte eine rote Backe. Zum Glück war niemand in der Nähe gewesen, aber sie war furchtbar erschrocken über sich selbst. Wegen der Plötzlichkeit, mit der die Wut über ihre Ohnmacht sie überwältigt und zu dieser gewalttätigen Aktion getrieben hatte. Und sie machte sich Sorgen über die möglichen Folgen, wenn jemand davon erfahren hätte. Oder erfahren würde, denn das war das Schlimmste an dem Vorfall: sie traute sich selbst nicht mehr. Auch die Beichte, an einem der kommenden Sonntage, brachte nicht die erhoffte Entlastung. Sie war enttäuscht von dem Priester, der hinter seinem Gitter nur gedankenschwer mit dem Kopf gewackelt hatte, als hätte sie ein Verbrechen begangen. Kein Wort des Verständnisses oder gar des Trosts für ihre schwere Aufgabe, mit einem schreienden Baby und einem eifersüchtigen Buben fertig zu werden. Sie kaufte sich im Dorfladen ein paar kleine Blechrahmen mit Gläsern und packte die Sammlung ihrer Heiligenbildchen aus, zum ersten Mal, seit sie in Amerika war. Auf der Waschkommode installierte sie die Bilder um eine kleine Glasflasche in Form der Maria, gefüllt mit Wasser von Lourdes. Das Geschenk einer frommen Tante, Schwester ihrer Mutter, die einmal an den Wallfahrtsort am Fuss der Pyrenäen gepilgert war und ihr das magische Ding von dort mitgebracht hatte. Sie fand zuunterst in ihrem Koffer noch einen kleinen Strauss getrockneter Blumen, den sie in ein ein leeres, gewaschenes Saucenfläschchen aus der Küche steckte. Leider waren Kerzen im Zimmer strengstens verboten, aber der kleine Altar gefiel ihr auch so. Mathilde würde sie auslachen, wenn sie ihn sähe, aber das war ihr gleichgültig. Sie sprach zu Probe den Engelsgruss davor, auf Patois, wie sie ihn von Maman gelernt hatte.
"I vôs sailue Mairie, pieinne de graîce, le Bon Dûe ât daivô vôs.
Vôs étes b'nâchue entre tôtes lés fannes é Djésus, vôt afaint ât b'nâchu."

Und als sie damit fertig war, erzählte sie der Mutter Gottes von ihren Sorgen, nicht genügend Geduld aufzubringen für George den Dritten, der so litt unter dem Zuwachs, den seine Familie bekommen hatte. Sie fragte sich, ob Maria sie verstehen würde, da sie Mutter eines Einzelkindes gewesen war. "Die Mutter Gottes weiss alles und sieht alles", hörte sie die Stimme von Maman aus ihrer Kindheit sagen. Das war beruhigend. Und es gelang ihr tatsächlich besser, mit dem Buben fertig zu werden. Sie konnte ihm klarmachen, dass das Baby sehr oft schlief, und er sie dann ganz alleine für sich hatte. Das schien ihm einzuleuchten. Er lernte zu warten und wurde dadurch belohnt, dass sie ihr Wort hielt. Allmählich verwandelte er sich wieder zum Grossen, der er gewesen war, ja er machte sogar einen richtigen Sprung in seiner Entwicklung, als es endlich wärmer wurde, und man wieder draussen sein konnte.

Es wurde nicht nur warm. Eine Hitzewelle suchte New York und New Jersey heim gegen Ende Juli, anfangs August, mit mehreren Tagen, an denen die Thermometer über hundert Grad Fahrenheit kletterten. Schlimmer war, dass sich die Luft in der Nacht nicht mehr richtig abkühlte. Julia war jetzt froh, nicht in der Stadt zu wohnen und arbeiten zu müssen. Aber auch in Short Hills war es fast unerträglich heiss. Mrs. Leslie war es sehr lästig, dass sie so schwitzte. Sie duschte mehrmals am Tag und wechselte dauernd ihre Kleidung, so dass die Wäscherin nun dreimal in der Woche im Haus war. Der Dienstherr kam abends immer nach Hause, weil es in seiner Stadtwohnung nicht auszuhalten war. Die Kleider klebten ihm am Körper und er roch ungewohnt nach Schweiss, wenn er zur Türe hereinkam, einen Whiskey mit Eis herunterstürzte und dann im Bad verschwand. Er war schlechter Laune. Aus dem Rasen ums Haus, einst sein Stolz, war eine braune, stoppelige Fläche geworden. Da er sich darüber mehr aufregte, als es dem Anlass angemessen war, vermutete Julia, auch die Börse entwickle sich zum Schlechten. Und die Kinder litten unter der Hitze. Nachts wälzten sie sich hin und her und klagten über Durst. George wollte nicht ohne seine Decke schlafen, so dass er mitten in der Nacht völlig verschwitzt aufwachte und Julia ihm nicht nur das Pyjama, sondern gleich die ganze Bettwäsche auswechseln musste. Auch die kleine Rhoda schwitzte tüchtig, vor allem am Köpfchen. Julia kühlte sie nach dem Stillen mit einem feuchten Waschtuch, auf das sie zwei Tropfen Kölnisch Wasser gab, damit das Kind nicht säuerlich roch. Da Mrs. Leslie in dieser Beziehung sehr empfindlich war, musste auch sie vermehrt auf ihre Sauberkeit achten. Sie hatte noch nie so oft geduscht und die Kleider gewechselt wie in diesen Tagen.

Die Strassenkinder der Stadt behalfen sich auf ihre eigene Weise, wie sie miterleben konnte, als sie für ein verlängertes Wochenende frei bekam und bei den Herrschaften ihrer Schwester an der Madison Avenue übernachten durfte. Obwohl es in den Strassenschluchten der City noch um einige Grade heisser war als in der Umgebung der Stadt, durchstreiften sie am Freitag Nachmittag ihre Lieblingsquartiere im unteren Manhattan, Greenwich Village, Soho, die Lower Eastside und die Chinesenstadt. Den Baynes hatten sie versichert, sich dabei vom Butler begleiten zu lassen, aber dieser hatte zum Glück anderes zu tun und liess die beiden Frauen gerne alleine ziehen, als sie bei der doppelstöckigen Station in der Bowery ankamen. Kaum waren sie die vielen Treppen hinuntergestiegen, bekamen sie nassen Füsse. Kinder hatten bei mehreren Hydranten den Hahn voll aufgedreht – weiss der Himmel, wo sie das Werkzeug dafür bekommen oder geklaut hatten – und veranstalteten auf den Trottoirs Wasserschlachten, indem sie die mit grossem Druck austretenden Strahlen mit vielerlei Hilfsmitteln ablenkten, teilten und in alle Richtungen verspritzen liessen. Die mutigsten stemmten ihre eigenen mageren Rippen gegen das Rohr, hielten sich mit beiden Händen am Rumpf des Hydranten fest und lenkten die Fluten durch Verdrehungen des Körpers in die Richtung ihrer kreischenden Kameraden. Viele hatten nichts mehr am Leib als ein Paar ausgeleierte Unterhosen, die Kleinsten waren nackt. Die Haare klebten ihnen im Gesicht, die Augen waren gerötet, die Lippen blau. Aber was für ein Glück, was für eine Ausgelassenheit! In Cornol hatten sie manchmal so gespielt im Dorfbach oder im Brunnen, aber was sie hier sahen, war um einiges wilder. Mathilde wurde zappelig. Die Kinder waren so laut, dass sie schreien musste.
"Ich würde mich am liebsten ausziehen und mitmachen!"
Julia packte ihre Schulter.
"Untersteh dich! Dann tue ich so, als würde ich dich nicht kennen!"
Sie lachten beide aus vollem Hals, die Fröhlichkeit der Kinder war so ansteckend. Sie sahen sich um und bemerkten jetzt, wie viele Schaulustige sich bereits, in sicherem Abstand, um die Wasserstellen versammelt hatten. Inzwischen trafen auch Polizisten und mehrere Feuerwehrleute ein, und man war gespannt, wie sie dem Treiben ein Ende setzen würden. Aber vielleicht hatten sie dazu keine Befehle, oder beschlossen von sich aus, die Kinder hätten bei der ungewöhnlichen Hitze das Recht, sich mit dem städtischen Wasser abzukühlen. Jedenfalls stellten sie sich in die Reihe der Zuschauenden und lachten mit, wenn die Knirpse ihre Kunststücke vollführten und es dabei besonders toll trieben. Als sie weiter gingen, wirkte Mathilde nachdenklich.
"Das fehlt mir, einmal richtig Dampf abzulassen. Ich kenne mich manchmal selbst nicht mehr, so brav bin ich geworden bei den alten Leutchen. Sie sind ja furchtbar lieb, aber so..." sie stockte.
"So ängstlich, so überaus korrekt und vorsichtig. Alles ist gedämpft, jeder Furz wird dreimal überlegt, bevor er hinausdarf. Eine gerunzelte Stirn bedeutet für sie schon, dass man gestritten hat. Wenn etwas zum Brüllen komisch ist, wird gelächelt und gehüstelt. Ha!"
Julia sah sie von der Seite her an.
"Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist für dich!"
"Das ist es ja, es ist nicht richtig schlimm, sie tun mir nichts zuleide, im Gegenteil! Aber manchmal bekomme ich Lust, irgendetwas zu zertrümmern, oder laut herumzuschreien. Oder zu lachen, nur schon zu lachen, wie wir es vorhin taten, warum denn nicht? Herrgott! – Und bei dir, wie läuft es da?"
Julia erzählte ihr von den Nöten der Buben, von Vater und Sohn Georges dem Zweiten und Dritten. Und von ihrer eigenen Müdigkeit, dem Versiegen ihrer Geduld. Obwohl sie meinte, Mathildes Reaktion voraussagen zu können, erzählte sie ihr auch von ihrem kleinen Hausaltar und den Gebeten zur Mutter Gottes von Lourdes. Zu ihrer Überraschung lachte sie die Schwester nicht aus, sondern legte ihr den Arm um die Schultern, schaute ihr in die Augen und zog sie dann zu sich.
"I vôs sailue Mairie...mhm? – Wir müssen aufeinander aufpassen, Julia. Jetzt, wo Alcide nicht mehr da ist. Versprich mir, dass du zu mir kommst, wenn es dir nicht gut geht! Und ich komme zu dir! Versprochen?"
Als Julia nickte, nahm sie ihren Arm zurück.
"So, und jetzt gehen wir zum Chinesen eine Nudelsuppe essen. Darauf freue ich mich seit Tagen!"

Von Mr. Bayne hatte Mathilde erfahren, es werde am Union Square ein grosses Schlachtschiff aus Holz aufgebaut, um Männer für die Kriegsmarine anzuwerben. Das wollten sie sehen, also stiegen sie auf dem Weg nach Hause dort aus. Das Schiff war schon von weitem zu sehen. Es war zwar noch eingerüstet und unzählige Arbeiter in Matrosenanzügen hämmerten und sägten eifrig daran herum. Aber die Kanonen und wuchtige Deckaufbauten verliehen dem Modell schon ein düster aggressives Aussehen. Es stand genau eingemittet auf der inneren Ellipse des Platzes, den Rasen würde man wieder ansähen müssen, er war komplett zertrampelt. Ringsherum am Eisengeländer sammelten sich die zahllosen Zuschauer, und erst als sich die beiden Schwestern dazwischen stellten, merkten sie, dass sie fast die einzigen Frauen waren, die sich für das Spektakel interessierten. Und es ging nicht lange, bis sie die ersten Sprüche zu hören bekamen.
"Na, ihr zwei Süssen, wollt ihr auch in die Navy?"
"Ich weiss nicht, ob es für Ladys passende Matrosenanzüge gibt."
Mathilde war sofort im Element, sie gab zurück, als ob sie beim Dorfbrunnen in Cornol in einen Pulk von Rotzlöffeln geraten wäre.
"Ich sehe hier keine Süssen, Sir, es sei denn, Sie zählen sich selber dazu. Aber ja, wir sind uns am Überlegen, ob wir nicht die Navy verstärken sollten. Ein paar Schweizer Frauen würden sie sicher nicht schwächen!"
Es gab grosses Gelächter um sie herum, und weitere Sprüche hin und her. Julia wurde es zuviel und sie zog Mathilde weiter zu einer Stelle am Geländer, wo weniger Männer standen. Sie wollte noch ein wenig schauen. USS Recruit sollte das Schiff getauft werden, man konnte den Schriftzug schon an verschiedenen Stellen lesen. Sie wusste kaum etwas über die Rekrutierung und Mobilisierung der Soldaten. Sie fragte die Schwester, ob sie Bescheid wisse.
"Ein wenig, ja. Mr. Bayne scheint es sehr zu beschäftigen, obwohl er zu alt ist für den Militärdienst. Mitte Mai wurde das Gesetz erlassen für die Mobilisierung, und anfangs Juni, ich glaube am fünften, war der erste Registration Day. Da mussten sich alle Männer zwischen einundzwanzig und dreissig einschreiben."
"Und alle müssen in den Krieg ziehen?"
"Nein, so viele brauchen sie gar nie, das ist ja ein riesiges Land. Es wird ausgelost, wer gehen muss."
"Was!? Das ist ja furchtbar! Stell dir vor, dein Sohn, oder dein Bruder, kommt ums Leben und es war reiner Zufall, dass er in den Krieg musste!"
"Quatsch! Es ist ja auch bei denen, die sich freiwillig melden und dann umkommen, reiner Zufall! Wenn der Splitter einer Granate genau auf deinen Kopf zufliegt, oder ein Scharfschütze ausgerechnet in dem Moment in deine Richtung schaut, wo du die Nase aus dem Graben streckst, was ist das anderes als das Los? Zufall! Oder eben Schicksal! Oder der Wille Gottes, was weiss ich?
"Melden sich denn viele freiwillig?"
"Ich weiss es nicht. Aber sie machen grosse Anstrengungen zur Anwerbung. Es hängen ja jetzt überall diese Plakate mit dem Unkle Sam, der mit dem Finger auf einen zeigt: I want you for U. S. Army. Mit dem Hinweis, man solle sich bei der nächsten Rekrutierungsstelle melden. Und dies hier wird ja auch einiges kosten. Ich denke schon, dass das seine Wirkung tut. Will sich dein Dienstherr nicht melden?"
"Nein. Er ist dreissig geworden im März und musste sich einschreiben, wurde aber noch nicht aufgeboten bis jetzt. Ich glaube er hat grosse Angst davor. Und erst seine Frau!"
Plötzlich kommt Julia ihr Bruder in den Sinn.
"Muss denn Alcide jetzt ins Militär, wenn er zu Hause ist?"
"Er meinte, nein. Er ist ja bei den Sanitätern, und da wurden nur wenige eingezogen bisher. Er hat die letzten Jahre immer Militärpflichtersatz bezahlt. Und vielleicht wird er nun ja ganz befreit wegen seinem Gehör, wer weiss."
"Und Baptiste?"
"Der steht an der Riehener Grenze, zusammen mit den Grenzsoldaten. Du hast ja die Postkarten gesehen, da ist alles voll Stacheldraht und Strassensperren. Aber ich glaube, dem liegt das. Wachsam sein, Verantwortung tragen. Pflicht halt!"
Sie lachen beide.

Ganz ernst wurde ihnen zumute am nächsten Tag, als sie wieder unterwegs waren in der Stadt und in einen riesigen Umzug der Schwarzen gerieten. Zwar hatten sie schon davon gehört und gelesen, dass die NAACP, zusammen mit den Kirchen und weiteren Organisationen, einen Marsch geplant hatte, mit dem gegen die wieder zunehmende Gewalt von Weissen gegen Schwarze protestiert werden sollte. Aber sie hatten gar nicht mehr daran gedacht, als die Menschen am Samstagmorgen begannen, zusammenzulaufen und sich entlang der Fifth Avenue an die Strassenränder zu stellen, fast wie am Nationalfeiertag oder zum St. Patricks Day. Zuerst hörten sie nur Trommelklänge, die kaum durch den Lärm der fröhlich samstäglich gelaunten Zuschauer zu dringen vermochten. Dann aber sah man in der Ferne den Zug herankommen, schwarz gekleidet die Männer, schneeweiss die Frauen und Kinder. Als die Menschen am Strassenrand, fast alles Weisse, realisierten, wie gigantisch der Umzug war, wurden sie still. Es kamen hunderte, ja tausende die breite Strasse herunter, in exakt ausgerichteten Reihen, sonntäglich gekleidet, und – das war das Verrückteste! – in vollkommenem Schweigen. Unbeweglich die schwarzen Gesichter unter den Schildern, die mitgetragen wurden, und die nun die Zuschauer zu lesen begannen.
ALL MEN ARE CREATED EQUAL
RACE PREJUDICE IS THE OFFSPRING OF IGNORANCE AND THE MOTHER OF LYNCHING
YOUR HANDS ARE FULL OF BLOOD
WE OWN 250'000 FARMS WITH 20'000'000 ACRES OF LAND WORTH § 500'000'000
PRAY FOR THE LADY MACBETHS OF EAST ST. LOUIS

Julia und Mathilde verstanden nicht alle Botschaften, und als sie werweissten, wer die Lady Macbeths sein könnten, wurde es ihnen von einem freundlichen älteren Herrn erklärt, der neben ihnen am Strassenrand stand. Es war so still, dass man fast nur das Füssetrappen der Protestierenden hörte. Also sprach der Mann nur leise.
"In East St. Louis brachen im Mai dieses Jahres Rassenunruhen aus. Der Auslöser war ein Streik der weissen Arbeiter der Aluminium Ore Company, bei dem die Besitzer schwarze Arbeiter anheuerten, um den Streik zu brechen."
Jetzt kam es Julia in den Sinn, dass Mr. Leslie davon gesprochen hatte. Der ältere Herr fuhr fort:
"Ende Mai gab es dann einen ersten Angriff von Weissen auf die Siedlungen der Schwarzen, wo ein paar Häuser angezündet wurden. Dem setzte der Gouverneur ein vorläufiges Ende, indem er die National Guard einsetzte. Bis anfangs Juli blieb es ruhig. Dann fuhren vier Weisse mit einem Ford Model T in die Siedlung der Schwarzen und feuerten wahllos auf Menschen. Ein gleiches Fahrzeug, aber mit anderen Leuten drin, unter anderem zwei Polizisten, kam später in das Quartier. Und weil die Schwarzen meinten, da sässen die Täter drin, begannen sie, auf das Auto zu schiessen, töteten einen der Beamten und verletzten den andern schwer. Dies wiederum löste ein schreckliches Massaker aus, bei dem die Weissen das Quartier der Schwarzen völlig zerstörten und weit über hundert schwarze Menschen umbrachten. Sechstausend wurden obdachlos."
Mathilde wollte wissen, was der Spruch mit den Lady Macbeths bedeute. Das sei doch eine Figur aus einem Theaterstück.
"Ja, das ist die böse Königin aus dem Drama von Shakespeare. Es hiess eben, dass die Frauen der Weissen eine schlimme Rolle gespielt hätten bei dem Morden. Dass sie ihre Männer dazu angestachelt hätten. Ich weiss nicht, ob das stimmt."
In dem Augenblick kam ein grosser Block von Frauen die Strasse herunter, von denen immer zwei ein weisses Plakat zwischen sich trugen. Die Flächen waren leer, kein Wort stand darauf, nichts wurde gezeigt.
"Schau mal, da müssen wir uns die Parolen selber ausdenken", sagte Julia leise zu ihrer Schwester.
"Oder die Bilder", sagte diese, und Julia bekam Gänsehaut.
Jetzt kamen Kinder, Mädchen, die von Kopf bis Fuss weiss gekleidet waren und sich an den Händen hielten. Ihr Schweigen wirkte besonders drückend.
"Ob die wohl alle wissen, worum es hier geht?", fragte sich Mathilde.
"Die ganz Kleinen da sicher nicht. Schau mal, die werden von ihren Lehrerinnen und Gouvernanten an die Hand genommen."
Manche der Umstehenden fanden die Kinder süss, andere meinten, die armen Kleinen würden missbraucht für die Politik der Erwachsenen. Auch sonst gab es Murren bei den Zuschauern, besonders, als eine Reihe von schwarzen Männern vorbeischritt, von denen jeder eine grosse amerikanische Fahne trug.
"Was machen die hier? Die wären besser in Europa drüben, das würde Amerika mehr bringen!", rief einer halblaut.
Julia und Mathilde wurde es unwohl in dieser Umgebung. Sie machten sich auf den Weg zur nächsten Metrostation, schweigend.

Der späte Herbst in Short Hills war Julias Lieblingszeit. Die grosse Hitze des Sommers war schon vergessen, auch die damit verbundenen heftigen Gewitter. Der Übergang zum Herbst erfolgte fast unmerklich, bis im Oktober ein paar Frostnächte die Verfärbung der Blätter auslösten. Dann rollten grosse Massen warmer Luft an aus dem Süden, die Atlantikküste hinauf nach Neuengland, und bildeten ein über Wochen stabiles Hochdruckgebiet. Sie liebte die Farben der Bäume, das blasse Blau des wolkenlosen Himmels, die kühlen Nächte und das Zauberwort, das all dies zusammenfasste: Indian summer. George brachte vom Kindergarten einen auf Papier aufgeklebten Kreis aus Ahornblättern mit, deren Farben sich ringsherum von Grün über Gelb und Orange zu einem intensiven Rot verwandelten. Julia war hingerissen und wollte auch so einen haben. Der Bub half ihr, passende Blätter zu suchen und zusammenzustellen, mit grossem Ernst und stolz darüber, ihr etwas zeigen zu können. Den fertigen Kreis klebte sie auf einen Pappdeckel und stellte ihn auf ihre Waschkommode zu den Heiligenbildchen, der Madonna aus Glas und einem erst neulich dazugekommenen Porträt des Papstes Benedikt, den sie seit seinem Friedensvorschlag vom August mit besonderem Nachdruck in ihre Gebete einschloss. Ihre Bewunderung für Benedikt war mit einem gewissen Trotz gegen ihre Maman verbunden, welche, als Anhängerin des ultramontanisme, dem verstorbenen, antimodernistischen Pius nachtrauerte und nichts vom "Friedenspapst" hielt. Sie stand vor ihrer Andachtsecke, rückte da etwas zurecht, wischte dort mit dem Finger eine Staubfussel weg. Ging, nach einem kurzen Gebet, zu ihrem Nachttischchen, wo ein Umschlag an die Lampe angelehnt stand, mit mehreren Briefen darin. Sie zog den ihres ältesten Bruders heraus, in dem er von der bevorstehenden Geburt seines zweiten Kindes schrieb, und von seinem Dienst an der Grenze. Der Ton des Schreibens war förmlich wie immer, und sie versuchte zwischen den Zeilen herauszulesen, ob es Baptiste und seiner jungen Familie gut gehe.
"Hoffentlich!", sagte sie laut.

Ihr zweiter Neffe, Pierre, kam anfangs November zur Welt. Am siebten Dezember erklärten die Vereinigten Staaten auch noch Österreich-Ungarn den Krieg. Die Friedensvorschläge von Papst Benedikt waren von allen Seiten abgelehnt worden. Julias Gebete hatten nichts genützt. Und es brach der Winter erneut mit eisiger Härte über die Westküste herein. Mr. Leslie konnte mehrere Tage lang nicht in die City zur Arbeit fahren, und in Short Hills kam man am Morgen nur aus dem Haus, nachdem Butler und Chauffeur kräftig Schnee geschaufelt hatten. Der Hafen von New York füllte sich mit Eisschollen, die schliesslich zu einer geschlossenen Decke zusammenfroren und alle Schiffe blockierten. Die Schienenwege des Landes wurden von Schneeverwehungen zugedeckt, so dass in kurzer Zeit die Versorgung mit Kohle und Öl zusammenbrach. Für die Alliierten in Europa spitzte sich die Lage zu, weil auch für sie der Nachschub an Treibstoff aus den USA unterbrochen wurde. Ausserdem hatten die Deutschen einen separaten Frieden mit Russland geschlossen, wodurch sie grosse Mengen an Soldaten, Waffen und Munition für den Kampf an der Westfront frei bekamen. Man las von Streiks in Deutschland und Österreich, die blutig niedergeschlagen wurden, aus Angst, die Revolution könnte sich vom Osten über ganz Europa ausbreiten. Die deutschen und auch die französischen Soldaten waren kriegsmüde und begannen sich gegen das Gemetzel aufzulehnen, es kam zu Trödeleien, Massenbesäufnissen und Befehlsverweigerungen. Wie zum Trotz begannen die Deutschen grosse Offensiven im Frühling und im Sommer, die erst im August von den Alliierten gestoppt werden konnten. Der gewichtige Anteil der amerikanischen Truppen an diesen Erfolgen wurde in den Zeitungen stolz gefeiert. Mr. Leslie schnitt die Artikel aus und sammelte sie in einer Mappe. Als er und seine Frau schon nicht mehr damit rechneten, wurde er in die Armee aufgeboten.

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