Mittwoch, 14. Juli 2021

Der Konvoi (Heimkehr)

Mit dem Pfeifen in seinem Ohr lernte er zu leben. Es war eigentlich immer da, aber er hörte oft nicht darauf. Wenn er sich bewegte und tätig war, in geräuschvollen Umgebungen, dachte er gar nicht daran und es drängte sich auch nicht in seine Aufmerksamkeit. Richtig laut wurde es, wenn er sich nach der Arbeit zur Ruhe legen wollte. Es war ein hohes Sirren, ähnlich dem Zirpen von Grillen im Sommer, aber ohne jeden Rhythmus, ein gleich bleibender Dauerton. Wenn er sich nicht damit beschäftigte und es ihm gelang, seine Gedanken auf anderes zu richten, vergass er es wieder. Schlimmer waren Anfälle von Druck auf einem Ohr, der sich zu diffusem, manchmal bösartigem Kopfschmerz ausweiten konnte. Und die Schwerhörigkeit setzte ihm zu. Für seine Arbeit als Diener war es fatal, dass sie vor allem menschliche Stimmen zu betreffen schien und sich am stärksten dann bemerkbar machte, wenn es galt, einen geäusserten Wunsch oder Befehl seines Dienstherrn aus einem Durcheinander von Stimmen und Geräuschen herauszuhören. Was oft der Fall war. So kam es immer wieder zu Missverständnissen, und um solchen vorzubeugen, fragte er dann nochmals nach, beides Umstände, die Mr. Rockefeller nicht von ihm gewohnt war und die ihm sicher unangenehm aufgefallen waren. Da Alcide wusste, dass der Dienstherr einen solchen Missstand nicht lange würde anstehen lassen, wollte er einer beschämenden Konfrontation zuvorkommen und meldete sich bei ihm für ein Gespräch an. Er bekam sofort einen Termin für den nächsten Tag.

Er hatte Heimweh nach dem Frühling in Cornol. Jetzt, anfangs April, war es dort sicher schon warm den Tag über. Er stellte sich das frische Grün vor, mit dem die Junggräser und der Winterweizen die Felder und Wiesen überzogen. Zwar kannte man in seiner alten Heimat auch die Enttäuschung später Wintereinbrüche, aber so harsch wie hier, und innerhalb so kurzer Zeit, fielen die Temperaturen im Jura nie. Er stand am Fenster seines Zimmers und schaute hinaus in die frühe Dämmerung. Der Schnee des Sturms in der letzten Nacht war zwar schon wieder verschwunden, aber die wenigen Menschen auf der Strasse hielten ihre Köpfe gesenkt und die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Es war kalt, und wer unterwegs war, bemühte sich, rasch nach Hause zu gelangen. Er würde seinem Dienstherrn die Kündigung anbieten morgen. Zwar fuhr Fiona nun doch nicht schon in den nächsten Tagen nach Irland zurück, weil die Reederei des Schiffs, mit dem sie hatte reisen wollen, sofort alle Überfahrten absagte, als die Deutschen die Wiederaufnahme des unbegrenzten U-Bootkrieges angekündigt hatten. Nun musste sie nach einer anderen Möglichkeit suchen, vielleicht mit einem Truppentransport mitreisen, jetzt, wo die USA in den Krieg eingetreten waren. Dasselbe würde auch für ihn gelten, falls er sich entschliessen sollte, bald nachhause zurückzukehren. Und das wollte er ja, sein Dasein als Diener beenden und wieder Bauer sein. Das Nachlassen seines Gehörs erschien ihm wie ein Wink. Zudem meldete sich die Tuberkulose von Papa wieder mit blutigen Hustenanfällen zurück. Ihm kam eine Stelle aus dem Ecclesiastes in den Sinn, eines der wenigen Bibelzitate seiner Mutter, das er immer gerne gehört hatte:
"Il y a un temps fixé pour tout, un temps pour toute chose sous le ciel..."
Sein Herz zog sich zusammen, wenn er an Fiona dachte. Sie würden beide Trost brauchen in der kommenden Zeit.

Alcide wurde von seinem Dienstherrn in dessen Büro im Erdgeschoss empfangen.
"Nehmen Sie doch bitte Platz, Chiquet", sagte er, während er noch einen Stapel Papiere zur Seite legte, dann die Bügel seiner randlose Brille sorgfältig von den Ohren löste und in einem Lederetui versorgte.
"Worum geht es? Wollen Sie uns verlassen?"
Alcide war auf diese direkte Frage nicht gefasst und musste zuerst überlegen, womit er beginnen sollte. Mr. Rockefeller wartete geduldig, bis er anfing zu sprechen.
"Wie Sie sicher bemerkt haben, Sir, habe ich seit einiger Zeit Mühe, Sie und andere Menschen zu verstehen. Dies liegt nicht an der amerikanischen Sprache, die mir ja längst nicht mehr fremd ist, sondern an meinem Gehör, das sich leider laufend verschlechtert hat in den letzten Monaten. Ich war einmal bei einem Arzt deswegen, einem Spezialisten, der mir empfohlen wurde. Aber er meinte, die Medizin könne hier nicht helfen. Es sei nur zu hoffen, die Schwerhörigkeit stabilisiere sich, oder schreite wenigstens nicht schnell fort."
Mr. Rockefeller hörte aufmerksam zu. In der ihm eigenen Weise hatte er leise mit dem Kopf genickt, während Alcide sprach. Als dieser eine Pause machte, sagte er:
"Das tut mir sehr leid, Chiquet. Ich hatte Ihre Verständnisprobleme bemerkt, ja, habe es aber einer vorübergehenden Zerstreutheit zugeschoben. Ich dachte dabei an persönliche oder familiäre Probleme, die Sie vielleicht beschäftigen. Ich wollte Sie deswegen zur Rede stellen, und ich muss sagen, ich bin sehr froh darüber, dass Sie mir zuvorgekommen sind. Es ist nun einmal so, dass ich bei den Angestellten in meiner nächsten Umgebung auf eine möglichst reibungslose Verständigung angewiesen bin. Das werden Sie sicher verstehen."
Alcide wartete wieder mit seiner Antwort. Natürlich verstand er, aber es kränkte ihn, wie der Dienstherr ihn mit ein paar Worten abschrieb und darauf zielte, die Aufhebung des Dienstverhältnisses von seinem Angestellten vorgeschlagen zu bekommen. Er wollte kündigen, aber seine Schwerhörigkeit war nicht der Grund, jedenfalls nicht der hauptsächliche.
"Ich werde in die Schweiz zurückkehren und bitte deshalb um meine Entlassung, Sir. Meine Eltern brauchen meine Unterstützung. Ich werde wieder als Bauer arbeiten."
Und in einer leisen Anwandlung von Trotz fügte er hinzu:
"Den Menschen im Dorf und den Kühen macht es nichts aus, wenn ich nicht so gut höre, Sir."
Der Dienstherr lachte.
"Na, na, seien Sie nicht gleich eingeschnappt, Chiquet. Schauen Sie, ich war immer sehr zufrieden mit Ihnen, und ich meine auch, es Ihnen, wenn nicht immer gesagt, so doch oft gezeigt zu haben. Ich werde Ihnen Ihre Leistungen auch gerne in einem Arbeitszeugnis bescheinigen. Vielleicht brauchen Sie ein solches Papier aber nicht mehr, wenn Sie wirklich, wie Sie sagen, zurück in die Landwirtschaft wechseln. Sie werden jedenfalls den Lohn für diesen und nächsten Monat bekommen, und ich werde Ihnen Ihre guten Dienste gerne auch durch einen zusätzlichen Bonus verdanken. Wann werden Sie fahren? Und vor allem wie? Der normale transatlantische Verkehr ist ja praktisch zum Erliegen gekommen. Haben Sie schon einen Plan?"
Alcide verneinte. Er erzählte von der Absage der Reederei, mit der Fiona hatte fahren wollen, und davon, dass sie von einer Möglichkeit gehört habe, in einem Verbund von Schiffen mitzureisen, zu dem Truppentransporter, bewaffnete Handelsschiffe und, als schützende Begleitung, Kriegsschiffe gehören sollten.
"Ich frage Sie jetzt nicht, woher Ihre Freundin diese Informationen hat. Soviel ich weiss, sollte dieser Plan, der übrigens von der Bundesregierung vorbereitet wird, nicht öffentlich werden. Ich habe davon erfahren, weil wir, das heisst die Standard Oil Company, angefragt wurden, ob wir die Tanker des Konvois mit Brennstoff versorgen könnten. Es wird nicht viele Plätze geben für zivile Personen, aber ich werde sehen, ob ich etwas für Sie tun kann. Das würde dann eine Überfahrt in etwa zwei Monaten bedeuten. Dann hat meine Frau auch Zeit, Ihnen nochmals ein Paket mit Kleidungsstücken zusammenzustellen."
Alcide bedankte sich höflich für die Angebote. Ein Arbeitszeugnis brauche er nicht. Er werde sich bemühen, bis zum Tag der Abreise seinen Dienst so gut zu erfüllen wie es ihm unter den gegebenen Umständen möglich sei. Mr. Rockefeller machte eine beschwichtigende Handbewegung.
"Ja, ja, aber lassen Sie es ruhig angehen, überanstrengen Sie sich nicht. Die Stiftung, die mein Vater zu Ehren meiner Mutter eingerichtet hat, fördert medizinische Forschung, wie Sie wissen. Ich habe in diesem Zusammenhang vor kurzer Zeit etwas gelesen über sudden hearing loss. Ihr Doktor kann nicht helfen, weil man schlicht nichts darüber weiss bis jetzt. Ausser einem: Sorgen und lang anhaltende Überanstrengung scheinen schlecht zu sein für das Gehör. Und der Krieg, natürlich."
Mr. Rockefeller erhob sich, zum Zeichen, dass damit die Unterredung beendet sei. Auch Alcide stand auf. Auf dem Weg zur Tür entschied er sich zu der Frage, die ihn seit der ersten Begegnung mit Mr. Rockefeller beschäftigt hatte.
"Darf ich Sie noch etwas fragen, Sir?"
"Nur zu!"
"Bevor Sie 1913 über Mr. Jacquelin an mich herantraten mit dem Angebot, bei Ihnen als Kammerdiener zu arbeiten, hatten Sie mich einmal gesehen in Ihrem Büro. Das war ein Treffen mit Mr. McCurdy, damals noch in der Nummer dreizehn, an dieser Strasse."
"Ich erinnere mich, ja. Und?"
"Warum ich, Sir, wenn ich das fragen darf? Was hat Sie dazu bewogen, sich zwei Jahre später an mich zu erinnern, und mir dieses ausserordentliche Angebot zu machen?"
Mr. Rockefeller schaute Alcide forschend in die Augen. Er überlegte, ob er auf die Frage antworten sollte, das war deutlich zu sehen. Schliesslich nannte er einen Namen, den Alcide nicht kannte.
"Harry Moore."
"Verzeihung?"
"Harry Moore, mein Freund in der Kinderzeit. Der Sohn des Gärtners. Sie erinnerten mich an ihn, tun es immer noch."
Er wandte sich unvermittelt um und ging zu seinem Schreibtisch. Ohne nochmals aufzusehen, sagte er:
"Wegen Ihrer Reise werde ich auf Sie zukommen. Wir sehen uns heute Abend."

Am Morgen des 14. Juni musste er mitten in der Nacht aufstehen. Der Kutscher des Pferdewagens, den er am Vorabend bestellt hatte und der ihn zur Fähre bringen sollte, wartete bereits am Strassenrand gegenüber der Stadtvilla. Er musste ihn auffordern, ihm mit den Gepäckstücken zu helfen. Es waren mehr als damals vor zehn Jahren, als er in Manhattan angekommen war. Als er ein letztes Mal zur Haustüre zurückging, um noch eine kleinere Tasche zu holen, stand die Köchin auf der Treppe. Sie breitete die Arme aus und man umarmte sich. Sie roch wie immer nach Küche.
"Pass gut auf dich auf. Und gute Reise! Lasst euch nicht erwischen von den Deutschen!"
Alcide bedankte sich bei ihr für die Gastfreundschaft, mit der sie ihn immer willkommen geheissen hatte in ihrem Reich. Als er auf die Strasse trat, drehte er sich nochmals um und winkte.
"Und grüsse die Kinder nochmals von mir!"
Miss Villeni stand noch in der Tür und winkte, als sie um die Ecke in die Sixth Avenue einbogen. Es war die ruhigste Stunde der Riesenstadt, man sah kaum Menschen auf den Strassen, dafür waren überraschend viele Tiere unterwegs. Katzen vor allem, aber auch ganze Rudel fetter Ratten, und er sah sogar zwei Kojoten, die ihre Nasen in einem Abfallhaufen vergraben hatten und kaum von ihnen Notiz nahmen, als sie vorbeifuhren. Bei der Fährstation bezahlte er den Kutscher und sah sich nach einem Gepäckträger um. Die Fähre zu den Piers von Hoboken war schon da, er hatte aber Zeit, sein Gepäck in Ruhe mit einem Handkarren an Bord bringen zu lassen. Es würde alles anders sein bei dieser Heimreise, deshalb wollte er lieber zu früh bei seinem Schiff sein. Er hatte durch Mr. Rockefellers Vermittlung spezielle Papiere erhalten, mit denen er sich auf der "Antilles" melden sollte, einem zum Truppentransporter umgebauten Dampfer, der ursprünglich auf dem Pazifik unterwegs gewesen war. Soviel er verstanden hatte, war das Schiff mit mehreren Kanonen und einem Tarnanstrich ausgerüstet worden und sollte mit der zweiten von vier Gruppen in dem Konvoi nach Frankreich fahren. Alcide wusste nicht einmal, in welchem Hafen sie landen würden. Auf seinen Papieren stand Brest, aber er hatte gehört, dass diese Zielangabe eine Finte war, um die Deutschen in die Irre zu führen. Die Gruppe, zu der er gehörte, legte aus Platzgründen von Hoboken ab. Es sollten immerhin gegen dreissig Schiffe innerhalb weniger Stunden New York verlassen und sich zu einem sorgfältig gestaffelten Verband zusammenschliessen. Der Hauptzweck der Unternehmung war es, vierzehntausend Soldaten und Marinesoldaten sicher nach Frankreich zu bringen, zur Unterstützung vor allem der französischen Truppen, die den Krieg satt hatten und zu meutern begannen. Für Reisende wie er gab es auf den Transportern nur wenig Platz. Trotzdem war es Fiona noch vor ihm gelungen, in einem der Schiffe des Konvois unterzukommen, in der dritten Gruppe, die zwei Stunden nach der zweiten ablegen sollte. Sie hatten sich vor zwei Tagen voneinander verabschiedet, er versuchte, nicht dauernd daran zu denken.

Als die "Antilles" kurz nach sieben Uhr vom Pier ablegte, sass Alcide eingeklemmt zwischen zwei Soldaten unter einem Kanonenrohr und liess seine Beine über die Bordwand baumeln. Das Schiff war nicht gross, und schien ihm völlig überfüllt. Weil alle nochmals einen Blick auf Manhattan werfen wollten, als sie vorbei glitten, und sich deshalb dicht an dicht alle auf die Backbordseite drängten, hatte das Schiff leichte Schlagseite. Alcide sah hinüber zu einem der Rettungsboote und hoffte, dass sie es nicht brauchen würden. Er war sicher, dass die Boote nicht für alle an Bord ausreichen würden, aber es waren nun einmal besondere Umstände, und so verscheuchte er solche Gedanken. Die jungen Männer in Uniform waren bester Lauen, wie es schien. Viele zogen ihre Filzhüte vom Kopf und schwenkten sie ausgelassen, brüllten dazu Abschiedsworte oder stimmten Soldatenlieder an. Nun hörte man auch Gesang und Rufe von zwei anderen Schiffen, die mit ihnen den Hudson hinunter fuhren. Auf der Höhe der Battery schlossen sich ihnen mehrere Kriegsschiffe an, die vom Navy Yard Basin her kommend die Mündung des East River verliessen. Manche von ihnen waren mit grotesken, zackigen Flächen aus weisser und sehr dunkler blauer Farbe bemalt. Viele strotzten von Kanonenrohren in verschiedenen Dicken und Längen, manche trugen sehr hohe Türme aus feinen Stahlträgern, mit einer Plattform oben drauf.
"Vorn dort oben kann man die Blasenspur der Torpedos rechtzeitig sehen", erklärte ihm einer der Marines neben ihm. "Dann muss man aber blitzartig die Richtung ändern, sonst knallt's".
Es wurde nochmals laut, als die Freiheitsstatue näher kam. Viele der jungen Soldaten standen stramm und salutierten beim Vorbeifahren. Die Sonne stand schon ziemlich hoch über der Silhouette von Brooklyn, es würde ein schöner Tag werden. Alcide stand auf und kletterte über ausgestreckte Beine, Rucksäcke, Feldflaschen und Helme in Richtung eines der Deckaufbauten. Als er durch die schmale Türe trat, fiel es ihm schwer, sich im Halbdunkel zurechtzufinden. Sein Quartier befand sich am Ende eines langen Ganges, ein Schlafraum mit etwa zwanzig Hängematten. Man hatte ihm einen kleinen Spind zugewiesen, in dem er das Nötige unterbringen konnte. Er hoffte, nichts vergessen zu haben, denn an sein Gepäck würde er bis zur Ankunft nicht mehr herankommen. Er war gespannt, wie es sich in der Matte schlafen liess. Am schwierigsten war es, hinein zu kommen ohne gleich wieder abgeworfen zu werden. Ein junger Marinesoldat, der neben ihm seine Sachen ordnete, hielt das störrische Ding fest für ihn. Dann, als er darin lag, erschien es ihm erstaunlich bequem.
"Du wirst sehen, wenn das Schiff schaukelt, sind die hammocks Gold wert. Da liegst du ganz ruhig und kannst schlafen wie ein Baby", erklärte ihm sein Nachbar. "Ich heisse übrigens Robert Willis, oder einfach Bob. Komme aus Wise, Virginia. Bin erst diesen Mai eingezogen worden, und jetzt geht's schon nach Frankreich. Und du, kehrst du in die Heimat zurück?

Den Zickzackkurs der Schiffe bemerkte man nur am Tag, Bob erklärte es ihm. Nach ein paar Tagen mit rauher See hatten sich ihnen mitten auf dem Ozean weitere Kriegsschiffe angeschlossen, flache, bösartig aussehende Zerstörer, die ihnen von Irland aus entgegen gefahren waren. Alle lachten über den Funkspruch, mit dem der Oberkommandierende des Konvois, Admiral Albert Gleaves, die Verstärkung begrüsst hatte: "Meine Herren, Sie sind zehn Minuten zu spät." Nun, auf der zweiten Hälfte der Überfahrt, würde man sich den Gewässern nähern, welche den ganzen Aufwand überhaupt rechtfertigten. Die Wachen auf den Beobachtungsplattformen wurden verstärkt und jede Stunde abgelöst, damit die Aufmerksamkeit lückenlos blieb. In der Nacht herrschte absolutes Verdunkelungsgebot. Auf ihrem Schiff gab es eine spezielle Gruppe von Marinesoldaten, welche vor Sonnenuntergang die Vorhänge jedes einzelnen Bullauges kontrollierten. Erlaubt waren nur Taschenlampen mit einer Blende, man legte sich also am besten alles, was man nachts brauchte, vor dem Eindunkeln zurecht. Der Funkverkehr wurde während der Nacht völlig eingestellt. Und auch am Tag koordinierte man die Manöver des speziellen Kurses, der ab jetzt gefahren wurde, nicht mehr mit Funksignalen, sondern mittels genau synchronisierter Uhren, welche die scharfen Schwenker aller Schiffe der Gruppe auf die Sekunde genau gleichzeitig auslösten. Zu Beginn war das eine grosse Attraktion, die von Deck aus mitverfolgt und bewundernd kommentiert wurde. Die "Antilles" legte sich in den engen Kurven deutlich schräg nach aussen, was man in der Hängematte aber zum Glück nicht spürte. Am Tag konnte man sehen, wie die Kielwasser der Schiffe ein Muster aus Rhomben ins Meer zeichneten. Oft drehten die nachfolgenden Schiffe wieder genau dort ab, wo der Vorgänger einen Winkel in seiner Spur hinterlassen hatte. Das sah schön aus, auch Alcide fand das, obwohl ihm die Reise immer unwirklicher vorkam. Unter der oft ausgelassenen Fröhlichkeit der jungen Soldaten spürte er die Angst, die sie teilten. Und am neunzehnten erfasste diese das ganze Schiff.

Grosses Geschrei vom Ausguck. Das breitet sich aus. Gerenne und Zusammenstösse in den Gängen, stolpernde Männer, die, schon im Lauf, ihre Arme in verdrehte Jackenärmel zu stossen versuchen. Oder auf einem Bein hüpfend mit der Gamasche am andern kämpfen. Helme, die scheppernd zu Boden fallen und, von Stiefeln getreten, weg schlittern. Flüche und Gejammer. Wohin? Was ist passiert? Werden wir torpediert? Draussen werden die Geschütze vom Gerümpel befreit und in Stellung gebracht. Alcide scheucht man zurück ins Quartier. Er habe draussen nichts verloren, stehe nur im Weg herum. Er hat Angst davor, jetzt unter Deck zu gehen und verdrückt sich in einer Nische, in der Nähe eines Rettungsbootes. Er kann von hier aus sehen, wie eines der Geschütze mit einer schweren Granate geladen und aufs Meer gerichtet wird, also hält er sich die Ohren zu. Der Schuss ist noch lauter als er gedacht hat, er spürt deutlich die Erschütterung des Rückstosses. In einiger Entfernung steigt eine Wassersäule hoch, ein dumpfer Knall folgt. Wieder Getrappel von Soldatenstiefeln, kurz gebellte Befehle. Das Schiff lehnt sich aus der Kurve. Dann, langsam, werden die Stimmen ruhiger, die Hektik weicht aus den Bewegungen. Man ruft sich Vermutungen zu, Fragen.
"Das war ein U-Boot!"
"Haben wir es getroffen?
"Nein, das war schon abgetaucht, aber sein Torpedo!"
"Und wenn es nur ein Wal war?"
"Was, spinnt ihr?"
"Doch es war ein Wal, wir haben den Blast gesehen, Torpedos blasen nicht!"
"Besser einmal zuviel geschossen!"
"Gott sei Dank, nichts passiert!"
"Der arme Wal!"
Grosse Erleichterung erfasst die Menschen an Bord, man umarmt sich, man lacht, man redet ohne Pause und Atemholen. Die Angst zieht sich für ein paar Stunden zurück, aber sie wird bald wiederkehren.

Die Reise dauerte. Obwohl die Schiffe jetzt mit Höchstgeschwindigkeit fuhren, war der Weg nach Frankreich wegen dem Zickzack, den sie vollführten, stark verlängert.
"Wie früher bei den Seglern, wenn sie kreuzen und halsen mussten", erklärte Bob.
Sie näherten sich der Küste, trafen da und dort auf Wracks. Am sechsundzwanzigsten hörten sie eine Explosion, die sich noch aus der Entfernung gewaltig anhörte. Eine Wasserbombe sagten die, welche sich auskannten. Am Abend wurde im Esssaal berichtet, was passiert war, von einem Unteroffizier. Ein Sieg! Der Zerstörer "Cummings" aus ihrer Gruppe hatte ein U-Boot gesichtet.
"Einen Wal!", rief einer dazwischen, was grosses Gelächter auslöste. Der junge Vorgesetzte wurde zornig, getraute sich aber vor der Menge im Raum nicht, den Spassvogel zur Rede zu stellen. Also erhob er seine Stimme über den Lärm und schrie: "Ruhe!" Jetzt wollte man doch wissen, was passiert war. Es wurde still und er konnte berichten. Das Periskop sei eindeutig zu sehen gewesen und man habe es auch einem deutschen U-Bootstyp zuordnen können. Die "Cummings" habe den Feind verfolgt und schliesslich eine Wasserbombe über seinem mutmasslichen Standort abgeladen. Der Kommandant habe behauptet, sie hätten danach schwimmende Trümmerteile gefunden, die auf einen Treffer schliessen liessen, aber diese Meldung habe sich nicht bestätigen lassen.

Die gefährlichste Passage der Reise kam zum Schluss, am Morgen des achtundzwanzigsten Juni, als sie ein neulich von einem deutschen U-Boot angelegtes Minenfeld durchqueren mussten. Inzwischen hatte Alcide erfahren, dass der Konvoi in St. Nazaire landen würde. Nachdem die Schiffe während der vergangenen zwei Tage unter Volldampf und in strenger Formation gefahren waren, verlangsamten sie nun vor der weiten Mündung der Loire auf Schritttempo und reihten sich in eine weit auseinander gezogene Einerkolonne ein.
"Ich bin froh, jetzt nicht auf dem vordersten Schiff zu sein", meinte Bob nachdenklich. "Ich hoffe, sie haben schon eine gute Karte der versenkten Minen."
Aber es ging alles gut. Als auf der Backbordseite die Hafenanlage sichtbar wurde, kam es zu ähnlichen Szenen wie bei der Abfahrt in Manhattan. Die Schiffe ihrer Gruppe fuhren nun nahe hintereinander. Auf den dem Ufer zugewandten Seiten drängten sich die Soldaten Kopf an Kopf. Sie sassen und standen in den Rettungsbooten, auf den Dächern der Deckaufbauten, hingen in Masten und Kränen. Arme und Hände, mit und ohne Hüte, wurden geschwenkt. Die Schiffe schienen von einer dicken lebendigen Kruste bedeckt, aus der sich ein vielstimmiges Geheul erhob. Alcide wurde es zu eng, und er verdrückte sich auf die Gegenseite, die sich entleert hatte. Stellte sich an die Reling und liess das weit entfernte Ufer an sich vorbeiziehen, Schilffelder und flache Sanddünen. Er wusste noch nicht, wie er von hier nach Cornol gelangen konnte. Vielleicht würde er einen Umweg über Südfrankreich machen müssen. Er begann sich auf die Heimat zu freuen, als er das Grün des Rietgrases sah. Wie ging es wohl den Pflanzen zuhause? Hatte es genug geregnet? Er sah auf seine Hände, betastete die weiche Haut der Innenflächen und die sauberen Fingernägel. Wie lange würde es gehen, bis sich wieder Schwielen bildeten und er keine Blasen mehr bekam? Er musste an die Hände seines Dienstherrn denken, die kräftiger gewesen waren, als man es auf Grund seiner Tätigkeiten hätte erwarten können. An die Sommersprossen und Pigmentflecken in seinem Gesicht, die auf allen offiziellen Bildern übermalt wurden, um eine glatte Maske zu erzeugen. Wie unwirklich ihm diese Welt vorkam, wie weit entfernt New York, jetzt schon!

Der Hafen und die weiter oben am Ufer der Loire neu gebauten Anlegestellen waren vollkommen in der Hand der amerikanischen Truppen. Einem Zivilisten wie Alcide kam es wie ein unübersehbares Tohuwabohu vor, was sich da abspielte. Die Ankunft der verbündeten Amerikaner hatte Schaulustige in grosse Zahl angelockt und die Armeepolizisten hatten alle Hände voll zu tun, sie hinter die Schranken zu verweisen, die überall aufgestellt waren. Auf den Piers stellten sich die Kompanien nach dem Aussteigen der Soldaten auf in Reih und Glied. Präsenz und persönliche Ausrüstung jedes Einzelnen wurde sorgfältig geprüft, bevor alle in die bereit stehenden Eisenbahnwagen stiegen und nach Nordosten in die neu erstellten Unterkünfte verfrachtet wurden. An diesen, und offenbar auch an den Bahnlinien, wurde noch immer gebaut, denn überall standen Armeelaster mit laufenden Motoren, beladen mit Schienen und Schwellen, mit Holzplatten, Stapeln von Zeltplanen und Stangen. Sie warteten geduldig darauf, sich durch die Menschenmenge einen Weg zu bahnen. Über den Uferstrassen lag ein bläulicher Nebel und es stank beissend nach Kohle und Benzin. Alcide war froh, sich von Fiona bereits in Amerika verabschiedet zu haben. Da sie solche und ähnliche Zustände am Ankunftsort erwartet hatten, war abgemacht, er solle nicht auf sie warten. Er suchte einen Gepäckträger mit Handkarren und liess sich von ihm zum Bahnhof führen. Wie er befürchtet hatte, musste er fürs Erste ein Billett in Richtung Süden, nach Bordeaux, kaufen. Dort solle er weiter schauen, wie er in die Schweiz gelangen könnte.

Richtig zuhause angekommen fühlte er sich, als er den Weg von Pruntrut nach Cornol unter die Füsse nahm. Diesen Marsch hatte er sich auf der endlosen Bahnfahrt durch die südlichen Provinzen Frankreichs vorgenommen. Sein Gepäck wurde einem Pferdelastwagen mitgegeben, der Kalksteine in das Städtchen gebracht und nun, um nicht leer in die Caquerelle zurückfahren zu müssen, allerlei Transportgüter eingesammelt hatte. Alcide schnitt sich einen kräftigen Haselstock, kaufte sich ein Pfund Brot und ein grosses Stück Jurakäse, und machte sich auf den Weg. Da bald Viehmarkt war in Pruntrut, kamen ihm immer wieder Bauern mit Kühen entgegen. Mit manchen kam er ins Gespräch, obwohl sie ihn zuerst schräg ansahen wegen seiner Kleider. Ah, ein Américain? Das erklärte alles, auch warum er manchmal nach einem Dialektwort suchen musste. Dass er etwas von Tieren verstand, merkten sie an seinem Blick und seinen Kommentaren. Das warme Gefühl, dazuzugehören, war überwältigend, viel stärker als bei den Zusammenkünften und Festen der Cornoler in New York. Je näher er dem Dorf kam, desto schneller schritt er aus, obwohl er müde war und schwitzte.

Als er die Hauptstrasse des Dorfes erreicht hatte, wurde er von einigen erkannt und begrüsst.
"Alcide! Bist du zurück?"
"Und die Schwestern?"
"Willkommen zuhause! Dein Gepäck ist schon hier."
"Trinkst du ein Glas mit uns? Ah, du warst noch gar nicht zuhause? Dann geh! Geh!"
Über den Bach hinweg sah er seine Mutter auf dem Bänklein sitzen, in der vertrauten Haltung, wenn sie an etwas herum schnippelte. Er stellte sich ans Geländer und rief hinüber. Sie blickte auf, legte das Messer beiseite. Stand auf, über ihr faltiges Gesicht huschte ein Strahlen. Wischte sich die Hände an der Schürze ab und verschwand in der Küche. Alcide trabte dem Garten entlang bis zur Weggabelung, bog in den Weg ein, der am Haus vorbeiführte. Da standen seine beiden Eltern schon vor der Türe und warteten auf ihn.

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