Montag, 27. April 2020

viele Dinge


Die Regalbretter waren eine Station; wenn Dinge dort landeten, waren sie aus dem Kreislauf herausgefallen und blieben liegen.
Karl Ove Knausgård, Kämpfen, S. 295

Das Buch von Knausgård hat mich nun über Wochen begleitet und beschäftigt. Ich hatte es auf Rat eines Freundes im Zusammenhang mit meinem autobiografischen Schreiben zu lesen begonnen. Nach meiner Meinung halten die verschiedenen Teile nicht zusammen, aber es gab viele Aspekte, die mich sehr beeindruckt haben, vor allem seine sehr ehrliche, trockene Art, über den Alltag zu schreiben, über die verschiedenen Ebenen der inneren und äusseren Realität, die sich im ganz normalen Leben parallel oder vermischt abwickeln, über die gleichzeitige Existenz der Körper, Seelen und Dinge, die zu all den Komplikationen führen, die wir jeden Tag erleben.

Um den Satz von den Landestationen in einem Haushalt, auf dem die Dinge aus dem Kreislauf herausfallen und liegenbleiben, beneide ich Knausgård. Auf norwegisch ist er womöglich noch trockener.

Ich bin in einem Haushalt aufgewachsen, in dem die Ordnung der Dinge sich wie Ebbe und Flut verhielt, naturhaft an- und abschwellend. Auf Fotos aus meiner frühen Kindheit sind die unteren Räume, das Ess- und das Wohnzimmer, noch relativ karg eingerichtet. Es gibt schöne Gegenstände, die genügend Raum um sich haben, einen alten Kasten und einen kasachischen Teppich, den die Eltern auf die Hochzeit geschenkt bekamen. Moderne Designstücke wie die schwarzen Ameisenstühle von Eames, eine Stehlampe, das modernistische Clubtischchen mit einem Steinmosaik, das der Vater gemacht hatte. Über die ganze Fensterfornt des Esszimmers zog sich die Werkbank, die auf drei Schubladenmöbeln ruhte. In den kleineren lagen die Goldschmiedewerkzeuge meines Vaters, die für uns Kinder lange Zeit tabu waren. In den breiten, flachen Schubladen hatte er Zeichnungen und Bilder versorgt. In zwei Regalmöbeln, die der Werkbank aufgesetzt waren, wurden Kunstbände und die Hefte der Kulturzeitschrift Du aufbewahrt. Darunter stand die Bernina-Nähmaschine in ihrem schweren Gehäuse. Wenn meine Mutter nähte, stellte sie die Maschine auf den Esstisch, und der leere Koffer wurde mir zu einem Parkhaus für die Dinky Toys-Autos. Als meine Mutter mit den Gesangsstunden begann, musste ein Klavier angeschafft und im Wohnzimmer untergebracht werden. Die neue Enge erforderte einen mehr pragmatische als ästhetische Aufstellung der Dinge, es kam das Cello dazu, das eine Zimmerecke besetzte. Die Sammelbegeisterung beider Eltern füllte die Regale über den Fenstern, Sammlungen brauchten Vitrinen, immer mehr Bilder zwangen zu unkonventionellen Hängungen. Meine Mutter hatte immer wieder Haushalthilfen, junge Frauen, welche eine Haushaltlehre machten und ihr Praktikum bei uns absolvierten. Oder eine Frau, die gegen Bezahlung die Wäsche bügelte. Sie war das so gewohnt aus ihrer Kindheit, und als sie wieder ausserhalb des Hauses zu arbeiten begann, ging es wohl nicht anders.

Manchmal wurde ein Teil unseres Hauses zum Atelier der Eltern. Im Keller hatte der Vater seine Werkstatt, in der er zum Beispiel seine Mosaiken machte. Oder die Treibhalbkugel mit dem Pech vorbereitete. Das Treiben und Zisellieren setzte er dann an der Werkbank fort, im Esszimmer. Einmal übernahm er vom Schwiegervater, der Zunftmeister bei den Webern war, einen grösseren Auftrag. Er sollte eine Silberplatte mit dem Wappentier der Zunft, mit dem Vogel Gryff, verzieren. Abend für Abend hörten wir vor dem Einschlafen das rhythmische Picken des Ziselierhammers, bis er einmal abrupt aufhörte und laut zu fluchen begann. Die Katastrophe war eingetreten, er hatte das Silber überstrapaziert und den Punzen hindurchgehauen. Es zeigte sich, dass er ein zu reines Silberblech gekauft hatte, und er musste von vorne beginnen. Der Schwiegervater bezahlte zum Glück das zweite Blech. Auch die Mutter nahm einmal das Esszimmer vollkommen in Beschlag wegen einem Auftrag. Für die St. Christophoruskirche in Kleinhüningen entwarf und gestaltete sie einen grossen textilen Wandbehang für das Weihnachtsfest. Den Entwurf vergrösserte sie mit einem Raster auf Papierbahnen, die auf dem Boden ausgelegt werden mussten und das ganze Zimmer füllten. Der Esstisch wurde vorübergehend ins Wohnzimmer verlegt, die entstehende Enge und die provisorische Lage aller Dinge im Haushalt liess die Ordnung schnell gänzlich erodieren. Wir lernten, uns im Chaos der Gegenstände und Abläufe einzurichten.

Wir hatte in unserem jetzigen Haus, das 1907 gebaut wurde, sehr lange Zeit nur eine Toilette, im ersten Stock. Im Parterre gab es links neben dem Eingang einen kleinen Durchgang zu Küche, einen winzigen Raum, der ursprünglich zwei Türen hatte, die wir aber sofort aushängten. Ich installierte in dem Raum ein sehr einfaches Regal, mit drei an einem Balken befestigten, quadratischen Regalbrettern. Wir nutzten den Raum und die Installation zur Unterbringung von Vorräten und Putzgeräten. Bald wurde es auch zu einer Station im Sinne des Satzes von Knausgård. Für Aussenstehende war die Ordnung, die wir in dem Sammelsurium durchaus noch sahen, unmöglich zu durchschauen. Aber es wurde auch uns manchmal zuviel, und bei Lebensmitteln wird das Vergessen bestraft durch Insekten, die sich einnisten und von der Station ausbreiten können. Immer wieder aufräumen, reduzieren, neu strukturieren half auf die Dauer nicht. Im Zuge einer Renovation der Küche wurden in den kleinen Raum eine Toilette und eine Dusche eingebaut. Ein Teil der vorher dort versorgten Dinge ist nun in der neu strukturierten Küche untergebracht, der selten gebrauchte Teil musste in den Keller umziehen. Wenn ich heute Fotos der Station anschaue, staune ich, wie wir mit dieser bunten, unübersichtlichen Fülle im Alltag klar kamen. Ein bisschen wehmütig macht es mich auch, denn es strahlt eine eigene, sehr menschliche Ästhetik aus.


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