Freitag, 3. April 2020

Geschichten vom Rhein 2


Gewild

Als Jörg Sigenmüller erwachte, wird der Esel, wie er seinen Weidling nannte, schon wild getanzt haben.

Obwohl ich dazu nochmals die Füsse in die festgeschraubten Schuhe schieben und mich mit schmerzenden Bauchmuskeln hochziehen muss, setze ich mich aufrecht und drehe den Kopf nach allen Seiten. Der Fluss glitzert in der Sonne des späten Mainachmittags, die Kräne bewegen sich nicht mehr. Keines der Schiffe an den Anlegestellen scheint sich zu einem Wendemanöver bereitmachen zu wollen. Ich nehme die Gummigriffe wieder in die linke Hand, um mich beim Hinlegen mit der rechten abstützen zu können.

Der wird wohl nicht einfach so schlafend auf den Laufen zugetrieben sein. Vielleicht wollte er sich etwas ausruhen im Uferschilf. Möglicherweise hat er zuvor sein Arbeitsgerät nach einem früh begonnenen Tag als Fährmann, Fischer, Flösserknecht und Lastenschlepper an eine der Kopfweiden oben am Giessen festgebunden, aus einem schmuddeligen Tuchfetzen ein halbes Brot und ein Stück Käse oder Speck gewickelt und sich den hungrigen Mund gestopft, dazu Wasser aus dem kleinen Fass am Bug getrunken. Zwei feurige Schlucke aus dem Tonfläschchen wurden bis zuletzt aufgespart. Dann konnte er sich gerade noch im Durcheinander aus Netzhaufen, Seilen, Lumpen und Weidenruten mit ein paar Fusstritten ein Nest wühlen, bevor er sich darauf warf und sogleich zu schnarchen begann.

Von Weitem schien der Weidling leer. Das zog zwei Jünglinge an, zwei Rotzlöffel von elf und dreizehn Jahren, die vom Rummelplatz beim Giessen kamen, auf der Suche nach etwas Essbarem. Als sie Jörgs Schnarchen hören, erkennen sie kichernd die Gelegenheit. Blitzschnell räumen sie die Reste des bescheidenen Mittagessens auf, lassen zwei Aale und einige Trüschen in die umgehängten Säcke gleiten, reissen sich prustend und hustend die Schnapsflasche aus den Fingern. Da jetzt Sigenmüller aus seinem Bleischlaf halb auftaucht und sich grunzend herumwirft, springen die zwei mit grossen Sätzen in verschiedene Richtungen davon, nur um bald wieder unter Geflüster zurückzukehren. Der Jüngere zieht den Weidling am Seil gegen das Ufer, worauf der Grössere die Schlinge mit einem Zwick über die Kopfweide schnellen lässt. Mit vereinter Kraft stemmen sie sich gegen den breiten Bug und beginnen ihn aus dem Schilf hinauszuschieben. Als ihm das Wasser bis zu den Rippen reicht, greift der Kleinere nach dem Ruder und wirft es hinaus in den Fluss. Sie geben dem trägen Fahrzeug einen Stoss und machen sich dann schnell aus dem Staub.

Ein Kind schlägt zuerst Alarm, und daraufhin legen mehrere Boote in wilder Hast vom Giessen ab. Man hat nicht viel Zeit, denn von hier aus kann man den Laufen schon wie ein fernes Gewitter hören. Es entsteht ein Geschrei, dass ein Mensch im Weidling liege. Für kurze Zeit gleicht das Ganze der Wettfahrt zum Maigericht, dann allerdings, als die Erlen am Ende der Schifflände erreicht sind, kehren die Ersten unverrichteter Dinge zum Ufer zurück. Einzig Kunz Regesser ist es gelungen, einen Punkt schräg unterhalb des Unglücksraben zu erreichen. Vom Ufer aus ist deutlich zu sehen, wie er die eiserne Fangkralle schwingt und Jörgs Weidling trifft. Mit einem kurzen Ruck stellt er sicher, dass sich die spitzen Widerhaken festbeissen, legt dann das Seil in seinem Bug zurecht, damit es sich beim Abhaspeln nicht verheddern kann. Er dreht bei und hält sofort mit kräftigen Ruderstössen auf einen Baum am Ufer zu. Dabei wird er von den inzwischen zahlreich zusammengeströmten Zuschauern lautstark angefeuert.

Da erwacht Jörg. Die Schreie der Leute am Ufer dringen durch das Gebrüll des näherkommenden Wildwassers an sein Ohr, in sein Gehirn. Er setzt sich auf und erfasst wie im Traum seine Lage: der nie gesehene Blickwinkel auf die Habsburg, das wilde Bocken des Esels, die Kralle in den splitternden Planken, die schreienden und winkenden Menschen auf der davongleitenden Rampe des Giessen. Jetzt rennen sie auch auf der Brücke hin und her. Er riecht schon die Gischt, hörte das drohend nahende Donnern und Rauschen. Er will fliehen, nicht den Nepomuk von unten sehen. Stemmt sich hoch, steht dann breit im Rumpf, die wilden Sprünge ausbalancierend. Als er begreift, dass sein Ruder verschwunden ist, packt ihn die Todesangst. Mit aufgerissenen Augen sieht er das Seil spritzend aus dem Wasser schnellen, ein gleissender Blitz schiesst von der Uferpappel aus geradewegs auf ihn zu. Er greift beidseitig nach den Bordwänden und lässt sich auf den Hosenboden fallen. Haut dazu einen Stiefel auf die Eisenkralle, drückt die Augen zu und erwartet den Ruck.

Von unten springts mich an. Die Augen, in die Augen grellhell, Schachtelteufel aus dem Bauch, die linke Hand am Gummi festgeschweisst. Nur Nachbilder auf der Retina. Regina, Rhenania, Realp. Schwägalp macht solche Wellen, noch im Hochrappeln bekomme ich nasse Schultern und Waden. Bilde mir ein, etwas gegen diesen Tanz tun zu müssen. Atme für zwei. Ich pumpe wie verrückt, obwohl dazu längst nicht so berechtigt wie der nachgeträumte Jörg damals, am 8. Mai 1549.

durch den louffen geflossen, einmal underganggen, danach als uff dem Weidling fürnider gerunnen, und im Gewild in der Netzy 2 mal underganggen und beyde mal lang unterm Wasser gewesen...Ist aber wider herfür khommen und hernach zuo Schäffigen gsund ohne alle Verletzung gelendet worden, und keine Stund darüber nie krank gewesen.

Die Wellen haben mich gegen die Uferböschung gespült, Heck und linkes Ruder sind unter die hängenden Zweige eines Baumes geraten. Ich befreie mich mit kleinen, vorsichtigen Bewegungen, bis die Strömung das Boot langsam hinausdreht.

Und nochmals konzentrieren jetzt, bald ist die Biegung vorbei, die Korrigiererei auch. Nochmals auf die Beine jetzt, tack, gleichzeitig packen das Wasser, sofort den Druck suchen. Suchen, finden ist schon zu langsam, explodieren im Einsatz, ein Satz, weg. Höhere Schlagzahl heisst Häufchen rechnen, immer zehn von sich weg schieben, sieben weg, acht. Und nochmals zehn, Steuermänner wollten immer nochmals zehn. Eins weg, zwei, und auf die Beine jetzt, und weg mit den Händen, den Schlag bis, sechs weg, sieben weg, bis zu den Knien denken, aber die sind auch schon. Weg, und tack weg. Blick zur Seite, sind wir schon, nein noch nicht, einfach durchatmen, es geht nicht mehr auf. Zurückschauen, aber nur mit halber Kopfdrehung, das reicht. Jetzt. Der Mohlenspitz. Nochmals zehn auf das Brett stemmen, jetzt läuft er, im Vorrollen etwas wie entspannen, um dann. Noch zehn Schläge, wie wenns um etwas ginge.







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