Samstag, 6. Februar 2021

Entreacte 1

Zweifelhaft wird die Geschichte von Longjules, wenn wir sie weiterspinnen, irgendwann zwi-schen dem Jahr 1907 und 1914 werden, sofern wir uns dann auf eine einzige Version festlegen wollen. Denn nach wie vor liegen uns, ausser der mündlichen Überlieferung und den Zeugenaussagen Verwandter über Kleidungsstücke mit einer Ettikette von John D. Rockefeller Junior, keinerlei Belege für eine Tätigkeit von Jules Chiquet als valet oder steward bei diesem Superreichen der damaligen Welt vor. Dagegen gibt es einen, nicht sehr belastbaren, Hinweis auf eine solche Tätigkeit bei einem reichen Treuhänder namens Robert Henry McCurdy, in Form der Adresse von dessen Stadtvilla in Manhattan, die Jules Chiquet bei seiner Einreise 1914 angab.

Nun wäre es schade, und man käme sich als Nacherfinder seiner Geschichte auch ein bisschen schäbig vor, wenn nur entlang von Indizien, die auch vor dem kritischen Urteil einer Historikerin Bestand haben, eine einzige Version konstruiert und gegen die Familiensaga durchgedrückt würde. Wir müssen also einen Weg finden, wie sich zumindest zwei mögliche Verläufe für diesen Lebensabschnitt unseres Gossonkels entwerfen lassen. Um weder uns selbst beim Erfinden und Schreiben zu sehr zu ermüden, noch die Leserinnen und Leser zu langweilen durch Wiederholungen und Überschneidungen, ist es wohl am besten, wenn wir nicht zwei vollständige Geschichten neben- oder hintereinander stellen, sondern eine Form suchen, die Brüche und Sprünge von einer zur anderen nicht nur zulässt, sondern eher fördert.

Die Form des ersten, fiktionalen Kapitels mit dem Titel "Aufbruch" verglich ein Leser mit einem Film. Wenn man den Text mit diesem Fokus nochmals duchliest, wird man vielleicht zustimmen und ergänzen: wie ein Film, wo der Protagonist sehr nahe mit der Handkamera verfolgt wird.

Stellen wir uns vor, man könnte bei der Geschichte, wie der Produzent oder Regisseur bei den Dreharbeiten eines Films, den Set beeinflussen. Ihn besuchen, dorthin anrufen, mit den Schauspielern, hier: mit den Figuren, reden, sie über ihre Erfahrungen ausfragen, ihnen Tipps geben, oder von ihnen Ratschläge entgegennehmen bezüglich des weiteren Verlaufs der Geschichte und ihrer Umsetzung. Nehmen wir weiter an, dass das Drehbuch, dank einer grosszügigen Produktionsfirma sowie eines dem Experimentieren nicht abgeneigten Regisseurs, noch nicht fertig geschrieben ist. Ein Videotelefonat, geführt nach Abschluss des ersten Kapitels, könnte dann etwa so aussehen.

Ich muss auf dem Set anrufen, nachfragen, ob es gut gelaufen ist. Ich ziehe mein speziell für diesen Zweck eingerichtetes, zweites Mobiltelefon heraus und tippe auf Jules Nummer. Das Gesicht einer mir unbekannten jungen Frau erscheint.
"Ah, hallo, ist das nicht Jules Handy, habe ich die falsche...?
"Nein, ist schon seines." Sie lacht. "Er sucht es gerade. – Ich gebe ihn dir."
Sein schmales Gesicht taucht auf. Etwas verwirrt, frage ich:
"Wer war denn das?"
"Die war bei den Leuten auf dem Dorfplatz, beim Abschied. Du hast sie dorthin bestellt."
Ich versuche, mir die Gesichter in Erinnerung zu rufen.
"Ah, gut. Weiss nicht mehr. - Wie ging's?"
"Das mit dem blind Laufen ging fast schief, war schwieriger als ich dachte."
"Aber das hattest du vorgeschlagen!"
"Ja, ich weiss. Es stimmte auch, ich war gleich drin in ihm. In der Figur, meine ich. Die Kühe waren süss, haben noch wie um Erlaubnis gefragt mit ihren Kulleraugen, bevor sie alleine weiterzogen, dort, wo ich anhalten und schwatzen musste."
"Und wie ging das mit diesen Dreien? Mit dem Dialog überhaupt, mit den Gesprächen?"
Jules hält den Kopf schief, schaut herum, dann wieder zu mir.
"Ja, nun, ein Teil ist ja notiert, ein paar Sätze haben wir noch kurz besprochen. Auch, wie rein der Patois sein sollte, die Jungen mischten das ja schon ziemlich mit Französisch, unter sich. Mit den Eltern und Grosseltern gaben sie sich mehr Mühe. Wir haben halt einiges improvisiert."
"Und sonst? Das Werkeln, wie du dem sagst?"
Er lacht.
"Das hatte ich geübt, lief super. Vielleicht werde ich noch Uhrmacher, oder sonst so ein Bastler. Die Paysans-Horlogers waren echte Nerds!"
Er macht eine Pause, will noch etwas sagen. Ich warte.
"Der Abschied, vor allem von Maman, war an der Grenze, finde ich. Ich weiss nicht, ob das nicht als Kitsch rüberkam. Aber auch für uns, ich meine, sie ist Profi, hat das mit dem kurzen Moment der Rührung so hingelegt, dass ich sie einfach auf diese Weise anfassen musste. Ich bin unsicher, ob er das so gemacht hätte. Vielleicht haben sie sich auch schlicht und spontan umarmt, mit Bisoubisou und allem. Waren ja Romands."
Wieder hält er seinen Kopf schief, zieht dann die Schultern hoch und lacht. Zeigt die oberen Zähne beim Lachen, wie Jules auf den Fotos.
"Also dann, sage ich salut. Bald gehts weiter. Bonne continuation!"
"Ja. Ah, Moment! Jetzt kommt ja die Zugreise, der kurze Flash von Paris und das alles. Ich würde da einen leicht anderen Filter nehmen, mit ein bisschen zeitlicher Distanz. – Was meinst du?"
"Ich überleg's mir. Und: Danke!"
"Schon gut. Salut!"
Er hat auf den roten Knopf gedrückt und ist verschwunden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen