Sonntag, 14. Februar 2021

über den Atlantik 2

Es hiess, sie würden in zwei Tagen, im Verlaufe des Freitags, in Manhattan ankommen. Er konnte an diesem Abend nichts mehr essen und ging möglichst oft nach draussen, so lange, bis er völlig durchfroren und durchnässt war. Inzwischen bewegte sich die "Provence" durch dichten Nebel und liess immer wieder ihr Horn ertönen. Der Regen peitschte ihm waagrecht ins Gesicht, die Seile an den Ladebäumen sangen, pfiffen und heulten im Wind. Das Meer war zerwühlt, Schaumkronen wurden von den Kämmen der Wellen weggerissen, kaum hatten sie sich gebildet. Jules konnte nicht herausfinden, wie weit die Sicht reichte, das Schiff schien auf einem riesigen, kreisrunden Stück flüssiger Borke zu schwimmen, das sich mitbewegte und so den eigentümlichen Eindruck von Stillstand erzeugte. Vielleicht hatte der Kapitän die Geschwindigkeit drosseln lassen, um Hindernisse frühzeitig erkennen zu können. Vielleicht trug auch die von der Gesellschaft angepriesene neue Funktechnik an Bord zur Sicherheit bei, Jules hoffte es. Er versuchte, seine ängstlichen Gedanken zu zerstreuen und beschloss, sich im gemeinschaftlichen Duschraum der zweiten Klasse aufzuwärmen. Als er sich in der Garderobe ausgezogen hatte und die Türe aufzog, schlug im undurchdringlicher, heisser Dampf entgegen. Der Raum war gefüllt mit den Schemen nackter Männer, der Lärm der Stimmen war ohrenbetäubend. Trotzdem blieb er so lange unter dem heissen Wasserstrahl, bis seine Füsse krebsrot waren, und nicht mehr weiss.

Obwohl das Schiff noch den ganzen Donnerstag über rollte und stampfte, war es Jules nach dem Aufstehen nicht mehr schlecht geworden. Beim Frühstück befand sich ausser Silvius und ihm nur ein jüngeres Ehepaar im Essaal. Er hatte die Pampelmusen für sich entdeckt, verkniff es sich aber, eine zweite zu essen. Der Kaffee tat ihm gut, und er war in aufgeräumter Stimmung. Silvius erzählte ihm, dass er einen der Mechaniker getroffen und mit ihm im Kaffee abgemacht habe. Der werde ihn in die Funktionsweise der Dampfmaschinen der "Provence" einweihen, ob er interessiert sei. Eigentlich war Jules nicht interessiert, trotzdem sagte er zu, weil er bisher die Männer der Schiffmannschaft nur von weitem gesehen hatte.

Der Mechaniker war Korse und stellte sich als Alanu Serra vor. Er trug eine einfache, blaue Arbeitsuniform und eine Schirmmütze, die er vor sich auf den Tisch legte. Sein Schnauz war eindrucksvoll, sein Englisch nicht viel besser als das von Jules, und er hatte auch auf Französisch einen starken Akzent. Jules rutschte in die Rolle des Übersetzers, wenn Alanu stecken blieb und die Sprache wechselte.
"Ihr könnt mich auch Alain nennen, Alanu ist Alain."
Silvius hatte seinen Faltprospekt mitgebracht, mit dem Längsschnitt durch das Schiff. Der Mechaniker zog ebenfalls ein paar Blätter aus seiner Tasche, mit Aufrissen und Schnitten der Kessel und Maschinen. Was Alanu nun in einem längeren Vortrag erklärte, immer wieder unterbrochen durch Fragen von Silvius, konnte Jules nur in groben Zügen nachvollziehen. Er verstand aber, dass die "Provence" in scharfer Konkurrenz zu deutschen und englischen Schiffbauern konstruiert worden war. Grösse, Geschwindigkeit und Komfort waren die wesentlichen Faktoren in diesem Wettstreit, dazu kam, wenigstens auf die Dauer, Wirtschaftlichkeit dazu, vor allem bezüglich der Kosten für Kohle. Ein direktes Wettrennen letztes Jahr, ostwärts über den Atlantik, gegen die "Deutschland" von der HAPAG, konnte die "Provence" für sich entscheiden. Sie brauchte dafür nur gerade sechs Tage und drei Stunden, allerdings auch eine ungeheure zusätzliche Menge an Kohle, die alleine für die Erhöhung der Geschwindigkeit um ein paar Knoten notwendig war. Völlig unvernünftig. Jetzt, im Normalbetrieb nehme man es gemütlich, so dass man, anständiges Wetter vorausgesetzt, sieben Tage und etwas brauche für die Überfahrt. Das Schiff habe zwei Kessel, wie man auf dem grossen Bild sehe. Es handle sich um Hochdruckkessel, in denen der Dampf unter Druck auf weit über dem Siedepunkt liegende Temperaturen gebracht werde. Über speziell robuste Rohre werde er dann in die Zylinder geleitet, je vier pro Maschine. Alanu zeigte ihnen auf seinen Zeichnungen, dass sich die Zylinder in ihren Dimensionen unterschieden. Der mit dem kleinsten Querschnitt erhielt als erster den Dampf unter hohem Druck, danach wurde dieser, bereits teilweise entspannt, wie der Mechaniker das nannte, zum nächsten weitergeleitet. Dieser zweite Zylinder hatte einen grösseren Querschnitt, um mit niedrigerem Druck eine ähnlich kräftige Wirkung zu erzielen wie der erste. Und so ging es weiter, über drei Stufen. Zum Schluss werde das Wasser aus dem Dampf kondensiert und in den Kreislauf zurückgeführt. Das sei sparsam und reduziere die Korrosion. Silvius wollte alle Details des Prozesses, die Steuerung der Ventile, die Schmierung, die Abdichtung und so weiter, genau expliziert bekommen. Jules begann sich zu langweilen und übersetzte immer nachlässiger. Schliesslich unterbrach er die Erklärungen mit einer Frage.
"Wie ist das mit dem Kohle Schaufeln? Wer macht das?"
Alanu sah ihn an, sagte nichts. Wiegte dann seinen Kopf hin und her und verzog das Gesicht.
"Das ist die Hölle. Die chauffeurs verdienen zwar recht gut, aber alt werden sie nicht."

Am letzten Abend der Überfahrt war es bei der Transatlantique üblich, für die Passagiere der ersten Klasse im grossen Salon ein Tanzabend zu veranstalten. Es war den Reisenden der zweiten Klasse zwar nicht verboten, an dieser Galaveranstaltung teilzunehmen, aber die Kleiderregeln schrieben für Männer den Smoking vor, so dass Jules höchstens von aussen einen Blick auf das Geschehen werfen konnte. Nach dem Nachtessen traf er sich zuerst mit Henri in der Entrée zur Zweiten, wo sie mit bei einer Flasche Wein auf ihre Ankunft am nächsten Tag anstiessen. Danach wollte sich Henri frühzeitig hinlegen. Jules zog es jedoch auf das hintere obere Deck. Der Himmel hatte aufgerissen, in den Lücken der Wolken waren Sterne zu sehen, und es war wieder etwas wärmer. Als er sich auf der oberen Promenade dem Eingang zum Salon näherte, hörte er, immer wieder an und abschwellend, Musik. Einige Herren in Smoking und zwei drei Damen in Abendkeidern standen vor dem Eingang, um zu rauchen und zu plaudern. Wenn sich die Türe öffnete und wieder jemand heraustrat oder hineinging, wurde die Musik für einen Moment lauter. Jules war unschlüssig, ob er sich vorbeidrücken oder bleiben sollte. Die Neugier siegte schliesslich, und er stellte sich, ein paar Schritte von der Gruppe der vornehmen Raucher entfernt, an die Reling.

"Could you light my cigarette?"
Eine junge Frau, in der weissen Kleidung einer maid, hatte sich neben ihn gestellt, hielt ihre Zigarette lässig zwischen den Fingern der angewinkelten Rechten, und sah ihm herausfordernd in die Augen. Er war überrascht und etwas verlegen, denn er hatte sie in den vergangenen Tagen schon öfter beobachtet, diskret, wie er gemeint hatte. Er musste nach seinem Feuerzeug suchen. Als er es ihr entgegenstreckte, schloss sie ohne zu Zögern ihre Hände um seine, um die Flamme vor dem Wind zu schützen, tat einen tiefen Zug und lachte ihn dann an.
"Sie reisen in der zweiten. Ich bin das Mädchen von Mrs. Blum. Ich heisse Fiona Walsh, aus Irland. Darf ich fragen, wie Sie heissen?"
Jules stellte sich vor.
"Aus der Schweiz? Dann sprechen Sie deutsch?"
Er erklärte ihr, dass er aus dem Jura komme, dass man dort französisch spreche, und eine eigene Sprache, den Patois.
"Wie bei uns das Gälische?"
Jules musste überlegen. Er glaube, der Patois sei nicht ganz so verschieden vom Französischen wie das Gälische vom Englischen. Gewisse Wörter seien ganz anders, man sage, dass es keltische darin habe, aber auch viel deutsche Ausdrücke. Und die Aussprache sei, na ja, die Franzosen rümpften die Nase darüber. Sie lachte. Sah dann, aufgeschreckt, über seine Schulter hinweg und drückte hastig die Zigarette aus.
"Sie ruft mich. Vielleicht komme ich gleich wieder, bleiben Sie noch?"
Sie war schon weg, als er bejahte.

Sie gefällt Jules. In ihrer sprudelnden, selbstsicheren Art erinnert sie ihn an seine Schwester Berthe, aber sie ist hübscher. Grösser, fast grösser als er. Und die rötlichen Haare! Er hat gesehen, dass Fiona mit ihrer Herrin ins Innere gegangen ist und rechnet nicht damit, dass sie nochmals zurückkommt. Trotzdem wartet eine Weile. Als er sich entschliesst zu gehen, steht sie wieder neben ihm.
"Da bin ich wieder. Ich musste den Kellner auf Mrs. Blums leeres Champagnerglas aufmerksam machen, das möchte sie nicht selber tun."
Jules wird von ihrem Lachen angesteckt. Sie will mehr über ihn wissen.
"Fahren Sie zum ersten Mal nach Amerika? Was wollen Sie dort machen?"
Jules will schon zu seiner üblichen, komplizierten Erklärung ansetzen, als es spontan aus ihm herausbricht:
"Ich will Diener werden bei den Reichen und Schönen, wie Sie! – Ja, das ist mein erstes Mal."

Was sagte er da? Das war bisher immer eine von vielen Möglichkeiten gewesen, eine eher unwahrscheinliche obendrein. Sie schien nichts Ungewöhnliches in seiner Äusserung zu sehen, hob gleich zu Ratschlägen an, wie er herangehen sollte bei der kommenden Suche nach Anstellungen.
"Die Iren sind beliebt, wegen der Sprache. Aber auch die Schweizer, wie ich gehört habe, wohl wegen ihrem Ruf der Pünktlichkeit und Sauberkeit. Sind Sie ein pünktlicher und sauberer Mensch, Monsieur Chiquet?"
Wieder dieses Lachen, mit zurückgeworfenem Kopf.
"Vielleicht sehen wir uns dann einmal in New York? Mr. Blum hat oft in einer Kanzlei in Manhattan zu tun, seine Frau begleitet ihn ab und zu, wenn er länger bleibt. Dann haben sie eine Wohnung in der Mansion seines Bruders, und die beiden Kleinen werden bei den Grosselteren untergebracht. Sonst sind wir im Norden von New York zuhause. Die Blums haben ein grosses Haus in Hardsdale. Ich gebe Ihnen die Adresse."
Jules nahm sein Notizbuch hervor und zog den kleinen Stift aus der Lasche, hielt ihr dann beides hin. Er schrieb ihr auch seine Adresse in Ohio auf ein herausgerissenes Blatt, ohne Überzeugung, dass er lange dort bleiben werde.
Sie las seine Anschrift und meinte:
"Ohio. Da ist es schwierig, Reiche zu finden. Und noch schwieriger, Schöne!"

Am Freitag den siebzehnten Mai, gegen Mittag kreuzte die "Provence" mit gedrosselten Maschinen die Freiheitsstatue. Auf den Decks und Gängen herrschte dichtes Gedränge, alle wollten diesen Teil der Ankunft mit eigenen Augen sehen und miterleben. Als sie sich auf der Höhe von Ellis Island befanden, erzählten sich Passagiere, die in Jules und Henris Nähe standen, allerlei schlimme Geschichten. Jules war das unangenehm, aber Henri winkte ab.
"Das wird schon. Ich bin ja kein Anarchist!"
"Und auch kein... wie hiess das?"
"Bigamist!"
Sie lachten und wechselten auf die andere Seite des Schiffs. Es wurde nun von zwei Schleppbooten den Hudson River hinaufgezogen. Man zeigte und erklärte sich gegenseitig die prominenten Gebäude, die aus der Silhouette von Manhattan herausragten, und nachdem sie an den Piers unzähliger Schiffsgesellschaften vorbeigeglitten waren, kam schliesslich ihrer in Sicht. Eine Ankunftshalle aus Stahl und Glas stand darauf, auf der Frontseite in grossen Buchstaben angeschrieben mit FRENCH LINE. Sie waren angekommen.

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