Freitag, 12. Februar 2021

über den Atlantik 1

In der Erinnerung kam Jules die nächtliche Zugreise von Paris nach Le Havre wie ein mehrfach unterbrochener, immer wieder aufgenommener Traum vor. In Rouen war er aufgewacht, weil der Zug angehalten und noch mehr Reisende aufgenommen hatte. Ab dann war es ihm kaum mehr möglich gewesen zu schlafen, weil seine Banknachbarn zu beiden Seiten ihre Köpfe auf seine Schultern sinken liessen, einer von ihnen dazu vernehmlich schnarchend. Übermüdet und steif waren sie schliesslich ausgestiegen. Erfahrene Amerikareisende hatten Henri und ihm geraten, sich vor der medizinischen Kontrolle und der Befragung durch die Beamten das Gesicht zu waschen, sich zu kämmen und die Kleider in Ordnung zu bringen. Sie hatten daraufhin keinerlei Anstoss erregt. Man leuchtete ihnen in die Augen, Henri musste noch eine Impfung nachholen lassen. Der anschliessende interrogatoire war ihm sehr seltsam vorgekommen und hatte ihn in seinem tranceartigen Erschöpfungszustand zu anhaltendem, mühsam unterdrücktem Kichern gebracht. Wer würde wohl auf die Frage, ob er Anarchist sei, oder Polygamist, mit Ja antworten, fragte er Henri, der darauf auch Mühe hatte, ernst zu bleiben. Dann waren sie auf dem Quai gestanden, in Sichtweite des Schiffs, das ihnen riesig vorkam. Tische waren für sie aufgestellt, und man hat sich aus grossen Suppentöpfen, dazu Bergen von Brotschnitten, bedienen können. Wie er schliesslich in die Kabine gelangt war, die ihm nun schon zu einer Art Zuhause wurde, hatte er schon fast vergessen. Es war nochmals eine mühselige Plackerei mit dem Gepäck gewesen, die Kisten hatten sie gegen eine Quittung in einem Depot abgeben können, dann mussten sie einen Treffpunkt für einen späteren Zeitpunkt abmachen, weil Henri in der dritten Klasse, in Richtung des Bugs, untergebracht war, Jules' Logis der zweiten dagegen fast über dem Heck lag. Die Taschen waren über Treppen und lange, schwach beleuchtete Gänge bis zur Kabine zu tragen. Jules' Zimmergenosse für die beginnende Reise war, wie sich herausstellte, ein Auswanderer aus dem Südtirol, der sich als Silvius Alfreider vorstellte. Er sprach deutsch und italienisch, hatte aber, wie Jules, schon gewisse Fortschritte erzielt in seinen Bemühungen, englisch zu lernen. Sie hatten deshalb gleich abgemacht, zu gegenseitigem Nutzen in dieser Sprache miteinander zu verkehren. Sie waren sich sympathisch gewesen, Jules war darüber erleichtert.

Er verschlief fast den ganzen ersten Tag auf dem Meer, in seiner Kabine, so müde war er gewesen. Mit Henri zusammen hatte er noch vom unteren Rundgang zugeschaut, wie der von Zuschauern und Abschiednehmenden schwarz getupfte Quai langsam seitlich wegzog. Als das dicke Tau auf dem Schleppboot gelöst war und ins Wasser platschte, liess die "Provence" zweimal ein heiseres Hornsignal ertönen, worauf über der Menschenmenge am Ufer die Taschentücher wie übergrosse Schneeflocken hin und herwehten. Die "Provence" hatte sofort Fahrt aufgenommen, Jules musste eines ums andere Mal gähnen, und so verabschiedeten sie sich für den nächsten Tag und gingen, obwohl es noch Morgen war, schlafen.

Die folgenden Tage vergingen in wohligem Trott. Jules fühlte sich zurückversetzt in die Kindheit, in die meist nicht sehr langen, aber doch ein paar Tage andauernden Zwischenräume im Ablauf geregelter oder gefühlter Verpflichtungen, zum Beispiel nach der Ernte, aber noch vor Wiederbeginn der Schule. Oder während ein paar Tagen der Rekonvaleszenz nach einer halb überstandenen Krankheit, wenn man schon wieder fast alles durfte, kaum etwas musste. Das Wort Ferien hatte er damals kaum gekannt, andere Leute als er und seine Familie verfügten darüber. Hier aber, auf dem Schiff, schien es viele solcher Menschen zu geben. Kaum an Bord, schlenderten sie in ihren speziell für den eleganten Müssiggang mitgebrachten Kleidern in den Gängen und Salons umher, in betonter, gemessener Langsamkeit. Wenn sie innehielten und sich irgendwo hinsetzten auf eine der unübersehbar zahlreichen und vielgestaltigen Sitzgelegenheiten, so schien es Jules, als ob sie sich im Atelier eines Malers oder Photographen in Pose bringen wollten. Und es gab tatsächlich einige Photographen an Bord, die er in der Nähe oft derselben wenigen Personen aus der ersten Klasse antraf, wahrscheinlich berühmte und reiche Persönlichkeiten, wie er auch aufgrund der diskreten Anwesenheit von eigens mitreisenden Angestellten vermutete, die sich im Hintergund in Bereitschaft hielten.

Jules musste lernen, seine Bewegungen dem Rhythmus der Umgebung anzupassen. Mit seinem anfänglichen, ungeduldigen Trippeln und Drängen, wenn er hinter Passagieren herging, die in aufreizend langsamem Gang, ohne erkennbares Ziel, die ganze Breite von Treppen und Durchgängen einnahmen, hatte er Missfallen erregt, ausgedrückt durch Kopfschütteln, Augenverdrehen und Zischen. Einmal war er von einem korpulenten Herrn in Smoking sogar eines Ortes verwiesen worden mit der hervorgepressten Bemerkung, er habe dort nichts verloren, obwohl er als Passagier zweiter Klasse dazu durchaus berechtigt gewesen war. Seit Jules gelernt hatte, zu schlendern, seit er auch seine Kleidung mit Bedacht an die Situationen anpasste, in die sich zu begeben er vorhatte, eckte er kaum mehr an. Für Spaziergänge in seinem eigenen Tempo wählte er die ganz frühen Morgenstunden, während derer die Herrschaften noch schliefen, und der Blick auf den Atlantik unwiderstehlich war.

Er konnte sich nicht satt sehen an der Heckwelle des Dampfers. Sie kam ihm majestätisch vor, wie eine Schleppe aus zwei glitzernden Bahnen, gewoben und gezöpfelt von der stählernen Maschine eines Riesen. Das schoss unter dem Heck hervor, schneller als das Auge die Wirbel verfolgen konnte. Erst indem er sich weiter weg bewegte, schien sich der Teppich zu beruhigen, die Strudel breiteten sich aus, verschwammen mit dem Gewebe aus Gischt. Und immer weiter zog das Band von ihm weg, schnürte sich zusammen auf einen schwer bestimmbaren Punkt am Horizont. Erst wenn er seinen Blick wieder zurückkehren liess, sah er eine zweite, viel diskretere Spur, die das Schiff in die glatte Fläche des Meeres zeichnete, aus sanften Reihen von Wellen, die vom Bug und von den Flanken des Rumpfs ausgingen und sich in der Form eines Vogelzuges ausbreiteten. Ihre Farben waren ganz anders. Die Heckwelle erinnerte ihn an den Gletscher, den er einmal in den Walliser Alpen gesehen hatte, sie veränderte sich farblich kaum im Verlaufe des Sonnenaufgangs. Bei den seitlich wegziehenden Bugwellen dagegen musste er lange beobachten, bis er hinter das Geheimnis der verblüffend schnell wechselnden Farbigkeit kam. Von der ihm zugewandten Seite der Wellen wurde kein Licht zurückgeworfen, da versank das Auge im Schwarzblau der tiefen See. Die von ihm weg fliehenden Rückseiten jedoch wirkten wie weiche, bewegte Spiegel, in denen man die Farbe des Himmels darüber wahrnahm. Er verglich die Tönungen der Wellen und des Himmels, bis die Sonne ganz über dem Horizont stand, bis er wusste, dass er recht hatte. Dann ging er ins Innere, weil ihm kalt geworden war. Er wollte nachsehen, ob er schon ein Frühstück bekommen könnte.

Henri hatte nicht zu allen Orten Zutritt, an denen sich Jules aufhalten durfte. Er hatte mehrfach betont, dass ihm diese Einschränkungen nichts ausmachten, und dass die Kabine, die er mit fünf anderen Männern teilen musste, seine Erwartungen bei weitem übertroffen habe. Wenn Jules jedoch von seinen Erlebnissen im luxuriösen Kaffee oder im grossen Salon mit den Oberlichtfernstern erzählte, erkannte er an Henris umherschweifenden Blicken, dass er davon nichts hören wollte. Sie fanden heraus, wo sie sich ohne Schwierigkeiten treffen konnten, auf dem hinteren Deck zum Beispiel, oder auch im Entrée der zweiten Klasse, einem Aufenthaltsraum, der sich im hintersten der Deckaufbauten befand. Der Raum strahlte den Charme einer französischen Gaststube aus, und es war zu bestimmten Zeiten sogar möglich, etwas Kleines zu konsumieren.

Sie liessen sich Wasser, eine kleine Karaffe Wein, Paté und Weissbrot bringen. Die Ankunft in New York musste besprochen werden, ebenso die anschliessende Weiterreise nach Ohio. Henris Entschluss, in der dritten Klasse zu reisen, hatte zur Folge, dass er bei der Ankunft als erstes mit der Fähre nach Ellis Island, ins Dépôt des immigrants, verbracht werden sollte. Da nicht vorauszusehen war, wie lange die medizinischen und administratorischen Abklärungen dort dauern würden, es konnte ein paar Stunden dauern, bei Beanstandungen durch die Behörden auch mehrere Tage, musste für Jules eine Unterkunft gefunden werden, in der er ungeachtet dieser Unsicherheit auf ihn warten konnte. Sie machten aus, dass er in der Wartezeit die Billets für die Bahnreise nach Cleveland besorgen würde. Sie schauten sich die Strecke auf einer kleinen Karte an, die Henri mitgebracht hatte. Von seinem Onkel in Ohio kannte er auch Dauer und die Stationen der Fahrt. Über Albany und Syracuse nach Buffalo dauerte sie etwa zwölf Stunden, dann hatte man, nach dem Umsteigen, nochmals sechs Stunden dem Lac Érié entlang zu fahren bis nach Cleveland.
"Es gäbe auch einen Nachtzug mit Schlafwagen", meinte Henri, etwas zögernd.
"Das wäre wieder etwas Neues! Warum nicht?", fand Jules, und setzte nach:
"Komm, wir machen das. Ich bezahle dir den Aufpreis."
Henri sträubte sich, liess sich aber schliesslich überreden. Die Erinnerung an die nächtliche Fahrt durch Frankreich machte es ihm leichter, sich vom jüngeren Vetter etwas schenken zu lassen.
"Wie wir von Cleveland nach Sterling, zum Hof von Onkel Stoecklin, kommen, weiss ich noch nicht. Es muss sehr ländlich sein dort."
Jules munterte ihn auf.
"Wie zuhause! Wir finden schon etwas."

Vom vierzehnten auf dem fünfzehnten Mai schwächte sich das Hochdruckgebiet über den Azoren markant ab, wodurch sich ein Tief bei Neufundland ausdehnen und langsam in Richtung Südosten in Bewegung setzen konnte. Eine erste Regenfront erreichte die Route der "Provence" gegen Abend des fünfzenten.

Zuerst meinte Jules, er habe es sich nur eingebildet. Als er durch einen der langen Gänge des Schiffs ging, hatte er den Eindruck, als würde sich dieser ganz leicht krümmen, zuerst nach oben, dann, fast unmerklich in einem Bogen nach rechts, wieder in die Ausgangslage zurück. Als ihm eine Gruppe junger Leute entgegenkam, die übertrieben schwankten und sich kichernd an den Handläufen festhielten, stellte er fest, dass das Schwanken auch von anderen bemerkt worden war und also real war. Als er in die Kabine kam, sass Silvius auf seinem Bett und hatte einen farbigen, über einen Meter breiten Faltprospekt vor sich ausgebreitet.
"Look, what I found! The longitudinal section of the "Provence"!"
Jules verstand den Ausdruck nicht, konnte aber, als er sich ans andere Ende des Betts gesetzt und Silvius ihm das Blatt zurecht gerückt hatte, sehen, dass er ein Bild des Schiffs vor sich hatte, auf dem sie sich befanden. Der Rumpf war auf der ganzen Länge seitlich aufgeschnitten und zeigte das ganze Innenleben, alle Räume, die beiden enormen Heizkessel mit den Kaminen, die Kohlebunker und Maschinen, die Unterkünfte aller Passagiere und der Mannschaft, die Küche und so weiter und so fort. Alles war sorgfältig durchnummeriert und mit einer zweisprachigen Legende versehen. Sein Zimmergenosse war begeistert, er hatte ihm erzählt, dass er ein machine builder sei, da war das verständlich. Auf Jules tat die Abbildung eine zwiespältige Wirkung. Der Rumpf kam ihm überlang und zerbrechlich vor, die fehlende Bordwand wie eine riesige Wunde. Es fiel ihm schwer, den Eindruck von vor ein paar Minuten, als er meinte, der Gang habe sich gekrümmt, auf englisch in Worte zu fassen. Aber Silvius schien sofort zu verstehen, und zu Jules Schrecken behauptete er, das sei keine Täuschung gewesen, so ein Rumpf aus Stahl könne sich bei starkem Wellengang um bis zu einem halben Meter oder noch mehr in alle Richtungen verbiegen. Davon gehe aber keinerlei Gefahr für die Sicherheit des Schiffs aus, solange die Konstruktion clever auf die Elastizität des Materials eingehe und sie nicht an ungünstigen Stellen blockiere. Solche Fehler könnten allerdings zu Rissen führen. Jules stand auf, er wollte das nicht weiter anhören. Jetzt spürte er, dass das Schiff sanft, aber vernehmlich schwankte. Es war eine Drehbewegung um alle Achsen, und als er das festgestellt hatte, wurde ihm schlecht.

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