Sonntag, 21. Februar 2021

Sterling, Ohio

Florent Stöckli war einer der ersten Automobilbesitzer von Sterling, Ohio. Wenn er sich hinter das Steuerrad seines Premier 24 setzte, ein Steuerrad, das Jules so gross vorkam wie die Räder der Güllewagen zuhause in Cornol, dann war sein Stolz überaus deutlich zu sehen. Er hatte sich mit seinem ersten grossen Geld, wie er sagte, einen kindlichen Wunsch erfüllt, dabei nicht gezögert, sich statt eines der Modelle aus dem nahen Werk in Cleveland zu kaufen, wie es andere in Sterling machten, einen der teuren, schnellen und technisch ausgefeilten roadster aus Indianapolis anzuschaffen. Henri schüttelte den Kopf über dieses ihm nutzlos erscheinende Gerät, Jules aber war von Florents übermütig lebenslustiger Art angezogen. Da dieser das Automobil erst vor kurzem hatte in Empfang nehmen können, nach einer langen Wartezeit zwischen Bestellung und Auslieferung, benutzte er es nun für jede noch so kurze Strecke. Es blieb Jules nicht verborgen, dass er als bereitwilliger Mitfahrer willkommen war, weil seine Anwesenheit auf dem Beifahrersitz die vielen Fahrten weniger unnütz erscheinen liess. Zudem konnte ihm das kostbare Gefährt während Florents Besorgungen in der Township zur Bewachung überlassen werden, was angesichts der sich jeweils um das Automobil versammelnden Neugierigen durchaus angebracht war.

Abgesehen von den paar wenigen Automobilen waren Sterlings breite Strassen geprägt von einer erstaunlichen Anzahl an Pferdekutschen, die zu mieten waren, mit einem Hauptstandplatz beim grossen Warenhaus. Nach jedem Regenguss bildeten sich überall ausgedehnte Pfützen, ja richtige Teiche, und es war trotz der seitlich der Strassen angelegten, leicht erhöhten Plattenwege für die Fussgänger nicht einfach, die Schuhe vor Durchnässung zu bewahren. So wurden die Kutschen auch für kleine Distanzen gerne genutzt, wozu ausserdem beitrug, dass ihre Dienste wegen der grossen Anzahl an Anbietern sehr billig waren.

Abgesehen vom Schlamm, der nach Regen überall lag, alles vollspritzte und an allem klebenblieb, war Sterling in Jules' Augen äusserst ordentlich, gepflegt und sauber. Auch die Menschen hier schienen sehr auf ihr Äusseres zu achten, sie waren dezent, aber gut gekleidet, schwarz die Männer, die Frauen in Weiss. Sie rochen gut. Wenn Jules an die Tage in der Lower Eastside zurück dachte, an Dreck, Lärm und Gestank der überfüllten Strassen, an die vielen so augenfällig Armen und Elenden, die mit schwarzgrauen Händen Abfallberge und Ascheeimer durchwühlt hatten, stellte er verwundert fest, dass er sich dort leichter dazugehörig gefühlt hatte, obwohl es seine erste Begegnung mit der Riesenstadt New York gewesen war. Den flackernd suchenden, hungrigen Blick armer Leute kannte er aus seiner Kindheit, auch ihren muffigen Geruch. Die Körper der Sackschlepper, Kohleschaufler, Stassenwischer, Bauarbeiter, die er gesehen hatte, waren wie sein eigener. Mager und drahtig muskulös, die Hände voller Schwielen. Hier erst kam er sich aber wie ein Bauer vor, der vergeblich nach seinesgleichen sucht. Florent behauptete, noch vor wenigen Jahren einer gewesen zu sein. Er hatte es zuerst mit Vieh versucht, danach mit Obstbau. Er besass immer noch einige Acres mit Obstbäumen, liess sie aber weitgehend von andern bewirtschaften, von Pächtern und, während der Ernte, von Wanderarbeitern. Henri und Jules staunten, wie gross die Flächen waren, und wie endlos die Reihen mit den zwergenhaft niedrigen Bäumen. Auf die Frage, ob es keine Kleinbauern mehr gebe wie in der Ajoie, mit ein paar Kühen und Schweinen, vielleicht noch mit Hühnern und Kaninchen, mit Weiden, so viele es eben brauche für das Heu, mit Obst und Gemüsegärten, alles in einem Mass, das neben der eigenen Versorgung noch ein bisschen etwas abwerfe durch Verkauf, da lachte er nur:
"Hier geht alles über Grösse und Menge. Und über Spezialisierung, die Konzentration auf ein oder zwei Produkte."

Da war sie wieder, eine spezielle Sprechweise, die in Henris und Jules' Ohren fremd klang. Sie sassen am Stubentisch, bei Kaffee und Kuchen, den Florents Frau Alice gebacken hatte. Zum Trost, wie sie gefunden hatte, weil es seit zwei Tagen regnete und Florent keine Spazierfahrten unternehmen konnte, aus Angst, mit seinem Premier im Morast stecken zu bleiben.
"Nehmen wir an, du könntest nach dem Cornoler Modell einigermassen erfolgreich bauern, so würdest du für den Überschuss an Vieh, Obst, Gemüse, erst recht für Getreide, nichts bekommen. Nichts! Niemals einen angemessenen Preis für die harte Arbeit, die du hineingesteckt hast. Denn du stehst im Wettstreit mit einer Landwirtschaft, die dank riesenhaften Dimensionen, an Land, Geld, Anzahl Arbeiter und Angestellter, Transportmittel, Verpackzungshallen, Lagerhäuser und so weiter, ihre Ware zu einem Preis anbieten kann, mit dem du niemals gleichziehen könntest, ohne zu verhungern."
Hernri war unruhig, er hatte vom ersten Tag an gemerkt, dass seine Vorstellungen von dem, was er in Ohio hatte anfangen wollen, falsch waren.
"Was soll ich tun? Was rätst du mir?"
Florent sah ihn nachdenklich an. Wie Jules spürte er Henris Enttäuschung. Er tat ihnen leid.
"Ich nehme an, du willst in der Landwirtschaft bleiben, und nicht den Weg einschlagen, den ich gewählt habe?"
Henri nickte, obwohl er noch immer nicht verstanden hatte, worin die Entscheidung seines Cousins bestand, worauf sie hinauslief. Auch Jules konnte aus Florents Vorträgen, bei denen er sich während der ersten gemeinsamen Abendessen zunehmend in feurige Begeisterung gesteigert hatte, nur einzelne Elemente begreifen. Florent schien sich zu einem Händler entwickeln zu wollen, der Dinge, Werte, wie er das nannte, kaufte und verkaufte, die er weder brauchte noch herstellte, in den wenigsten Fällen jedenfalls, ja, die manchmal nicht einmal ihm gehörten. Jules hatte von ihm Äusserungen gehört, die seine Eltern, vor allem seine Mutter, entsetzt hätten. Schulden machen, hatte Florent ihnen erklärt, sei dann von Vorteil, ja geradezu geboten, wenn man mit dem geliehenen Geld mehr Gewinn machen könne, als man dem Ausleihenden an Zinsen schulde. Jules' Maman hätte geantwortet, Schulden seien immer Sünde, und dass er sich von einem solchen Verwandten fernhalten solle.

Da Henri durch Kopfnicken seine Absicht bekräftigt hatte, beim Bauern bleiben zu wollen, fuhr Florent fort:
"Ich denke, du solltest ein richtiges, ein grosses Stück Land kaufen. Für einen Acre zahlst du hier im Moment siebzig bis achtzig Dollars. Wie rechnet ihr, in Hektaren? In Tagwerken? Was kostet eines in der Ajoie?"
"Achthundert Franken ein journal", meinte Henri, und Jules ergänzte:
"Es ist knapp das Drittel einer Hektare."
"Du brauchst etwa drei Hektaren, oder neun bis zehn Tagwerke zu Beginn, sonst wird das nichts. Das macht..."
Florent holte sein Notizbuch heraus und kritzelte ein paar Zahlen, blitzschnell war er im Rechnen, die Cornoler konnte nur staunen.
"Du brauchst siebeneinhalb Acres, à fünfundsiebzig Dollars, das heisst, du zahlst etwa fünfhundertsechzig Dollars für das Land. Zuhause müsstest du mehr als das Zehnfache dafür ausgeben!"
Henri musste nachdenken, Jules fragte:
"Am Stück soll er die zehn Tagwerke kaufen? Ist das... Kann man das hier?
Florent lachte.
"Ja, natürlich. Wenn ihr in Cornol einmal ausrechnen wolltet, wieviel Arbeitszeit ihr vergeudet durch die Wege zwischen den Parzellen, die ihr besitzt oder gepachtet habt! Da müsste eine Flurbereinigung nicht mehr so schwer fallen."
Jules konnte sich das nicht vorstellen. Schon nur die Äusserung von Vorschlägen zu einem Abtausch von Land, zum Zweck der Vereinfachung, konnte in Cornol zu wüstem Streit führen. Er hatte sich in Gedanken vom Gespräch entfernt, so dass Florent seine Frage wiederholen musste:
"Und was willst denn du machen, Jules? Du hast es uns noch immer nicht verraten."
"Diener will er werden, bei den ganz Reichen, bei Rockefeller zum Beispiel!", rief Alice aus der Küche. Man hörte ihr glucksendes Lachen. Florent sah Jules mit offenem Mund an.
"Was ist das?"
Jules rutschte unruhig hin und her, grinste verlegen. Er sah, dass Florent mindestens so erstaunt war über den Vorsprung an Wissen, über den seine Frau verfügte, wie über den spasshaft verratenen Plan, der ja vielleicht ernst gemeint war.

Alice Stöckli, geborene O'Donell, hatte irische Vorfahren. Für Jules war sie eine waschechte Amerikanerin, wobei er zugeben musste, in der Beurteilung solcher Qualitäten noch wenig Erfahrung zu haben. Sie gefiel ihm sehr, obwohl sie ihn schon einige Male in Verlegenheit gebracht hatte mit ihrer unverblümten, direkten Art. Wie sie Fragen stellte, Situationen und Äusserungen anderer kommentierte. Sie hatte mit Florent zwei Kinder, die sechsjährige Kathleen und den zweijährigen Douglas. Es war für Jules eine ganz neue Erfahrung, wie diese kleine Familie funktionierte, wie die Eheleute miteinander, wie sie mit den Kindern umgingen. Auch bei kleinen, unwichtigen Dingen, fragte man den andern, was er wolle. Wie er die Dinge sehe. Florent und Alice leisteten sich eine Nanny, weil Alice auch etwas ausserhalb des Hauses machen wollte, wie sie sagte. Sie hatte vor zwei Jahren Sterlings kleine Bibliothek von einer älteren Lady übernommen und führte sie, wie Florent mit sichtbarem Stolz erzählte, wie eine Unternehmerin. Etwas unsicher hatte er hinzugefügt, sie engagiere sich auch bei den Suffragetten. Jules hörte ihr gerne zu, auch wenn sie oft, manchmal in dozierendem Tonfall, über politische und wirtschaftliche Verwicklungen sprach, die er nur halbwegs verstand. Bei einem dieser Gespräche, am Küchentisch, hatte er ihr von seinen noch unausgereiften Plänen erzählt. Dabei hatte er, vielleicht weil sie ihn an die irische lady's maid auf der Provence, an Fiona, erinnerte, den Satz wiederholt: "Ich will Diener werden bei den Schönen und Reichen." Alice hatte ihn von der Seite angesehen, lauernd, und gefragt:
"Bei Rockefeller, zum Beispiel?"
Jules ahnte, dass die Frage eine Falle war, trotzdem versuchte er es:
"Warum nicht?"
"Warum nicht!?"

Sie holte tief Atem, dann erklärte sie ihm während über einer Stunde, was alles an seiner Idee fragwürdig, ja vollkommen verkehrt war. Sie rede vom Alten, von Rockefeller Senior. Beim Junior sei sie sich nicht sicher, wie der noch herauskomme. Wahrscheinlich sei er ein Hosenscheisser, versuche, sich als Philanthrop, wie sie das gerne nannten, der amerikanischen Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Alte aber sei ein Monster, der alles verschlinge, was ihm in den Weg komme. Mit der Stadard Oil habe er ja hier, in Cleveland begonnen. Dann alle anderen im Ölgeschäft entweder gekauft oder kaputt gemacht, mit Absprachen. Mit den Eisenbahngesellschaften, die sein Öl für Gefälligkeiten oder unter Druck so billig transportierten, dass die anderen in den Mond schauten. Es habe eine Frau gebraucht, um seine schmutzigen Geschäfte detailliert aufzudecken und zu beschreiben, Ida Minerva Tarbell. Über Jahre habe sie nachgeforscht, und ihre Geschichte schliesslich als fortlaufende Serie in McClure's Magazine veröffentlicht, später auch als Buch. Und obwohl alles darin Stehende sich als wahr erwies, habe Präsident Roosevelt sich nicht entblödet, die Journalistin als "Mistgabel" zu bezeichnen, in Anspielung auf eine Figur in einem elend schlecht geschriebenen Erbauungsbuch mit dem Titel The Pilgrim's Progress, wobei man gleich auch noch das Niveau der präsidialen Lektüre erfahren habe. Sogar Tarbells Namen habe der Präsident verspottet, sie mehrfach Tarbarrel genannt. Nun aber habe er immerhin dem Druck der unabhängigen Ölproduzenten nachgegeben und es könne sein, es sei hoffentlich so, dass es Standard Oil bald an den Kragen gehe. Ein Verfahren wegen Verstosses gegen den Antitrust Act sei letztes Jahr eröffnet worden, aber bis zu einem Urteil könne es leider noch Jahre dauern.

Als sie einmal kurz innehielt, versuchte Jules, nicht ganz ernsthaft, zu beschwichtigen:
"Also doch lieber nicht bei Rockefellers?"
"Nein! Oder... vielleicht wäre es ja hochinteressant, das von Innen zu sehen. Aber warum willst du eigentlich Diener sein? Dienen? Florent sieht inzwischen auch in solcher Tätigkeit richtige Arbeit, er nennt es das Feld der Dienstleistungen. Aber du? Warst du nicht Bauer in Cornol? Bist du nicht Bauer? Und wie stellst du dir deine Zukunft vor in zehn, fünfzehn Jahren? Als Butler kannst du kaum an eine Familie denken, du musst deinen Herrschaften immer zu Diensten sein, vierundzwanzig Stunden am Tag. Da nützt dir auch der gute Lohn nicht viel, du bist nie zu Hause, wie ein Seemann."
Jules war eingeschüchtert, sie fragte ihn aus wie eine Lehrerin ihren Schüler. Und das Zuhören hatte ihn ermüdet, weil sie so schnell sprach, dass er nicht immer jedes Wort verstand. Er musste nachdenken.
Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.
"Bitte entschuldige! Ich bin leider oft so, ich bedränge andere Menschen. Du musst nicht antworten."
Aber Jules war ganz froh darüber, dass sie ihn zwang, über seine Beweggründe nachzudenken. Und obwohl er seiner Gewohnheit nach erst sprach, wenn er mit einem Gedanken fertig geworden war, begann er zu reden.

Der Entschluss seines älteren Bruders Joseph, des ältesten der Geschwister, zur Grenzwache zu gehen und eine Laufbahn als Beamter zu beginnen, war für ihn ein Schock gewesen, den er sich nie ganz eingestanden hatte. Er war als Bub davon ausgegangen, dass Joseph als erwachsener Mann den kleinen Hof genauso weiterführen würde wie die Werkplätze für die Uhrenfabrikation, als Stellvertreter von Papa und Maman, der er ja in seinen Augen durch die ganze Kindheit hindurch gewesen war. "Das ist deine Pflicht!", hatte es immer und überall geheissen, wenn etwas Anstrengendes zu leisten war. Und: "Da musst du Verantwortung übernehmen!" Joseph hatte solche Forderungen genauso selbstverständlich hervorgebracht wie die Eltern, Widerspruch duldete er nicht, schon weil er die Ansprüche selber überdeutlich erfüllte. Als Jules nun vor ein paar Jahren realisierte, dass sein grosser Bruder im Begriff war, sich davonzumachen, denn als Zollbeamter würde er niemals in der Nähe des Heimatortes eingesetzt werden, und als er die Folgen davon zu erahnen begann, wurde er eine Zeit lang ganz trübsinnig. Er sollte die Stelle des Vaters einmal einnehmen! Er war verdammt dazu, für immer in diesem Nest zu verharren. Natürlich waren da auch noch die Schwestern, die für die Eltern sorgen würden, aber ihnen alles zu überlassen, würde das Ende der Lebensweise, vielleicht gar des Heims, der Eltern bedeuten. Er konnte nicht darüber nachdenken, ohne dass an diesem Punkt immer alles in Nebel versank. Der Entschluss, nach Amerika auszuwandern, war ein Versuch der Befreiung aus dieser Sackgasse. Er wusste noch nicht, ob er den Mut, die Grausamkeit haben würde, in Amerika zu bleiben. Da daraus möglicherweise ein zeitlich beschränktes Abenteuer werden könnte, wollte er sein Leben hier in den grösstmöglichen Gegensatz zu seinem Leben daheim stellen. Ob sie das verstehen könne?

Alice setzte ein zweimal an, holte Luft, sagte dann aber doch lange nichts. Sie stand auf, klapperte und kramte herum, bis sie sich schliesslich umwandte und leise sagte:
"Ich helfe dir. Ich denke mir was aus. Diener sein ist nichts Dummes."

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