Samstag, 6. Februar 2021

Reisen Sie mit Zwilchenbart!

Die Aussicht, für mehrere Stunden sitzen bleiben zu können, nachdem man das Gepäck mehrfach aus den Bergen fremder Stücke herausgezerrt, gebuckelt, zwischengelagert auf schmierigem Bahnsteig, bewacht und verteidigt, wiederum geschultert und im engen Zugabteil verstaut hatte, erleichterte die beiden Männer derart, dass sie sich für eine kurze Weile in wohliger Schläfrigkeit zurücklehnten und die zuvor aufs Äusserste angespannte Wachsamkeit ablegten. Zwar war man inzwischen hungrig geworden, und ahnte bereits, wie hart sich die Bänke der Holzklasse in ein paar Stunden anfühlen würden, aber für diesen Moment, in dem der Zug noch im Bahnhof von Delles stand, konnte man sich in das eigene Innere zurückziehen, sich vom Geschnatter, Geschrei, Gelächter ringsum einhüllen lassen im Bewusstsein, dass es einen weder etwas angehe, noch etwas von einem verlangt sei. Sie realisierten die Gleichzeitigkeit ihrer Empfindung, als sie sich ansahen. Theatralisches Luftausstossen von Henri, Jules konnte nicht anders, als es ihm gleichzutun, sie lachten sich zu.

Zwei Männer aus dem gleichen Dorf, die elf Jahre Altersunterschied trennten, oder eine halbe Generation. Die eigentlich Onkel und Neffe waren, sich aber eher als Coucousins sahen. Sie waren sich, vielleicht weil sie entfernt verwandt waren, nie besonders nahe gestanden. Henri, der aus einer Familie von Obstbauern kam, meinte nach Amerika gehen zu müssen, weil er eigentlich keine andere Wahl habe. Der Hof wurde schon jetzt vom ältesten Bruder geführt, ein Auskommen in dessen Abhängigkeit oder auch nur räumlicher Nähe war für ihn nicht mehr denkbar. Mehrere Versuche, in Cornol eine passende Frau zu finden, waren gescheitert, also hielt ihn nichts mehr im heimatlichen Jura. Er wollte in Ohio, wo ein Cousin bereits seit einigen Jahren wirtschaftete, nicht mit übermässigem, aber doch zufriedenstellendem Erfolg, ein Stück Land erwerben und darauf Obst anbauen. Er hatte seine bescheidenen Ersparnisse bereits nach drüben überweisen lassen, und achtete nun auf geringe Reisekosten, indem er in der dritten Klasse reiste. Die beiden wussten noch nicht, ob es auf dem Schiff möglich sein würde, Zeit zusammen zu verbringen, denn Jules fuhr zweiter Klasse. Er hatte sich nicht nur von seinem Freund Pierre die Frage anhören müssen, weshalb er überhaupt nach Amerika auswandere. Zwar waren die letzten Jahre härter geworden für die Heimarbeiter, die Konkurrenz durch den Import billiger Uhren aus den USA zwang zu schnelleren, moderneren Produktionsformen, in Fabriken. Auch war Jules' Vater alt und müde geworden, manchmal befürchteten sie, dass eine schleichende Krankheit ihm die einst mit viel Energie und Freude ausgeübte Arbeit verleide. Und ob es mit der Uhrenfarbrik im Dorf etwas werden könnte, war nun auch ungewiss. Aber die Familie hatte über lange Zeit etwas auf die Seite legen können. Der Älteste war versorgt, machte seine Ausbildung im Grenzwachkorps und sollte bis in ein paar Jahren ein gesichertes Einkommen haben als Zollbeamter. Wenn der Vater also gar nicht mehr mochte, würde der kleine Hof an ihm, an Jules hängenbleiben. Aber noch war es nicht so weit. Nach aussen, auf die Fragen, begründete er seine Auswanderung mit viel abwägendem Dafür und Dawider, innerlich aber war die Antwort fast beschämend einfach: weil ich Lust habe! Und dass sogar seine so korrekte, fromme Schwester Marie den Sprung gewagt hatte, vor vier Jahren zum ersten Mal, zusammen mit fünf anderen jungen Frauen aus dem Dorf, sich in der Zeit drüben als Näherin hatte durchschlagen können, ohne unterzugehen, nun, nach ihrem Besuch in der Heimat, mit Bestimmtheit, und schon bald wieder, zurück wollte über den Atlantik, auch das trieb ihn an, wie er sich eingestehen musste.

Die unzeitgemässe frühsommerliche Wärme saugte über Westeuropa das Wasser aus dem Boden, termische Aufwinde türmten die Kumuluswolken über dem Burgund zu barocken Ungetümen auf. Wenn sie gegen Abend die Form von Ambossen annehmen sollten, waren kräftige Gewitter zu erwarten.

"Da kommt noch etwas!", meinte Henri, als sich nach einer sanften Kurve eine besonders eindrückliche Wolkenformation in die kleinen, hochstehenden Rechtecke der Fenster schob. Es war heiss in dem mit sechs Menschen voll besetzten Abteil. Man war sich beim Essen der mitgebrachten Brote näher gekommen, beim Herumreichen von Taschentüchern, Einmachgläsern und Weinflaschen, einigte sich nun darauf, ein Fenster ganz zu öffnen, um es bald darauf wieder bis auf einen kleinen Spalt zu schliessen, weil sich kleine Russpartikel schmerzhaft hinter Augenlidern und in den Nasenschleimhäuten einnisteten.

Ein Ehepaar, ursprünglich aus Courgenay, beide in den Dreissigern, begleitet durch eine weitere, etwas jüngere Frau, war schon für ein paar Jahre in den Vereinigten Staaten gewesen, wo der Mann als Sekretär in einem Anwaltsbüro, die jüngere Frau als Hausangestellte gearbeitet hatte. Die Ehefrau schien in Erwartung zu sein. Sie wechselte ab und zu ins Amerikanische, für Jules Ohren ohne erkennbaren Akzent. Ein weiterer Mann mittleren Alters, aus dem Elsass, wohlgenährt, mit Bäuchlein, gekleidet wie ein mittelmässig erfolgreicher Geschäftsmann, der gerne mehr sein will, als er ist, reiste nur bis nach Paris, wo er im Immobiliengeschäft tätig sei, wie er behauptete. Der Ehemann, der sich als Laurence Girardin, gerne auch einfach Laurence, vorstellte, brachte, als er erfuhr, dass Jules und Henri aus Cornol kamen, das Gespräch auf die Auseinandersetzung um die geplante und dann doch nicht realisierte Uhrenfabrik, von der er offenbar gelesen hatte. Er zog die beiden auf mit der Messerstecherei, schliesslich gar Schiesserei, vom vergangenen Herbst vor dem Gasthaus Boeuf.
"Ein hitziges Völkchen, die Cornoler!" schloss er seine spöttische Rede. Henri versuchte zu erklären, dass man von diesem Vorfall nicht auf die Art und Weise schliessen solle, wie die Diskussion im Dorf geführt worden sei. Zwar habe sich die Uneinigkeit über das Thema bis in die Familien hinein ausgebreitet, und manche hätten sich dabei in rüde Ablehnung, ja in richtigen Hass auf die gegenteilige Meinung hineingesteigert. Aber als es vor dem Boeuf zu jener zum Glück glimpflich verlaufenen Episode gekommen sei, hätten sich die Gemüter eigentlich schon wieder beruhigt gehabt, manche hätten sich auch versöhnlich, und für die umgebende Öffentlichkeit sichtbar, die Hand gegeben. Die zwei Streithähne seien unglückliche Exemplare einer Ausnahme, Alkohol habe eine entscheidende Rolle gespielt in jener Nacht. Henris Verteidigungsrede geriet zu lang, zu eindringlich auch, Girardin und die andern hörten schon nicht mehr richtig zu.

Jules hatte nicht antworten wollen auf die Provokation des Mitreisenden aus dem Nachbarsdorf. Sticheleien dieser Art, fand er, hatten ihren Ursprung in einer alten, immer gleichen Konkurrenz zwischen den Gemeinden, die sich, vielleicht weil sie sich ähnelten wie Zwillinge, geradezu krampfhaft voneinander zu unterscheiden suchten. Wer kannte die wahren Gründe, warum Courgenay den Bahnanschluss bekommen hatte, und nicht Cornol? Er meinte, reiner Zufall. Politische Willkür. Eine Zeit lang hatte er Hoffnungen gesteckt in das Projekt der Uhrenfabrik, aber als es ins Stocken geriet, hatte er einsehen müssen, dass wiederum nicht überzeugende Gründe ihre Wirkung entfalteten, sondern undurchschaubare Kräfte, ausgelöst und dirigiert durch Geldbewegungen und Absprachen im Hintergund. Zum Davonlaufen!

Er schaute aus dem Fenster, sah, wie der Horizont nun bedrohlich nahe unter einer schwarzen Wand zusammengepresst schien. Die Pappeln einer vorbeiziehenden Allee wurden silbern überschauert, jetzt verbogen sie sich unter den Fallwinden des aufziehenden Gewitters, begannen auch schon, abgerissene Äste von sich zu werfen. Das Bild der vom Sturm zerzausten Landschaft war plötzlich überdeutlich klar, Dampf und Rauch der Lokomotive wurden vom seitlich auf den Zug prallenden Wind auf die gegenüberliegende Seite geblasen. Das Gespräch im Abteil verebbte, man machte sich gegenseitig auf die Naturphänomene aufmerksam, die sich vor den Fenstern abspieleen. Erste grosse Regentropfen zerplatzten an den Scheiben zu schrägen Wasserstrichen, dann setzte mit schnell anschwellendem Rauschen ein gewaltiger Regen ein, die Landschaft verdunkelte sich und verschwand hinter einer bewegten Schraffur, Blitze verkehrten die Helligkeiten und Schatten für Sekunden in ihr Gegenteil, der Donner übertönte in Wellen das Geratter von Rädern und Kupplungen.

Das Gewitter zog schnell weiter, trotzdem fuhr man mit verminderter Geschwindigkeit. Wegen der unvermittelten Dunkelheit wurden in den Abteilen die Gaslaternen angezündet. Dann bremste der Zug brüsk. Gepäckstücke fielen herunter, Passariere wurden aus ihren Sitzen gehoben und auf ihr Gegenüber geworfen, angsterfülltes Geschrei mischte sich in das Kreischen der Räder, dann stand alles still. Sofort wurden überall Abteilungstüren geöffnet, und obwohl zwei Beamte in Uniform durch laute Rufe und eifriges Wedeln mit den Armen versuchten, die Passagiere am Aussteigen zu hindern, wuchs schnell die Menge der gaffenden und laut den Grund des erzwungenen Halts diskutierenden Menschen entlang der Reihe der Waggons. Ein riesiger Ast, am abgebrochenen Ende so dick wie ein Baum, war auf das Geleise gefallen.

Da an der Lokomotive keine geeignete Vorrichtung zur Räumung der Schiene angebracht war, sie verfügte über keinen Cowcatcher, wie das Ehepaar mit Amerikaerfahrung allen erklärte, die sich in ihrer Nähe befanden, musste aus der nächstgelegenen Lokremise eine der Aufgabe gewachsene Maschine angefordert werden, was immerhin dank moderner und mobiler telegrafischer Apparate schnell gelang. Trotzdem ergab sich eine Wartezeit von zwei bis drei Stunden, und man musste einsehen, dass sich die Ankunft in der Gare de l'Est in Paris auch um diese Dauer verzögern würde.

Jules setzte sich von der Gruppe der Mitreisenden aus dem Abteil ab, die begonnen hatten, sich mit Schicksalsgenossen aus anderen Wagen auszutauschen, neue Gruppen und Grüppchen zu bilden und dabei der Trasse entlang auf und ab zu spazieren. Er stolperte über den Schotter hinunter auf einen kleinen Gehweg, musste dabei hohes Gras durchqueren, wobei er auch gleich nasse Füsse bekam. Er beachtete es nicht, fühlte sich auf einmal in einer eigenartigen Hochstimmung. "Unterwegs, ich bin unterwegs", murmelte er vor sich hin. Wenn er sich jetzt aus dem Staub machen würde, er wusste nicht einmal, wo sie sich befanden, irgendwo zwischen dem Jura und Paris, niemand könnte wissen, wo er steckte. Aber er musste gar nicht weglaufen, nur warten. Er würde, verspätet zwar, aber wen kümmerte es, in Paris sein heute Abend noch. Er breitete die Arme aus und drehte sich ein paarmal um sich selbst, sang dazu: "Tourne vire-virevolte", und brach in lautes Lachen aus. Schon zeigten sie vom Damm aus mit Fingern auf ihn, man lachte, jemand nahm sein Singen auf, "tourne vire-virevolte". Wenn ihn jetzt seine Mutter sehen würde, oder Marie, sie würden sich für ihn schämen, wie so oft schon. Er aber freute sich, auf Paris, auf die Fahrt nach Le Havre morgen, und dann.

"Du warst auch noch nie in Paris, oder? Was war die grösste Stadt, die du bisher gesehen hast?
Jules schaute angestrengt zum Fenster hinaus in die Dämmerung.
"Genf. Und du?"
"Basel. Nein, Zürich ist grösser, glaube ich. Da war ich auch einmal. Schau, hier sind schon die Vororte grösser, die Häuser haben mehr Stockwerke."
"Und alles beleuchtet, sind das Gaslampen? Die sind hell!"
Der Schaffner steckte seinen Kopf ins Abteil und wollte die Passagiere daran erinnern, ihr Gepäck zusammenzusuchen, nichts zu vergessen. Sie standen sich aber bereits auf den Füssen herum, zwischen Koffern, knufften einander beim Zusammensuchen der Taschen und Körbe. Der Schaffner sagte nur:
"In fünf Minuten sind wir da, Paris, Gare de l'Est!", und zog weiter.

Die Agentur Zwilchenbart hatte ihren Reisenden bei Abschluss des Vertrags eine Broschure verteilt, worin unter anderem stand, dass man sich in der Gare de l'Est zu versammeln habe bei einem Guide ihrer Gesellschaft, der gut sichtbar ein Schild mit dem Namen derselbigen hochhalten würde. Der Guide stellte sich als eine resolute Frau mittleren Alters heraus, die ihre unbestreitbare Sichtbarkeit durch laute Rufe, "Zwilschenbarte, Zwilschenbarte!", unterstützte. Jules und Henri hatten gemeinsam einen Gepäckträger mit Rollwagen engagiert, der ihre schwereren Stücke zum Versammlungsort brachte. Hier gewannen sie zum ersten mal einen Überblick darüber, wer von den Passagieren des Zuges mit ihnen morgen auf dem Schiff die Überfahrt antreten sollte. Es waren etwa vierzig Personen. Die Frau verschob ihren Standort in eine Ecke der Eingangshalle, wo sie weitere Instruktionen abzugeben gedachte. Man folgte ihr brav. Sobald alle am gewünschten Ort angekommen waren, formierte sie die Passagiere mit resoluten Gesten, lautforschem Anreden, nötigenfalls durch Zupfen und Ziehen an Ärmeln, in einem grossen, kreisförmigen Gebilde. Die beiden zwinkerten sich zu, beide hatten dieselbe Dorfschullehrerin gehabt, die Zwilschenbarte glich ihr auch äusserlich.

Man begebe sich nun zu Fuss zum Hotel, wo es zuerst um den Zimmerbezug gehe. Dieser sei zwar, angesichts der Verspätung, sie betonte das Wort vielsagend, als seien die um sie Versammelten an diesem Ärgernis schuld, angesichts der Verspätung sei es nun ein eher symbolischer Akt, die Zimmer zu beziehen, denn schon um Mitternacht, in wenigen Stunden also, müsse man schon wieder bereit stehen für den Omnibus, der einen zur Gare St. Lazare bringen würde. Immerhin könne man sich aber im Zimmer vor dem Nachtessen, das durch die Gesellschaft organisiert und bezahlt sei, kurz frisch machen. Auch nach dem Essen sei es möglich, sich im Zimmer kurz, sie betonte, kurz, hinlegen, sofern man es nicht vorziehe, eine kleine, quasi kompakte Besichtigung des das Etablissement umgebenden Quartiers vorzunehmen.
"Uh la, reden alle Pariser so geschwollen?", flachste Henri. Gelächter der Umstehenden, strafender Blick der Zwilschenbarte.
"Also, meine Damen und Herren, bitte folgen Sie mir. Ihr Gepäck wird draussen aufgeladen und zum Hotel gefahren, bitte kontrollieren sie die Vollständigkeit, dann gehen wir zusammen. Folgen Sie meinem Schild. Es ist, wie gesagt, ein Weg von fünf Minuten."

Jules blieb stehen.
"Hör mal!" Er legte den Kopf schief und schloss die Augen. Auch Henri stand still und horchte. Im Vordergrund waren laute, oft brüske, anschwellende und verklingende Geräusche zu hören, Pferdegetrappel und, sehr laut, das Gerassel und Geratter von Eisenreifen auf Kopfsteinpflaster. Motoren, mit gemütlichen Tuktuk oder aggressivem Röhren, Peitschengeknalle, Rufe, Poltern von Fässern auf einer Rampe, Glockengebimmel der Omnibusse, Schwatzen und Gelächter vorbeihastender Passanten. Dahinter, darüber und darunter aber, und darauf wollte Jules seinen Begleiter aufmerksam machen, war ein eigentümliches Summen, Rauschen und Tönen auszumachen, das immer da zu sein schien. Das von weit her kam, und gleichzeitig überall gegenwärtig und nah sich im Ohr einnisten wollte.
"Hörst du's? So tönt Paris!"
"Ja. Wie tönt wohl New York?"
Sie mussten sich beeilen, gerade noch konnten sie sehen, dass die Gruppe in eine Seitenstrasse eingebogen war. Als sie sie eingeholt hatten, standen sie vor dem Hotel, La Ville de New York.

Die Qualität des Nachtessens erstaunte die Reisenden sehr. Ihre Müdigkeit war verflogen, oder zumindest überdeckt vom Genuss eines währschaften, dabei zarten und gut abgeschmeckten Pot au Feu, zu welchem frisches Weissbrot serviert wurde. Auch der Rotwein war trinkbar und so anregend, dass der Lärmpegel in dem hohen Esssaal in kurzer Zeit ohrenbetäubend anschwoll. Jules trank seinen Wein nach alter Gewohnheit mit etwas Wasser verdünnt. Im Gewirr der Stimmen, die sich gegeneinander zunehmend durch Rufen und Schreien zu übertönen suchten, beim Geklapper von Besteck und Geschirr, beim Scharren von Stühlen, entwischten ihm die Gedanken, noch bevor er sie richtig fassen konnte. Er versuchte, Henris Aufmerksamkeit durch Gesten auf sich zu lenken. Den Mund übertrieben bewegend und dazu gestikulierend teilte er ihm mit, dass er, Jules, genug gegessen habe und nach draussen gehen wolle für einen Spaziergang durchs Quartier. Henri bedeutete ihm, er solle ruhig gehen. Er wollte noch sein Stück Tarte Tatin fertig essen und einen Kaffee dazu trinken. Jules ging zum Aufzug, es reizte ihn, einmal ganz hinauf und wieder hinunter fahren, denn bei ihrer Ankunft hatte es so einen Ansturm auf den Lift gegeben, dass er ewig hätte warten müssen.

Nun stand er draussen im Schein einer Gaslaterne, einen kleinen Faltplan der Stadt hatte er von einem Stapel in der Reception mitnehmen können. Auf keinen Fall wollte er sich verirren in der kurzen Zeit, die ihm für die Erkundung blieb. Er ging den Weg, auf dem sie gekommen waren, zurück bis zur Kreuzung, um die Strassenschilder lesen zu können, fand seinen Standpunkt auf der Karte, Ecke Rue d' Hauteville, Rue de Paradis, im zehnten Arrondissement. Daran grenzte zu seinem Erstaunen das zweite, bis er merkte, dass die Nummerierung einer nach rechts drehenden Schneckenspirale folgte, deren Zentrum beim Louvre lag. So weit durfte er sich aber nicht vom Hotel entfernen. Er war unversehens vom Trottoir auf die Strasse geraten, was ein sehr lautes Geräusch auslöste, wie von dem röhrenden Hirsch, den er einmal gehört hatte, im Wald über dem Dorf. Ein Automobil war ihm gefährlich nahe gekommen, und nun sah er auch den Beifahrer, der wütend einen dicken Gummiball traktierte und damit, durch einen Messingtrichter, den Hirschschrei erzeugte. Er rettete sich durch einen Sprung zurück, dorthin, wo er als Fussgänger hingehörte. Er nahm sich vor, bei der nächsten Seitenstrasse nach rechts abzubiegen, dann wiederum, noch zweimal, nach rechts. Damit würde ihn sein Weg automatisch wieder in dieselbe Strasse zurück führen, und er müsste nicht mehr andauernd auf den Plan schauen, könnte einfach schauen, hören, riechen. Geniessen. Er versuchte, sich das Gefühl von Freiheit vom Nachmittag wieder in Erinnerung zu rufen. Es gelang ihm, fast.

Als er um halb zwölf wieder beim Hotel eintraf, waren die meisten der Reisenden mit ihrem Gepäck auf dem Vorplatz versammelt. Henri hatte freundlicherweise auch sein Gepäck heruntergebracht. Gemeinsam luden sie es auf den bereitstehenden Lastwagen.
"Kontrollieren Sie ihr Gepäck! Haben Sie alles?"
Es war die Zwilschenbarte, die wieder das Kommando übernommen hatte. Es gab zwei Omnibusse, mit denen sie zur Gare St. Lazare gebracht werden sollten. Einer war zweistöckig, und natürlich wollten die meisten mit diesem fahren, wenn möglich oben. Jules und Henri begnügten sich damit, das technische Wunderwerk von aussen zu besichtigen, dann setzten sie sich in den einstöckigen Wagen, in dem es so viel Platz gab, dass sie sich beide, hintereinander, an ein Fenster setzen konnten. Es roch nach Benzin und Leder, alles vibrierte, weil der Chauffeur den Motor gar nie abgestellt hatte. Die beiden freuten sich wie kleine Buben auf die Fahrt.

Als der Bus in die Rue Lafayette einbog, hielt es sie nicht mehr in den Sitzen. Sie zwangen sich im schmalen Gang zwischen den Bänken nach vorn zum Fahrer, dann, als sie von ihm angeherrscht wurden, sie sollten sich setzen, wieder zurück bis zum Heckfenster. Sie wollten, sie mussten unbedingt die ihnen unfassbar scheinende Dimension dieser Schneise durch die Stadt erfassen, welche, wie sie aus dem fernen Unterricht ihrer Dorfschule wussten, Haussmann durch die alten Quartiere hatte schlagen lassen, zur Förderung von Licht, Mobilität und repräsentativer Prachtentfaltung. Der Verkehr auf Strasse und Gehsteigen war auch nach Mitternacht noch beachtlich, die Gaslaternen warfen gelblichweisse, sich überschneidende Lichtkreise auf die wuchtigen Fassaden der sechs- bis achtstöckigen Stadthäuser, die ihnen wie endlos aneinandergereihte Paläste vorkamen. Sie bogen in spitzem Winkel nach rechts ab in die Rue Châteaudun, welche auf Höhe der Eglise de la Sainte-Trinité, römisch-katholisch, wie Henri von einer zuhause auf der Kommode stehenden Postkarte wusste, mit einem leichten Knick nach links in die Rue St. Lazare überging. Kurz darauf traf der Omnibus auf dem Platz vor dem Bahnhof ein und stellte sich in die Reihe aus einem Dutzend parallel stehender, gleicher oder ähnlicher Fahrzeuge.

Endlich im Zug, sanken die Reisenden erschöpft auf die Bänke nieder. Man nahm kaum mehr wahr, wer sonst noch im Abteil sass, mit wem man die Nacht, gerüttelt und geschüttelt auf harter Sitzunterlage, verbringen würde. Einige, darunter auch Henri, hüllten sich sofort in ihre an Haken aufgehängten Mäntel ein und suchten nach einer halbwegs bequemen Lage für ihren Kopf. Jules schob noch einmal das Fenster nach unten, als der Zug schon zu rollen begann. Die ganze Bahnhofshalle war von Schwaden aus Rauch und Dampf durchzogen, welche die schwarzen, wie riesige Tiere wartenden Lokomotiven ausatmeten. Mit tränenden Augen sah Jules zu, wie sie langsam aus einer riesigen Schachtel aus Stahl und Glas hinausfuhren in die Nacht.

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