Donnerstag, 25. Februar 2021

For men may come

Nach einem aussergewöhnlich regenreichen Mai entwickelte sich der Sommer in Sterling schön und trocken, bestimmt durch lange Perioden von Hochdrucklagen. Im August häuften sich Tage mit Wind aus Nordwest, der Nebel und Hochnebelfelder mit sich brachte. Ältere Einwohner der Township versicherten, die Anzahl der Nebeltage in Wayne County habe mit dem Ausbau der Stahlwerke in Cleveland zugenommen.

Jules blieb länger bei den Stöcklis als er ursprünglich vorgehabt hatte. Alice hielt ihr Versprechen, ihm dabei zu helfen, ein Diener zu werden. Sie fing damit an, indem sie ihm alle Aufgaben anvertraute, die mit der Führung eines Haushaltes verbunden waren. Obwohl ihrer klein sei, und sie nur eine Kinderfrau, einen Gärtner und, bei grösseren Einladungen, eine Köchin angestellt habe, seien die grundsätzlichen Notwendigkeiten, Aufgaben und Verrichtungen dieselben wie in einem grossen, reichen Haus mit einem Dutzend Angestellten. Er müsse nur seine Phantasie benützen, um die Verhältnisse im Massstab den Anforderungen künftiger Arbeitsorte anzupassen.

Und so lernte Jules, zu seinem Erstaunen leicht und schnell, wie man wäscht, bleicht und bügelt, wie man einfache und festliche Gerichte zubereitet, wie man den Tisch im Alltag deckt und für Gäste dekoriert. Er wurde ein Meister im Putzen von Silber, liess sich zeigen, wie Kleider ausgelüftet und gebügelt, Schuhe geputzt, Zeitungen und Zigarren zurechtgelegt werden mussten, damit ein Herr mit seinem valet zufrieden sei. Den Einwand, dass er sich ja kaum als Koch werde empfehlen können, oder auch nicht den Wäscherinnen die Arbeit wegnehmen wolle, liess sie nicht gelten.
"Du musst alles kennen, und einen grossen Teil auch selber ausführen können. Nur so verstehst du das grosse Ganze, die Zusammenhänge. Nur so machst du dich unentbehrlich, und darum geht es. Du musst einer werden, auf den man nicht verzichten will. Man kann dich zu jeder Zeit und unter jedem Vorwand feuern, also musst du deiner Abhängigkeit dadurch begegnen, dass du die Herrschaften von dir abhängig machst."
Im Verlaufe des Sommers wurde Jules von Alice zweimal bei Festivitäten in Sterling als Hilfskraft platziert, und er konnte dabei seine neu erworbenen Fertigkeiten erproben, unter Bedingungen des Ernstfalls, wie Alice betonte. Den ersten Auftritt erhielt er, als Kellner, bei einem Abendessen für den Stiftungsrat und die Gönnerinnen der Bibliothek, eine Runde von gegen dreissig Damen und Herren aus Wayne County und Cleveland, darunter der Bürgermeister, ein Senator, eine schwerreiche Witwe, alteingesessene und neureiche Ehepaare aus Sterling, Vertreter der babtistischen Kirche, sowie Direktoren von Schulen. Jules machte seine Sache gut, Alice hatte wenig zu beanstanden. Mit den Damen solle er etwas zurückhaltender umgehen, diese würden seine freundliche Zuwendung zwar schätzen, zumindest zwei der anwesenden Männer hätten jedoch durch Blicke ihre leise Missbilligung ausgedrückt. Einmal habe er von links anstatt von rechts einen leeren Teller abgeräumt, ein bis zweimal zuviel Wein eingeschenkt. Jules war mit der Kritik einverstanden und versprach Nachbesserung.

Bei der zweiten Gelegenheit, einer grossen Sommerparty im Garten des Sommerhauses einer mit den Stöcklis befreundeten Familie, wurde Jules unverhofft zum Grillmeister. Eigentlich hätte er wieder als Kellner servieren sollen, aber der Metzger, der das Fleisch geliefert hatte und es auch braten wollte, rutschte mit dem Messer aus und fügte sich eine tiefe Wunde am linken Daumen bei. Er musste verbunden werden von einem Arzt, der sich zum Glück unter den Gästen befand, konnte allerdings nur mehr eingeschränkt weiter arbeiten. Es entstanden Verschiebungen in Hierachie und Aufgabenbereichen des Personals, und Jules landete zusammen mit einem Gehilfen des Metzgers hinter dem Gartengrill. Er briet den ganzen Abend riesige Steaks, kam selber kaum zum Essen und Trinken, und musste am nächsten Tag seine stinkenden Kleider waschen.
"Hat das gezählt?", fragte er Alice.
"Natürlich, ein Jack of all trades musst du werden, und master of many."

Jules war froh darüber, dass er sich auch sonst in Haus und Garten der Stöcklis nützlich machen und so seinen Aufenthalt zu einem Teil verdienen konnte. Er schnitt den Rasen, mit einem zweirädrigen Gerät, das ihn in seiner Funktionsweise faszinierte. Die Wiese hinter dem Haus sah nach dem Mähen fast so aus, als seien Schafe oder Pferde darauf gewesen, mit sauber abgebissenen Halmen. Fast alle Häuser in Sterling standen auf solchen Weiden, auf denen aber ausser Hunden keine Tiere zu sehen waren. Die Häuser, auch das von Florent und Alice, waren nur darauf ausgelegt, bewohnt zu werden. Es gab kaum Ställe, nur wenige Scheunen, und auch keine Werkstätten im ersten Stock. Wie Florent erzählte, hatten die ersten Autobesitzer ihre Fahrzeuge in den Kutschenhäusern der Fuhrunternehmen eingestellt, gegen Miete, nun wurden Scheunen dafür leer geräumt oder, wer auf sich hielt, baute sich, wie er das getan hatte, eine eigene garage für das Automobil.

Jules bürstete die Nordfassade des Hauses herunter und strich sie wieder, in blendendem Weiss. Er reparierte das Geländer der Vorterrasse, fettete die Scharniere aller Fenster und Türen, kletterte auch mit der Leiter aufs Dach, um die Dachkänel vom Laub zu befreien und, weil er schon einmal oben war, die Kamineinfassung zu putzen und mit Bleimenninge zu streichen. Manchmal arbeitete er mit Henri zusammen, der noch immer zögerte, sich Land zu kaufen. Florent hatte ihm angeboten, seine Obstbäume zu bewirtschaften, die kommende Ernte zu organisieren und durchzuführen. Darüber schien er froh zu sein, er brauchte Zeit.

Florent war im Spätsommer oft nervös wegen seiner Geschäfte an der Börse. Irgendetwas war im Gange, Jules durchschaute nicht alles, worüber man sich als Geldanleger Sorgen machen musste. Soviel er verstand, spielten trust companies eine gefährliche Rolle bei der Entwicklung, weil sie sich, wie Florent beklagte, aufführten wie Banken, aber, weil sie nicht so hiessen, sich nicht an die seit dem letzten Jahr geltenden Gesetze betreffend genügender Geldreserven halten mussten. Bestimmte Namen wurden immer wieder genannt, Augustus und Otto Heinze, zwei Spekulanten, die offenbar versuchten, im Geschäft mit Kupfer die Oberhand zu bekommen, oder Knickerbocker, der merkwürdige Name einer der Gesellschaften.

Jules meinte manchmal Anzeichen dafür zu spüren, es könnte Florent stören, dass sich seine Frau so viel mit ihm und seiner Ausbildung zum Diener beschäftigte. Vielleicht war ihre Kritik an seiner zu geringen Distanz zu den Damen ein feiner Hinweis darauf gewesen, er solle im Umgang mit ihr zurückhaltender sein. Jules kündigte deshalb frühzeitig, bei einem gemeinsamen Nachtessen, seine Rückkehr nach New York an. Im November werde seine Schwester Marie ankommen, zusammen mit einer Gruppe von jungen Auswanderern aus Cornol. Er wolle schon etwas früher wieder in der Stadt sein, um ihr bei der Ankunft behilflich zu sein. Für sich werde er schon etwas finden.

Alice hatte geschwiegen zu seinen Plänen. Beim Kaffee dann holte sie ihr Adressbuch und setzte sich neben Jules.
"Es bleibt noch etwas zu tun. Du brauchst jemanden, der dich für eine gute Stelle empfiehlt, jemand, der sich auskennt und mit entscheidenden Personen vertraut ist. Es gibt zwar viele Agenturen in New York, die Hausangestellte vermitteln, du erkennst sie an den Schildern, auf denen Servants steht, manche Strassenzüge sind voll davon. Aber dort musst du schon bezahlen, damit nur dein Name auf eine endlose Liste gelangt. Ich gebe dir die Adresse von Edmond Jacquelin, einem Franzosen, den wir als Butler bei den Guthries kennengelernt haben. Er hat sich selbstständig gemacht, vermittelt Hausangestellte auf hohem Niveau. Da er von den Herrschaften angefragt wird nach geeigneten Personen, bezahlen sie ihn auch. Dich kostet es nur etwas, wenn du seine Dienste bei der Einführung in deine Aufgaben in Anspruch nimmst. Da kannst du Umfang und Preis mit ihm aushandeln. Ich werde ihm schreiben und ihn bitten, dich unter seine Fittiche zu nehmen."

Jules verliess Sterling anfangs September 1907. Florent brachte ihn mit dem Automobil nach Akron, wo er die neue Bahn der Ohio Electric bestieg und bis Cleveland fuhr. Dort kaufte er sich ein Ticket bis Buffalo, weil er die Niagarafälle anschauen sollte, wie die Stöcklis kategorisch gefunden hatten. Er versprach sich nicht viel davon, dachte aber an Berthe, die es ihm nicht verzeihen würde, sollte er an dieser Attraktion vorbeifahren, ohne ihr eine Karte zu schicken. So wandelte er schliesslich mit vielen andern Besuchern auf den Stegen und Brücken der Goat Island und bewunderte die Horseshoe Falls. Und er musste sich eingestehen, dass er schwer beeindruckt war. Das Rauschen der Wassermassen war überall, es füllte den weiten Raum der Landschaft wie eine Substanz. Wenn Jules sich versuchsweise die Ohren zuhielt, war es immer noch vernehmlich da. Er schaute lange von oberhalb der Fälle zu, wie das Wasser gleichmütig auf die gekrümmte Kante zufloss, beobachtete kleine Enten, die sich gefährlich nahe zum Abgrund hin treiben liessen, um sich erst im letzten Moment, mit wilden Bewegungen von Flügeln und Beinen, zu befreien. Bestieg man eine der Plattformen, die seitlich, auf halber Höhe der Wasserfälle angebracht waren, konnte man sehen, wie sich das Wasser im Sturz zerfledderte, zuerst noch weissen Zöpfen ähnelte, dann in Nebelwolken zerstiebte, welche einmal hierhin, einmal dorthin trieben, alles benetzend. An Kiosken konnte man Ölzeug ausleihen, er hatte das ausgeschlagen und war bald durchnässt. So verzichtete er auf eine Fahrt mit dem kleinen Dampfboot, mit dem klingenden Namen Maid of the Mist, und schaute nur von weitem zu, wie es, wagemutig und vorsichtig zugleich, in die Gischtwolken hineinfuhr, und rückwärts wieder hinaus. Jules kaufte sich ein paar Postkarten mit Briefmarken, setzte sich auf einer Kaffeeterrasse in die Sonne, und schrieb. An seine Schwester Augustine in Basel, an den älteren Bruder im Grenzdienst, ebenfalls in Basel, an Berthe und Clara, Maman und Papa in Cornol. Seine Schrift war ungelenk, er hatte schon länger nicht mehr so viel geschrieben. Die Schwielen an den Händen aber waren fast verschwunden.

Im Oktober 1907 brach die Panik aus. Der Versuch der Heinze-Brüder, die Kontrolle über die United Copper Company zu erlangen, scheiterte. Unzählige Banken, welche das waghalsige Unternehmen finanziert hatten, wurden nun von Kunden bedrängt, die ihre Einlagen zurückforderten. Da aber wiederum fast alle ihre Reserven bei den übermächtigen Banken von John P. Morgan hinterlegt hatten und dieser sich weigerte, die Gelder vor Ende der Turbulenzen herauszugeben, brach ein Chaos aus, das die Kurse an der New Yorker Börse halbierte und die Knickerbocker Trust Company, immerhin die drittgrösste Treuhandgesellschaft der Stadt, in den Abgrund stürzte. Und es kam zu Stürmen auf die Banken. Jules befand sich an einem dieser Tage in der Nähe der Wall Street, als sich die Strassen innert einer Stunde mit tausenden besorgter und wütender Menschen füllte. Man zog vor die Portale der Banken, bei denen man seine Ersparnisse in Sicherheit geglaubt hatte, und wollte sie nun, da alles zusammenzubrechen drohte, zu sich nehmen, irgendwohin bringen, wo kein Durcheinander herrschte. Aber die Banken waren geschlossen, manche der Glasfronten waren mit Brettern zugenagelt worden in Erwartung heftiger Zornesausbrüche der Bevölkerung. Diese verhielt sich aber erstaunlich gefasst, die Polizei konnte im Hintergrund verbleiben, wie Jules feststellte. Man hörte nur die eifrigen, aufgebrachten Stimmen der Menschen, die zwischen den hohen Fassaden widerhallten.

Jules wohnte nun in einem Quartier, in dem es ihm sehr gut gefiel, auch wenn es einen schlechten Ruf hatte: Hell's Kitchen. Er vertiefte seine Fähigkeiten, anderen Menschen zu Diensten zu sein, indem er in einem kleinen Kaffee als Kellner arbeitete. Julien's Crocery and Bakery bot einen kleinen Raum mit fünf sechs Tischen im Hochparterre, das man über eine Eisentreppe erreichte. Dort trafen sich französisch sprechende Auswanderer aus dem Jura und aus Frankreich, und merkwürdigerweise auch Iren, unter denen es sich herumgesprochen hatte, dass man in dem Lokal frisch gebackene Wähen essen könne wie nirgendwo sonst. Jules Gehalt war sehr gering, man ging davon aus, dass er sich um Trinkgeld bemühe und die niedrige Miete für das Zimmerchen unter dem Dach mit in Rechnung stelle. Er war damit zufrieden. Alice hatte ihm geschrieben, dass sich der ehemalige Butler Jacquelin bald bei ihm melden werde, und so sah er seine momentane Tätigkeit als vorübergehend an. Er schrieb Fiona einen für sein Empfinden sehr langen Brief. Und bald sollte Marie ankommen.

Marie hatte ihm geschrieben, dass sie am Martinstag abreisen werde, zusammen mit Cousin Jean Babtiste Crétin, Anaïse Adam und Joseph Grillon, alle aus Cornol. Jules fragte deshalb ein knappe Woche später bei den French Lines nach, wann die Ankunft der Tourraine zu erwarten sei. Im Verlaufe des 18. November, wurde ihm mitgeteilt. Er wollte die kleine Reisegruppe begrüssen, auch wenn zu erwarten war, dass sie gleich nach Ellis Island weiterfahren müssten, weil sie im Zwischendeck reisten. Und so war es dann auch. Seine Schwester sah müde aus, als sie den Gangway herunter schritt. Sie liess sich von ihm umarmen, musste sich an ihm festhalten, weil der Boden unter ihr zu schwanken schien. Drei Tage lang war ihr zum Sterben schlecht gewesen, dann sei es ihr plötzlich wieder gut gegangen. Nun aber, auf dem fest gebauten Pier, erinnerte sich ihr Körper an das Schwanken. Jules war froh, dass sie lachen konnte. Die Passagiere aus dem Zwischendeck wurden von Beamten zur Eile angetrieben, man kontrollierte streng, dass niemand die Schranken durchbrach oder überstieg, welche die Menschen wie eine Schafherde in die Richtung der bereit stehenden Fähren zwang. Man winkte sich zu, Jules rief Marie nochmals den Namen des Kontaktmannes in Erinnerung, bei dem sie sich nach Abschluss des Verfahrens melden sollte. Dann musste sie einsteigen.

Am ersten Sonntag nach der Ankunft der Cornoler kam Jules, zum ersten Mal seit er in Amerika war, wieder zu einem Kirchgang. Wenn das seine Mutter gewusst hätte! Marie fragte zum Glück nicht, sie nahm wohl an, dass er an allen Orten, an denen er sich bisher herumgetrieben hatte, nach einer katholischen Kirche Ausschau gehalten und seine religiösen Pflichten erfüllt habe. Sie hatte als Adresse eine Cousine, Liane Rondez, angegeben, und auch eine Nacht bei ihr in der Kammer verbracht, bei vornehmen Herrschaften, die eine Mansion am Riverside Drive besassen. Nun aber hatte sie eine feste Bleibe im Home Jeanne d'Arc, einer katholischen Einrichtung für alleinstehende Frauen, die am westlichen Teil der vierundzwanzigsten Strasse ein grosses Haus betrieb, in unmittelbarer Nähe zur Kirche St. Vincent de Paul, wo sich die französich sprechenden Katholiken von New York zur Messe, aber auch zu Familienfesten und kulturellen Veranstaltungen trafen. Marie fühlte sich wohl in dieser Umgebung. Auch nach dreieinhalb Jahren sprach sie noch kein Englisch, verstand gerade so viel, wie es an ihrer Arbeitsstelle als Näherin in einer kleinen Manufaktur nötig war. Hier aber, an einem Sonntag in ihrer Kirche, war sie im Element. Als sie sich auf dem Vorplatz der Kirche trafen, und sich wegen dem Läuten der Glocken kaum verständigen konnten, wurde Jules von einem seltsam heimatlichen Gefühl erfasst, das bis ans Ende der Messe anhielt. Das Hochamt, gesungen und gesprochen in vetraut nasalem Lateinisch, die Predigt, in der ein Pfarrer mit rot glänzender Glatze den Gläubigen einschärfte, sich von den Wirrungen des weltlichen Marktes nicht den Kopf verdrehen zu lassen, er erreichte mit rhetorischen Mitteln, dass alle über die Panik nachdachten, ohne dass er sie benennen musste, alles kam ihm kürzer, unterhaltsamer und stimmiger vor, als er es von ähnlichen Veranstaltungen zuhause in Erinnerung gehabt hatte. Von Weihrauch wurde reichlich Gebrauch gemacht, die Choreografie der Messdiener war voraussehbar, aber präzise. Er konnte wieder einmal seine Stimme singen hören, und obwohl er darin nie besonders geschickt gewesen war, tat es ihm gut. Nach der Messe gab es im Saal des Gemeindehauses Tee und Kuchen für die Neuankömmlinge und ihre Angehörigen. Es ging laut zu, fröhlich. Marie war sichtlich glücklich, und stolz, ihren Bruder dabei zu haben.

Im Dezember kam Edmond Jacquelin zum ersten Mal in Julien's Kaffee. Ein etwas korpulenter, grosser und eindrucksvoller Mann in der Mitte der Fünfziger. Tadellos und auf Mass gekeidet, mit goldener Uhrkette, modisch gebundener Kravatte, teuren zweifarbigen Schuhen. Seine gepflegten Hände schienen weich, ebenso das frisch rasierte Doppelkinn. Er war Jules nicht auf Anhieb sympathisch, aber weil er die Begegnung mit dem Vermittler Alice verdankte, die sich davon einiges für ihn versprach, verschob er ein endgültiges Urteil auf später. Was, wie sich herausstellte, die richtige Entscheidung war. Jacquelin wusste und kannte wirklich alles, was dem Zusammenbringen reicher Arbeitgeber mit tüchtigen Hausangestellten förderlich war. Seine Beziehungen zu ersteren reichten bis hoch hinauf in die Etage der ganz Reichen. Und er verstand es, aus ehrgeizigen Zöglingen wahre Meister ihres Fachs zu formen. Mit Jules hatte er spezielle Pläne. Nachdem er ihn über seine Kenntnisse bezüglich der gentlemen's clubs in New York und in den Vereinigten Staaten ausgefragt und festgestellt hatte, dass Jules nichts wusste davon, führte er ihn während mehrerer Treffen in seinem Büro in Midtown an diese seltsame, aber offenbar entscheidend wichtige Struktur der Entfaltung und Erhaltung von Macht heran. Dabei kam er immer wieder auf einen erst vor ein paar Jahren eröffneten Club mit dem Namen The Brook zu sprechen, der aus der Separation von Mitgliedern mehrerer renommierter Clubs entstanden sei. Es gebe eine Anekdote, die aber wahrscheinlich Unsinn sei, dass zwei Mitglieder des Union Clubs einem andern ein rohes Ei auf der Glatze aufgeschlagen hätten und deshalb aus dem Union ausgeschlossen worden seien. Das Spezielle am Brook sei die kleine Anzahl der Mitglieder, nur hundert, sowie die Art der Rekrutierung, ausschliesslich über Einladung aus dem Inneren. Viele wichtige Männer New Yorks würden immer noch heimlich auf eine Einladung warten. Gäste seien nicht zugelassen, dafür erhebe der Club den Anspruch, für die Mitglieder das ganze Jahr hindurch vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet zu bleiben. Dieser Umstand sei es nun, der ihm, Jules, eine Chance eröffne, denn das Angebot erfordere, wie man sich leicht vorstellen könne, die zwei bis dreifache Anzahl an Angestellten, die in Schichten arbeiteten. Die Arbeit während der Nacht sei verständlicherweise nicht beliebt, weshalb es nicht unmöglich sei, Jules dort unterzubringen, vorausgesetzt, dass er einen auf den Kopf gestellten Lebensrhythmus ertrage.

Jules ertrug das, während der kommenden dreieinhalb Jahre, bis zu seiner ersten Rückkehr nach Cornol, und zwar recht gut. Am Anfang konnte er nicht schlafen am Tag, bis ihm ein Kollege eine grosse Augenklappe besorgt hatte und er sich an die Umstellung zu gewöhnen begann. Ihre Kammern lagen unter dem Dach des Clubhauses, sie waren eng, im Sommer unerträglich heiss, im Winter fror das Wasser in den Krügen. Es war eine Herausforderung, in den beengten Verhältnissen des Stockwerks der Hausangestellten, genauso alles Männer wie die Mitglieder, den tadellos faltenfreien Zustand der Kleider und die dosiert parfümierte Sauberkeit des Körpers zu erhalten, die in dem Etablissement ohne Wenn und Aber gefordert wurden. Man erwartete von Jules, dass er so schnell wie möglich alle Mitglieder mit Namen kenne und korrekt begrüssen könne. Der Hausbutler hatte dazu eine Wand eingerichtet mit Namen und, dort wo es möglich war, mit einer Fotografie. Vor dieser Wand standen sie oft wärend der Zimmerstunden, und memorierten die Köpfe und Namen der Kundschaft.

Einige merkte man sich leicht, weil sie im Club zu leben schienen. Es gab solche, die während der Nacht zunehmende Betreuung brauchten, weil sie sich betranken, und dabei trübsinnig oder aggressiv wurden. Und es gab überbordend lebenslustige, deren Erzählungen über Reisen und Abenteuer auch für die im Hintergrund wartenden Angestellten ein Gewinn waren, weil sie ihnen die Zeit vertrieb und für Gesprächsstoff im obersten Stock sorgte. William Kissam Vanderbilt der Zweite war so einer. Unendlich reich, vernarrt ins Segeln, ins Reisen, und in schnelle Autos. Immer wieder erzählte er von seinem erfolgreichen Geschwindigkeitsrekord zu Land, 1904, in einem Mercedes-Rennwagen in Daytona. Wenn Vanderbilt im Hause war, flachsten die Angestellten im Gang:
"Wie schnell war er gewesen?"
"Ninety-two point three miles per hour!"
Vanderbilt war es auch, der am langen Tisch, auf dem durchgehend Kerzen brannten, an dem man zu jeder Tages- und Nachtzeit Gesprächspartner finden sollte, regelmässig den letzten Vers des Gedichts von Tennyson aufsagte, das dem Club den Namen gegeben hatte:

And out again I curve and flow
To join the brimmer river
For men may come and men may go
But I go on for ever

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