Sonntag, 7. März 2021

Wirst du auf mich warten?

An einem Nachmittag, anfangs September 1910 wurde Jules von Marie unverhofft aufgesucht. Da sie als Frau keinen Zugang zum Club hatte, liess sie ihn herausrufen. Man musste ihn wecken, Marie wartete geduldig auf der Strasse. Er sah gleich, dass sie besorgt war. Maman hatte ihr geschrieben, dem Vater gehe es nicht gut, sein Husten werde nicht besser, und sie bekomme ihn am Morgen nicht aus dem Bett. Marie war entschlossen, so schnell als möglich nach Cornol zurückzukehren, und sie schien davon auszugehen, dass er sie begleite. Jules versuchte ihr zu erklären, was das für ihn bedeute. Er verliere seine Stellung, denn Heimaturlaub sei für die Angestellten des Brook nicht vorgesehen. Also wolle er das zuerst mit Edmond Jacquelin besprechen und ihn fragen, ob er ihm für die Zeit nach seiner Rückkehr eine neue Arbeitsstelle vermitteln könne. Er werde aber sicher die Eltern auch besuchen und nach Papa schauen, sobald er könne, vielleicht halt erst im November. Marie wollte nicht so lange warten, also machten sie aus, dass sie ein Billet für das nächstbeste Schiff nach La Havre besorgen sollte.

Wie erwartet, war Edmond nicht glücklich über Jules Entscheidung. Er hatte gerade in letzter Zeit Hinweise bemerkt, und sie an Jules weiter gegeben, die auf eine mögliche bevorstehende Beförderung in eine höhere Funktion, auf eine höhere Stufe der Hierarchie, hindeuteten. Aber nun sei es eben so. Wenn es ihm, Edmond, gelinge, ihn dauerhaft bei wohlhabenden oder, noch besser, reichen Herrschaften unterzubringen, könne es in Zukunft auch sein, dass ihm nach einem Besuch der Eltern die Stelle offen gehalten, ja sogar, im glücklichsten Fall, die Reise bezahlt werde. Er werde schauen, was sich machen liesse. Wenn Jules anfangs Jahr zurückkomme, was er doch sehr hoffe, könne es allerdings sein, dass er sich in New Jersey aufhalte, in Ho Ho Kus. Dort entwickle sich etwas, ein projet, wie er es bezeichnete, das interessant, ja vielversprechend sei. Vielleicht ergebe sich da etwas für Jules. Er werde sich melden, per Telegramm.

Jules kam der Abbruch im Brook recht. Alles, was er dort zu tun hatte, war zur Routine geworden, und auch wenn seine daraus folgende Geschmeidigkeit nun zu einem Aufstieg geführt hätte, musste er sich eingestehen, dass er sich schon länger langweilte. Die Aussicht, bald nach Cornol zu reisen, ohne zu wissen, wann er wieder zurückkehren werde, verstärkte in ihm den Wunsch, Fiona zu sehen. Er war überrascht über die Deutlichkeit dieses Gefühls. Seit er sie auf dem Schiff kennengelernt hatte, war es ihnen nur ein paar wenige Male möglich gewesen, sich zu treffen. Fiona arbeitete die meiste Zeit im Haus der Blums, und wenn sie ihre Herrschaften nach Manhattan begleiten musste, geschah dies ohne Vorankündigung, so dass es Jules unmöglich war, mit seinen Vorgesetzten einen freien Tag auszuhandeln. Am einfachsten war es an allgemeinen Festtagen gewesen, an St. Patricks Day oder über Weihnachten, wobei Fiona an diesen Tagen auch vielen Verpflichtungen gegenüber Freundinnen und Verwandten nachgehen musste. Die Begegnungen hatten Jules immer in Zwiespalt gebracht. Nachdem die grosse Vorfreude, sein Begehren, ein erstes, dann noch ein zweites Mal ins Leere gelaufen waren, weil sie kaum eine ruhige Minute für sich gehabt hatten und Fiona sich in leutseliger Fröhlichkeit mehr ihren Freunden und Bekannten zuwandte als ihm, jedenfalls meinte er das, war er vorsichtig geworden und verbot sich allzu hohe Erwartungen. Dabei war er nicht immer enttäuscht worden, denn Fiona konnte sich auch plötzlich, völlig unvorhersehbar, ihm herzlich, ja sogar zärtlich zuwenden. Wenn er sich an solche Momente erinnerte, wurde Jules von Unruhe ergriffen. Er hatte oft Magenschmerzen, was er bisher nie gekannt hatte. Die körperliche Reaktion verwirrte ihn, weil er den Grund dafür nicht einsah, sein Bauch aber deutlich einen quälenden Schwebezustand missbilligte.

Erst jetzt, wo sich seine Zeit als Diener und Kellner im Club ihrem Ende näherte, gestand er sich ein, dass ihn die Arbeit nicht nur zu langweilen begonnen hatte, sondern ihm auf die Dauer auch nicht gut tat. Er hatte kaum Freunde oder Bekannte, weil er nachts arbeiten und am Tag schlafen musste. Der Umgang mit seinen Arbeitskollegen war im Dienst durch strenge Verhaltensregeln fast gänzlich unterbunden, und sogar bei den Mahlzeiten im Esszimmer der Angestellten ging es, unter den strengen Augen des Hausbutlers, fast so zu wie im Refektorium eines Klosters. Mit einem einzigen Kollegen, mit Estève Sabatier, einem Südfranzosen, der etwa zwei Jahre jünger war, verband Jules eine Beziehung, die er auch Freundschaft genannt hätte. Seit einem halben Jahr, seit dem Weggang seines ersten Zimmergenossen, den er nicht hatte ausstehen können, teilte er mit Estève die Kammer. Dieser hatte die Initiative ergriffen und bei den Vorgesetzten erreicht, dass sie gleichzeitig Dienst tun konnten. Seither redeten sie nach ihrer Schicht oft noch stundenlang, bis einer von ihnen verstummte und einschlief.

Estèves liebstes Thema waren die Frauen, er schien sie sehr gut zu kennen, wobei ihm Jules nicht alle seine Geschichten glaubte. Manches war sicher Prahlerei, aber die Art und Weise, wie er über unscheinbar feine und feinste Verhaltensweisen und Äusserungen seiner weiblichen Bekanntschaften nachdachte, welche Folgerungen er für sein eigenes Verhalten daraus ableitete, wie er dessen Wirkung, die dadurch angeschubste Entwicklung von Liebesbeziehungen beschrieb, übte auf Jules eine starke Anziehung aus, obwohl es ihn gleichzeitig befremdete. Wenn er Estève von sich und Fiona erzählte, hörte dieser aufmerksam zu, stellte ab und zu eine Frage, hörte wieder zu. Nie äusserte er die Art von Sprüchen und Witzen, die Jules von den Männern im Dorf zu hören bekam, wenn es um solche Themen ging. Als er ihm von seinen Bauchschmerzen erzählte, und davon, dass er sich nicht entscheiden könne, fragte Estève:
"Was meinst du damit? Wozu entscheiden? Dass du sie liebst, zumindest in sie verliebt bist, ist ja deutlich sichtbar. Dann sag es ihr halt! Was sie darauf antworten und tun wird, musst du erst mal ihr überlassen. Das ist ungewiss, ja. Aber aus Angst, sie könnte dich zurückweisen, gar nichts zu sagen, macht es nicht einfacher. Dagegen macht dein Bauch mit Recht Aufstand!"

Als Jules dem Sekretär des Brook seinen Plan bekannt gab, Ende November die Eltern im Jura besuchen zu wollen, wurde er sofort ausbezahlt und musste sein Zimmer innerhalb von zwei Tagen räumen. Edmond half ihm, eine günstige Unterkunft zu finden, wieder in Hell's Kitchen, und so hatte Jules plötzlich ein paar ruhige Wochen vor sich, mit viel freier Zeit. Er brauchte einige Tage, um seinen Rhythmus zwischen Schlafen und Wachsein wieder an denjenigen normaler Menschen anzupassen. Er hoffte, dass Fiona vor seiner Abreise noch einmal nach Manhattan käme, und dann auch Zeit für ihn fände. Thanksgiving, so dachte er, könnte so eine Gelegenheit werden, also kaufte er sich bei der Schiffahrtsgesellschaft ein Billett für die Überfahrt gleich danach.

Er hatte Glück. Mr. und Mrs. Blum gewährten Fiona über die Festtage drei volle freie Tage. Dazu erlaubten sie ihr, erst am Sonntag Abend nach Hartsdale zurückzukehren. Dann könnten sie noch zusammen die Messe in der St. Patricks Cathedral besuchen, schrieb sie. Ihre Adresse fand er erst, nachdem er ihre Karte nochmals genau angesehen hatte. Sie stand, in winzigen Buchstaben und um neunzig Grad gedreht, in der Mitte: Mr. and Mrs. O'Fallan, 115 W, 33th Str.. Das war die Adresse von Liam, dem jüngsten Bruders von Fionas Mutter. Jules war schon einmal kurz dort gewesen. Er merkte, wie die Vorfreude in ihm hochstieg. Die O'Fallens waren ausserordentlich freundliche Leute. Liams Frau war nicht viel älter als Fiona. An ihren Namen konnte er sich nicht mehr genau erinnern, so etwas wie Kiwa, oder Kuiwa (Caoimhe). Er wusste aber noch, dass der Name ganz anders geschrieben wurde als man ihn aussprach. Sie arbeiteten beide für ein grosses Schneideratelier im Viertel, er als Buchhalter und sie als Näherin. Ihre Wohnung war nicht gross, aber günstig gelegen und bezahlbar. Und da sie kinderlos waren, blieb sogar ein Zimmer frei. Sie waren beide glücklich, wenn sie Besuch hatten, wie Fiona im erzählte, das tröste sie ein wenig darüber hinweg, dass sie keinen Nachwuchs bekommen konnten.

Jules nahm an, dass für Donnertag Abend ein traditionelles Truthahnessen vorgesehen war. Sonntags wollte Fiona mit ihm zur Messe gehen, am Samstag ziemlich sicher in ein Tanzlokal. Also blieb ihm nur der Freitag, um sie mit einem eigenen Vorschlag zu überraschen. Er ging, um Rat bei Estève zu holen, an einem frühen Abend im Club vorbei, in der Hoffnung, seinen Freund zwischen Aufstehen und Arbeitsbeginn zu erwischen. Als er fast vor dem Eingang stand, kam ihm in den Sinn, es wäre besser, nicht selber nach Estève zu fragen. So schnappte er sich einen kleinen Jungen, der gerade einen der Schuhputzer ablösen wollte, die in der Nähe des Clubs auf Kundschaft warteten. Er gab ihm eine Münze, nannte ihm Estèves Namen. Er solle ausrichten, dass jemand auf der Stasse auf ihn warte. Als Jules sah, dass der Bub barfuss war, fragte er den Schuhputzer, ob er dem Kollegen schnell seine Schuhe ausleihen könne. Nachdem auch dieser seinen Teil bekommen hatte, flitzte der Junge, ohne Socken und in viel zu grossen Schuhen, die Eingangstreppe zum Club hoch. Als er vom hinter der Türe wartenden Portier hereingelassen wurde, war Jules sicher, dass seine Botschaft ankommen würde. Er musste eine Weile warten, dann kam zuerst der Junge wieder, ihm zunickend, dann erschien Estève. Er wirkte verschlafen, schien sich aber zu freuen, als er Jules sah, umarmte ihn sogar kurz.
"Du siehst gut aus! The Brook scheint dir nicht zu fehlen."
Jules schüttelte den Kopf und lachte.
"Nein, wirklich nicht. Ich habe ihn schon fast vergessen. Aber dich brauche ich, für einen Rat. Fiona kommt über Thanksgiving."
"Oh, gratuliere! Und was kann ich...?"
Jules sah sofort an Estèves gerunzelter Stirn und fragendem Blick, dass dieser sich falsche Vorstellungen darüber machte, wozu seine Kenntnisse gefragt waren. Er bereute es schon, hierher gekommen zu sein. Und obwohl er vorhatte, seine Frage nach einer passenden Abendunterhaltung kühl vorzubringen, spürte er, wie ihm die Röte in die Wangen stieg.
"Wohin würdest du eine Frau ausführen, am Freitag Abend nach Thanksgiving?"
Estève war verdutzt. Dann musste er selber lachen über sein Missverständnis.
"Ach so! Ehm..."
Wieder lachte er laut heraus. Dann sagte er, betont sachlich:
"Ich würde ins Theater gehen mit ihr. Davor, und vielleicht auch nochmals danach, etwas Kleines essen gehen. Trinken erst nachher, sonst schlaft ihr ein, wenn das Stück schlecht ist. Es wird da eine operetta gezeigt, 'The Chocolate Soldier', im Casino Theater, die wollen alle sehen. Und..., gerade fällt mir ein, darin kommt ein Schweizer vor, der den Damen den Kopf verdreht. Das würde doch passen? Die Handlung muss ziemlich wirr und kompliziert sein, aber die Musik sei gut."
Jules hat Zweifel, ob dies das Richtige sei, trotzdem fragt er nach:
"Bekommt man da noch Tickets? Wo kauft man die?"
"Ja, das ist ja erst in zwei Wochen, da sollten noch Plätze frei sein. Es läuft schon eine ganze Weile. Die Tickets kannst du direkt beim Theater kaufen, ich glaube, ab dem frühen Nachmittag ist der Kiosk geöffnet. Da bekommst du auch ein Programmheft."

Am Morgen vor Thanksgiving wachte Jules sehr früh auf. Er meinte, gar nie richtig geschlafen zu haben in dieser Nacht, auch sein Magen begann wieder zu drücken. Obwohl es noch dunkel war, stand er auf und füllte sich im Bad den grossen Krug mit frischem Wasser. Dann zog er sich nackt aus und wusch sich sorgfältig mit der Seife, die er am Vortag gekauft hatte. Er war froh, die Verkäuferin darauf hingewiesen zu haben, dass die Seife für ihn selber sei, und dass sie ihm eine ausgesucht hatte, die für einen Mann wie ihn passe, wie sie versicherte. Nun kam ihm der Duft ziemlich blumig vor, und er musste den Gedanken beisseite schieben, was man in Cornol sagen würde, wenn er so unter die Leute ginge. Er betrachtete im Spiegel seinen Körper, der ihm mager vorkam, und fragte sich, ob er schon ein bisschen älter, männlicher aussah als früher, als zuhause. Als er sah, wie sich Brust und Arme mit Hühnerhaut überzogen, wandte er sich ab und begann sich anzuziehen. Er hatte sich ein paar Hemden waschen und bügeln lassen, Jacke und Hose seines Anzugs ausgelüftet und gebürstet. Er probierte mehrmals, die Krawatte so zu binden, wie es momentan Mode war, mit einem kleinen Knoten, der zwischen den Kragenspitzen fast verschwinden sollte, darunter die Krawatte wie zufällig verdreht. Nach dem dritten missglückten Versuch band er sie so, wie er es gewohnt war. Er faltete ein Taschentuch wie Marie es ihm gezeigt hatte, und steckte es sorgfältig in die Brusttasche, so tief, bis nur ein schmaler Streifen sichtbar blieb. Als ihm einfiel, dass er die Schuhe nochmals hatte putzen wollen, zog er die Hose wieder aus, setzte sich, auf dem Schoss eine ausgebreitete Zeitung, auf den Stuhl, salbte seine Schuhe dick mit Crème ein und polierte sie anschliessend mit Bürste und Lappen, bis sich das kleine Zimmer in den Kappen spiegelte.

Er war viel zu früh an der Grand Central Station und überlegte, ob er noch einen Kaffee trinken sollte, entschied sich aber dagegen. Als ihm ein kleines Mädchen einen Blumenstrauss verkaufen wollte, zögerte er einen Moment, bevor er ablehnte, und wurde sie erst wieder los, als er anhielt, ihr direkt in die Augen sah und streng wiederholte, no thank you!

Als Fionas Zug einfuhr, wurde die Halle erfüllt von dicken Schwaden aus Rauch und Dampf, die aussteigenden Passagiere beeilten sich mit zusammengekniffenen Augen, zum Ausgangsgitter zu gelangen. Als Fiona plötzlich vor ihm stand, wurde ihm bewusst, dass er sie ganz anders in Erinnerung gehabt hatte. Eine Dame, dachte er. Aber sie liess ihm keine Zeit, streckte ihre Arme zur Seite und liess theatralisch die Taschen auf den Bahnsteig fallen. Den riesigen Hut, der auf den hochgesteckten Haaren ruhte, holte sie mit einer lässigen Bewegung herunter, dann, als sie sein sprachloses Staunen bemerkte, hielt sie den Kopf schräg, lachte ihn an und sagte, überraschend leise:
"Hello? – Jules?"
Jules erwachte aus seiner Erstarrung. Er trat auf sie zu, nahm sie in die Arme und drückte sie vorsichtig an sich. Sie hob ihr Kinn und schaute ihm erwartungsvoll in die Augen. Als er ihr zaghaft ein Küsschen auf jede Wange drücken wollte, nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände, zog ihn zu sich heran und drückte ihre Lippen fest auf seine.
"Mhm, du riechst gut!", stellte sie anerkennend fest.
Du auch, wollte er sagen.
"Bist du gut gereist?", fragte er stattdessen.

Als Jules eine knappe Woche später mit dem Dampfschiff nach Europa fuhr, befand er sich noch immer in einem Zustand glückseliger Benommenheit. Während der drei Tage mit Fiona hatte er sein Zeitgefühl verloren, und er war sicher, dass er die ganze Dauer der Reise brauchen würde, um über die Fülle der Eindrücke nachzudenken. Er wollte auf dem Schiff möglichst mit niemandem reden, sich wieder einrenken und zur Ruhe kommen. Denn in dieser Verfassung, in der er sich fühlte, konnte er nicht im Dorf erscheinen, das war ihm klar. Man würde ihn für verrückt halten, durch den Aufenthalt in Amerika verdorben und verloren, oder, noch schlimmer, ihm von weitem ansehen, wie verliebt er war.

In seine Erinnerungen an das, was er mit Fiona erlebt hat, mischten sich immer wieder absurde Handlungsfetzen der Operette, die er mit ihr im Casino Theater gesehen hatte. Fiona sah unglaublich schön aus an dem Abend, in einem ausgeliehenen Abendkleid, er war so stolz gewesen und gleichzeitig befangen, weil er sich neben ihr wie ein Bauer vorkam, der er ja auch war. Sie hatten zwei Akte lang versucht, nicht zu laut zu lachen, über die vollkommen unwahrscheinliche Geschichte, den Namen des Schweizer Schokoladesoldaten, Bumerli, der Pralinen statt Patronen in seinem Gurt hatte, sie grosszügig an die Damen verteilte, denen dies wiederum Grund genug zu sein schien, sich in ihn zu verlieben. Die Musik war zwar ganz schön gewesen, aber weder ihm noch Fiona war die Künstlichkeit von Operettensängern vertraut, so dass sie auch während tragisch gemeinten Arien einander nicht ansehen konnten, ohne zu prusten. Die Leute um sie herum begannen sich zu ärgern, zischten und warfen ihnen böse Blicke zu. Als er gegen Ende des zweiten Aktes besonders heftig lachen musste, wollte sie ihn auf den Mund küssen. Sie stiessen mit den Zähnen zusammen und lachten nun beide. Da war es klar, dass sie gehen mussten. Diesen Moment wollte er für immer festhalten in seiner Erinnerung.

Und es gab noch andere, er ahnte eine Verbindung zwischen den Erlebnissen mit Fiona, die sich besonders tief in sein Inneres hineingewühlt hatten. Es waren Augenblicke, die ihm eigentlich hätten peinlich sein müssen, an deren Anfang die Scham bereits darauf lauerte, von ihm Besitz zu ergreifen. Wo er die Kontrolle verloren hatte und keine Möglichkeit sah, sie zurückzugewinnen. Wie jetzt auch, wo sich ihm ein geradezu lächerliches Bild aufdrängte. Er stösst eine Karrette vor sich hin, wie zuhause für den Mist, darin sitzt er selber, so, wie ihn die andern sehen, oder sehen sollten. Ein ruhiger, junger Mann, der seine Pflichten und seine Verantwortung kennt. Der vielleicht nicht sehr viel kann und weiss, aber das richtig. Und da kommt das Gefährt in Schieflage, kippt von der Planke, und alles taumelt und stürzt. Und hat nichts mehr vor sich, was ihn schützt, was die Blicke der andern von ihm ablenken könnte, der nun wie nackt dasteht.

Wie konnte es sein, dass Fiona ihn daraus rettete, wie wenn es nichts bedeuten würde, wie wenn sie die Peinlichkeit nicht sähe, oder nicht sehen wollte. Ja, sich gerade in solchen Momenten ihm zuwandte mit besonderer Zärtlichkeit, manchmal ernst, zuweilen aber auch offen belustigt. Warum wurde er durch ihr Lachen nicht zutiefst verletzt, wie erreichte sie es, ihn sogar anzustecken. Ihn einzuladen, sich mit ihr darüber zu freuen, dass man, schutzlos, nicht vernichtet, sondern geliebt wurde.

Am Abend von Thanksgiving waren sie in der engen, aber behaglichen Wohnung der O'Fallans angekommen, wo es schon wunderbar nach dem Truthahn roch, der im Ofen schmorte. Kuiwa kündigte an, dass sie noch Margaret eingeladen habe für das Essen.
"Ah, wunderbar!", hatte Fiona gesagt. "Wie geht es ihr?"
"Gut", antwortete Kuiwa, "sie wohnt noch immer ganz in der Nähe, in Timberloin, unterrichtet in der Schule an der Mulberry Street, in Soho. Es muss hart sein, aber es gefällt ihr dort."

Als Margaret vor ihm stand, wusste Jules nicht, wo er hinschauen sollte. Und als sie ihm die Hand gab und sich vorstellte, brachte er keinen Ton heraus. Warum hatte ihm niemand gesagt, dass sie schwarz war? Die ganze Zeit, seit er in Amerika war, hatte er kaum ein Wort gewechselt mit schwarzen Menschen. Er hatte gehört, dass sie in gewissen Quartieren der Stadt in der Mehrzahl waren, aber dort, wo er sich bewegt hatte, sah er sie meist einzeln oder in kleinen Gruppen. Und er hatte nichts mit ihnen zu tun gehabt. In Ohio hatten sie Laub gewischt auf Strassen und in Vorgärten. Oder sie wurden in Lastwagen auf die Felder gekarrt. Auch hier in der Stadt sah sie Jules meist in untergeordneten Tätigkeiten, als Bauarbeiter, Strassenfeger, Dienstmädchen. Im Club waren Schwarze gänzlich unsichtbar gewesen. Vielleicht hatte es welche gegeben in den Kellergeschossen, als Wäscherinnen oder Heizer, aber er hatte sie nie gesehen. Wie sich gewisse Clubmitglieder über scharze Menschen ausliessen, hatte ihn an die schlimmsten Tiraden in den heimatlichen Kneipen erinnert, gegen Zigeuner, über Fremde, woher auch immer. Und natürlich war auch immer wieder über den Aufstand von 1900 gesprochen worden wie über eine Gefahr, die immer noch da war, wobei die Clubmitglieder die Schuld an dem Konflikt ausschliesslich den negros zuschoben. Estève hatte ihm einmal eine halbe Nacht lang dargelegt, wie es wirklich gewesen sei.

Margaret stand noch immer vor ihm und wartete darauf, dass er seinen Namen sage. Fiona hatte seine Verlegenheit bemerkt, stellte sich an seine Seite und hängte sich bei ihm ein.
"Das ist unser Jules, liebe Margaret. Aus der Schweiz."
Erst jetzt konnte Jules grüssen, und Margarets fröhliche Offenheit machte es ihm leicht, sich langsam zu entspannen. Im Laufe des Abends kamen die Frauen zu Jules' Schrecken auf diesen Moment zurück und sprachen darüber, als würden sie ein vor langer Zeit begonnenes Gespräch fortführen. Margaret fand, weisse Menschen würden nach solchen Vorfällen leider zu selten Scham verspüren, dabei könne diese, wie jetzt bei Jules, dabei helfen, die Wirklichkeit so zu sehen wie sie leider sei, und wie sie verändert werden müsse. Es war schmerzhaft für Jules, auf diese Weise zum Gegenstand des Gesprächs zu werden, aber auch neu und aufregend, über das eigene Verhalten auf eine Weise reden zu hören, die nicht nur einen, sondern viele Wege aufzeigte, es anders, besser zu machen. Wenn beichten so ginge, dachte er.
"Hat eigentlich jemand ein lobendes Wort für den Truthahn übrig?", hatte Liam gefragt, und man beschloss, jetzt erst einmal anzustossen und das Essen zu geniessen. Jules spürte, wie Fiona ihn ansah. Als er ihren Blick erwiderte, hatte sie das Glas noch einmal gehoben und leise gesagt: "Auf dich!"

Liam und er hatte nicht sehr viel beitragen können zu den oft hitzigen Gesprächen der Frauen an jenem Abend. Kuiwa war eine überzeugte Suffragete, aktiver in der Bewegung noch als Florent Stöcklis Frau Alice, wie es schien. Als sie auf die Suffrage Parade vom Februar vor zwei Jahren zu sprechen kam, auf Maud Malones Ansatz des frechfröhlichen öffentlichen Protests, wusste Jules wenigstens, wovon sie redete. Er hatte diesen Marsch für das Frauenstimmrecht gesehen, war sogar ein Stück weit mitgegangen, denn die grosse Mehrheit der Menschen in dem Umzug waren Männer gewesen. Am Anfang hatte er gar nicht begriffen, worum es ging, bis er kleine Grüppchen von Frauen entdeckte, die mittendrin marschierten, ab und zu Forderungen nach dem Stimm- und Wahlrecht skandierten, die meisten wirkten fröhlich, als hätten sie den Kampf schon gewonnen. Längst nicht alle der mitlaufenden Männer gingen mit den Frauen einig, das war deutlich zu sehen, viele machten sich lustig, oder sahen in dem Ganzen einfach einen Anlass, etwas Aufregendes zu erleben. Ohne es zu wollen, und wohl auch ohne es zu verstehen, verliehen sie dem Marsch der Suffrageten aber eine beeindruckende Wucht, dass musste Jules zugeben. Und die Wirkung konnte man am nächsten Tag an den Bildern und Schlagzeilen ermessen. Viele Kommentare lobten die Schlauheit der Frauen, die durch eine aussergewöhnliche und dabei friedliche Form, ihre Forderungen zu äussern, die Öffentlichkeit für sich gewonnen hätten. Margaret stand den Bemühungen weisser Suffrageten, die in letzer Zeit vermehrt versuchten, Gruppierungen schwarzer Frauen in ihre Bewegung zu integrieren, sehr skeptisch gegenüber. Sie fand, der Kampf um Gleichbereichtigung der schwarzen Bevölkerung, schwarzer Männer, Frauen und Kinder, habe Vorrang vor demjenigen für das Frauenstimmrecht, während Fiona und Kuiwa der Meinung waren, die Einführung des Frauenstimmrechts könne auch die Sache der farbigen Menschen voranbringen. Sie waren sich nicht einig geworden an dem Abend.

Und da ist der Samstag Abend, an dem sie tanzen gehen wollten. Steht er vor der Wohnung der O'Fallans, diesmal mit Blumenstrauss. Fiona öffnet die Tür, steht vor ihm in Unterwäsche, sommersprossige Haut, weisse Spitzen, dunkle Strümpfe. Sie zieht ihn lachend hinein und schliesst die Tür. Dreht sich um und lehnt sich dagegen.
"Na? – Wir sind allein, keine Angst."
"Ja, das sieht man."
Er versucht, einen klaren Kopf zu bewahren. Was geschieht jetzt? Ein grosses Durcheinander, ein Doppelleib, verwickelt in sich selber, in Bändel, Häkchen, Stoffröhren, Haare, Kissen. Das schnauft und zittert, schaukelt und fällt, lacht und weint. Pendelt aus, und rollt auseinander. Und dann? Sagt sie, in fröhlichem Ton:
"Ist nichts passiert! Wir haben gut aufgepasst."
Wie soll er das jemals vergessen? Aus dem Tanzabend war nichts geworden. Sie halfen einander beim Anziehen wie zwei Kinder. Jules schnürte zum ersten Mal in seinem Leben ein Korsett, "nicht so fest!", und dann waren sie, eng aneinander geschmiegt, durch die nächtliche Midtown spaziert, fanden irgendwo ein Lokal, in dem sie sitzen konnten, und trinken. Und reden.

Am Sonntag Nachmittag, als sich der Abschied näherte, hatte sich Jules' Magen wieder gemeldet. Sie waren spazieren gegangen im Riverside Park, Fiona sollte am Abend wieder nordwärts nach Hartsdale fahren, Jules würde schon am Dienstag das Schiff besteigen. Noch konnten sie sich gemeinsam an die vergangenen Tage erinnern. Fiona spürte Jules drohende Niedergeschlagenheit und versuchte, ihn durch kleine Spässe aufzuheitern. Als ihnen zwei Damen in sehr engen hobble skirts entgegentrippelten, verlangte Fiona Jules' Krawatte, band sie sich unterhalb der Knie um die Beine und imitierte den durch die Mode behinderten Gang der Frauen auf so witzige Weise, dass Jules seinen Kummer für den Moment vergass. Es war ungewöhnlich warm, sie setzten sich in der Sonne auf eine Bank, sie hatte seinen Arm genommen und ihn sich um die Schulter gelegt. Sie waren davor am Grab des amiable child vorbeigekommen, ein Parkbesucher erzählte ihnen ungefragt die Geschichte dazu. Von einem Jungen, der mit fünf Jahren zu Tode gestürzt war, und dem sein Vater in der Nähe des Unfallortes, damals, im achtzehnten Jahrhundert, noch auf dem Familiengrundstück, eine kleine Gedenkstätte errichtet hatte. Fiona war von Mitgefühl mit den doch so lange verstorbenen Eltern des Kindes überwältigt worden und hatte tatsächlich ein paar Tränen verdrückt, was wiederum für Jules eine Gelegenheit gewesen war, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten. Als nun eine Pause entstand, begann Jules zu erzählen, dass ein Jahr vor seiner Geburt ein kleiner Bruder gestorben sei, mit nur drei Monaten, an Keuchhusten. Dieser habe auch Jules geheissen. Fiona blieb still. Jules sah sie von der Seite her an. Ihre Stirn war gerunzelt und sie sah ins Leere. Er liess sie nachdenken. Schliesslich begann sie, mehr zu sich selbst:
"Dann warst du ein Ersatzkind. Ich kannte mindestens zwei solche bei uns im Dorf."
Dann, nach einer weiteren Pause:
"Dass Eltern nach dem Verlust eines Kindes bald wieder eines haben möchten, die Lücke schliessen wollen, kann ich verstehen. Aber warum ihm denselben Namen geben? Man kann ein Kind nicht durch ein anderes ersetzen, oder? Was fühlt ein Kind, wenn es merkt, dass es ein Ersatz sein soll, nur ein Ersatz. Hast du das gemerkt?"
Darüber hatte Jules schon oft nachgedacht.
"Ich glaube, ich habe manchmal gemerkt, wenn Maman von mir sprach, also, ich meinte, sie spreche von mir, weil sie sagte, Jules hat dies gemacht oder jenes, dass es nicht um mich ging. Vielleicht, weil sie mich dazu nicht anschaute."
"Machte es dich traurig?"
"Ich verstand es nicht. Vielleicht wurde ich traurig, weil sie traurig schien, ja."
Und da hatte er es aussprechen können.
"Jetzt bin ich traurig. Ich vermisse dich schon. Wirst du auf mich warten?"

Jules sah aufs vorbeiziehend Meer hinaus und versuchte, an Cornol, an die kommenden Tage mit den Eltern und mit seinen Schwestern zu denken. Aber Fiona schob sich wieder zwischen seine Gedanken, die Pause, die nach seiner Frage entstanden war, dann die Antwort. "Werden wir in Amerika bleiben? Oder werden wir zu unseren Eltern zurückkehren, wenn sie uns brauchen? Ich weiss nicht, was aus uns werden wird, Jules. – Aber im Januar werde ich noch da sein!"

1 Kommentar:

  1. Ich bin gespannt. Wird die Geschichte weitergehen und auch weiter gehen? Oder bleibt sie eine 'Casablanca'-Geschichte? Ich gehe gehe gerne weiter dem Zaun entlang. (Fredo; 10.3.2021)

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