Samstag, 27. März 2021

bei den McCurdys

Während der Rückreise nach New York hatte es ununterbrochen geschneit, jetzt schien wieder die Sonne und es herrschte Tauwetter in der Stadt. Schmutzige Schneehaufen verstopften die Gullis der Abwasserkanäle, das Schmelzwasser bildete ausgedehnte, knöcheltiefe Seen auf den Strassen. Überall wurde geschaufelt und gewischt. Jules war von Edmond zum Stadthaus der McCurdys bestellt worden. Es war abgemacht, dass er dem Personal vorgestellt und danach in die Obhut der Haushälterin und des Butlers übergeben werde, von Miss Clara Swenson und Mr. Charles Kretschman, welche die weitere Einführung in die Besonderheiten des Haushalts sowie in seine diesbezüglichen Aufgaben übernehmen würden. Die Einzelheiten dessen, was er als Kammerdiener von Mr. McCurdy zu tun haben werde, könne selbstverständlich nur dieser selbst bestimmen. Ein delikater Vorgang gegenseitiger Annäherung und Abstimmung, welcher wohl nach ein paar Tagen beginnen werde, dann, wenn Mr. McCurdy dies für angemessen halte und das Signal dazu gebe.

Jules hatte sein Gepäck noch für zwei weitere Tage im Keller der Pension einstellen können. Er trug nur eine kleine Tasche bei sich, weil er nicht wusste, ob er schon im Haus seiner neuen Herrschaften übernachten würde. Als er vor dem Haus stand, war er überrascht, wie schmal es war. Es hatte über alle vier Stockwerke nur drei Fenster nebeneinander, die nach oben in der Grösse abnahmen. Im Erdgeschoss waren es zwei, hohe, vergitterte und mit Bögen abgeschlossene Öffnungen, rechts davon ein wuchtiges Eingangsportal, wie zu einem Tempel. Die Fassade war auffällig zweifarbig, hell, fast weiss der Kalkstein für das ganze Erdgeschoss und alle Fensterumrahmungen, dunkelrote Ziegelsteine für die Wand vom ersten Stock bis unters Dach. Er ging die drei Stufen zum Eingang hoch und zog an der Klingel. Eine jüngere Hausdienerin öffnete ihm und bat ihn, einzutreten. Hut und Mantel wurden ihm abgenommen, dann führte sie ihn viele Treppen hoch bis in den vierten Stock, wo sich die Räume der Angestellten befanden. Die Türe des Essraums war angelehnt, dahinter hörte man angeregte Stimmen, auch die von Edmond.

"Da ist er, Mr. Chiquet aus der Schweiz!", rief Edmond in die Runde, stand auf und stellte sich neben Jules.
"Nicht aus Schweden, ich bitte Sie, das nicht zu verwechseln!"
Man lachte höflich über den Scherz.
"Miss Swenson, welche hier und in Morris Plains das Szepter schwingt über das weibliche Team, kommt nämlich aus Schweden, und sie kann ein Lied davon singen, wie oft Schweden mit der Schweiz verwechselt wird und umgekehrt. Jules ging auf die Haushälterin zu und streckte ihr die Hand hin. Sie ergriff sie sitzend und musterte ihn mit sehr hellen Augen, denen nichts zu entgehen schien. Jules schätzte ihr Alter auf etwa vierzig Jahre, sie trug ein schwarzes Kleid mit grossem, blendend weissem Spitzenkragen und einer ebenso weissen Schürze. Ihre Haare waren hochgesteckt, gekrönt durch eine weisse Schleife.
"Ihr männliches Gegenstück, wenn ich ihn so nennen darf, ist Mr. Kretschman, hier zu meiner Rechten. Er wird in erster Linie dafür besorgt sein, Sie in ihre Aufgaben einzuführen, Mr. Chiquet."
Der Butler erhob sich, um Jules zu begrüssen. Er war gegen fünfzig Jahre alt, trug einen schwarzen Frack, darunter eine etwas hellere Hose mit feinen schwarzen und grauen Streifen, Kragen und Manschetten so blütenweiss wie die Schürze von Miss Swenson.
"Es ist mir eine Vergnügen, Mr. Chiquet. Und ein noch grösseres wird es sein, Ihnen hier alles zeigen zu dürfen. Willkommen in der Mansion McCurdy, Sir."
Trotz seiner steifen Haltung und der förmlichen Begrüssung war er Jules nicht unsympathisch. Edmond stellte ihm die weiteren drei weiblichen Angestellten vor, die am Tisch sassen. Als erste kam die Ladys maid an die Reihe, die sich zu seiner Begrüssung erhob. Sie hiess Ellen Denbyek, kam wie Miss Swenson aus Schweden und war etwa gleich alt wie er selber. Die zweite, auch sie stand auf, war eine ziemlich korpulente Frau um die Fünfzig, mit rosiger Gesichtsfarbe und kräftigem Händedruck. Sie wurde ihm als Esther Villeni, Köchin des Hauses, vorgestellt. Obwohl sie tadellos sauber gekleidet war, roch sie deutlich nach Bratfett. Als letzter gab er der jungen Frau die Hand, die ihm die Türe geöffnet und ihn hinaufgeführt hatte, Mary Robertson. Ihr Hauptgebiet war die Wäsche. Es gebe, so führte Edmond nach Abschluss der Begrüssungen aus, noch einige weitere Angestellten in Morris Town und Morris Plains, die mehrheitlich beschäftigt seien in den sehr grossen Landhäusern der beiden Herren McCurdy Senior und Junior. Mr. Chiquet werde diese sicher in nicht weit entfernter Zukunft kennenlernen. Dazu komme noch der Chauffeur, Thomas Connors, mit dem er wohl bald gemeinsam Mr. McCurdy an die Orte seiner vielfältigen Tätigkeiten begleiten würde. Nun aber schlage er vor, dass man den von Miss Villeni freundlicherweise vorbereitenen Kuchen, wahlweise mit Kaffee oder Tee, zu sich nehmen sollte, was Gelegenheit böte, sich zwanglos einander anzunähern. Dann müsse er sich leider schon bald verabschieden, da er noch weitere Verpflichtungen, in anderen Häusern, vor sich habe.

Nach Kuchen, Tee und Kaffee wurde Jules von Mr. Kretschman das Haus gezeigt. Aus praktischen Gründen begann man mit dem obersten, fünften Stock, den Jules von der Strasse aus nicht gesehen hatte. In diesem befanden sich ein paar wenige Kammern sowie der Estrich, der in erster Linie dem Trocknen der Wäsche diente.
"Sie können sich sogar die Kammer aussuchen, weil im Moment nicht alle belegt sind. Ich würde Ihnen empfehlen, diejenige nach hinten, auf die Höfe, zu wählen. Der Verkehr in der einundfünfzigsten Strasse hat doch sehr zugenommen in den letzten Jahren, und die Madison Avenue ist auch nicht fern. Zudem wird es im Sommer in der nördlichen Kammer nicht ganz so heiss."
Der Butler führte ihn auf die Dachterrasse, und erst jetzt sah Jules, dass die Tiefe des Gebäudes etwa dreimal seiner Breite entsprach. Die Terrasse erstreckte sich über die vordere Hälfte des Grundrisses, über dem hinteren Teil erhob sich der fünfte Stock mit den Kammern.
Auf dem Weg nach unten nahm Mr. Kretschman Bezug auf die spezielle Form des Hauses.
"Sie werden sehen, dass die Anordnung der Räume im Haus eine Herausforderung darstellt. Wir haben leider etwas wenig Tageslicht, weil das Gebäude lang ist, und schmal. Das Tageslicht kommt hauptsächlich von den Fenstern in der vorderen und hinteren Fassade, nur im nordöstlichen Teil gibt es pro Stock noch ein seitliches Fenster. Sie können sich denken, dass den Leuchten im Haus unter diesen Umständen grosse Bedeutung zukommt, überall elektrisches Licht, wie Sie sicher bemerkt haben. Darf ich Sie bitten, den Drehschalter zu betätigen, bevor wir weitergehen?"
Jules versuchte, sich die Anordnung der Räume zu merken, aber es fiel ihm schwer, weil er durch lange Gänge mit vielen gleich aussehenden Türen geführt wurde. Sie erinnerten ihn an das Hotel in Paris, in dem er auf der ersten Reise gewesen war.

Im Salon des ersten Stocks begegneten sie Mrs. McCurdy, die damit beschäftigt war, mit Miss Swenson zusammen den Blumenschmuck zu erneuern.
"Ach, Mr. Chiquet, da sind Sie ja. Ich bin gerade sehr beschäftigt, aber Mr. Kretschman wird Ihnen sicher alles Nötige zeigen. Haben Sie Ihr Gepäck schon hierher gebracht? Ich nehme an, dass Sie ab heute hier im Haus übernachten werden?"
Da Jules nicht recht wusste, was er dazu sagen sollte, antwortete der Butler an seiner Stelle.
"Ich werde dies veranlassen, Madam, sobald der Chauffeur mit Mr. McCurdy zurückgekehrt ist.
"Ja, machen Sie das, Kretschman." Sie wendete sich wieder den Blumen zu. Nachdem Jules den riesigen Empfangssaal im Erdgeschoss bewundert hatte, führte man ihn ins Untergeschoss, wo sich die Küche, Miss Villenis Reich, befand. Diese erklärte ihm die Funktion des Aufzugs, der alle Stöcke bis zum dritten verband, und so gross war, dass eine kauernde Person darin Platz gefunden hätte. In der Mitte der Küche stand ein grosser Tisch.
"Hier halten wir manchmal wichtige Besprechungen unter der Leitung von Mrs. Swenson und Mr. Kretschman ab. Oder wir feiern hier, wenn jemand vom Personal Geburtstag hat. Normalerweise wird aber oben gegessen, im Essraum im Vierten, den Sie gesehen haben."
Der Butler wollte Jules noch die Haustechnik zeigen, wie er es nannte, die Zentralheizung, die Dampfküche sowie die zentralen Schaltungen für den elektrischen Strom.
"Hier kommt zweimal pro Tag William Ryan vorbei, der auch für die Heizung im Nachbarhaus zuständig ist. Ich weiss nicht, ob Sie ihn einmal kennenlernen werden. Er geht Menschen aus dem Weg und spricht nicht sehr viel. Aber für die technischen Belange ist er unverzichtbar."

Gegen Abend kam es zu einer kurzen Begegnung mit dem neuen Dienstherrn. Dieser war kurz angebunden, fast mürrisch, und überliess Jules rasch dem Chauffeur, der mit ihm das Gepäck holen sollte. Jules befürchtete, Mr. McCurdy könnte seinen Entscheid bereits bereuen. Etwas niedergeschlagen bestieg er das prächtige Automobil, das vor dem Haus stand. Thomas, wie der Chauffeur angesprochen werden wollte, war ein munterer Bursche, der seine Zweifel lachend wegwischte.
"Mach dir keinen Kopf daraus, der alte Herr kommt oft in diesem Zustand von der Wallstreet zurück. Wahrscheinlich sind die Aktienkurse gesunken, oder jemand will ihn vor Gericht ziehen wegen irgendetwas. Bei ihm geht das schnell vorbei. Wenn ihm die Villeni etwas Gutes aufgetischt und Mrs. McCurdy ihm die Wangen gestreichelt hat, ist alles wieder gut, du wirst sehen."
Jules hütete sich, auf diese Einschätzung der Launen seines neuen Dienstherren zu antworten, die ihm doch ziemlich respektlos vorkam. Man wusste nicht, ob man auf die Probe gestellt wurde.
Thomas betätigte die Hupe und rief: "Jetzt schau mal, was der Simplex kann!"
Sie fuhren, im Zickzack-Kurs zwischen Pferdefuhrwerken, Omnibussen, anderen Automobilen und Fussgängern, die kreuz und quer über die Strassen liefen, auf der zweiundfünfzigsten Strasse nach Westen. Viel zu schnell, fand Jules.

Jules kam zu zwei neuen Anzügen. Mr McCurdy liess ihn langsam in seine Nähe kommen, und ein Schritt dazu war die Betrauung mit Aufgaben, welche die herrschaftliche Kleidung und das Schuhwerk betrafen. Er suchte, nach den unterschiedlich präzisen Wünschen des Dienstherrn, die Kleidungsstücke heraus, lüftete und bürstete Jacken, Westen und Hosen. Hemden, Vorhemden, Kragen und Manschetten wurden da und dort nachbehandelt, gestärkt und mit einem kleinen elektrischen Eisen aufgebügelt. Mary, die Wäscherin hatte ihm alle Kniffe gezeigt, die sie kannte. Nun wurde von Mr. McCurdy der Kontakt hergestellt zu seinem Masschneider, Mr. Solomon Abramov, dessen Atelier sich an der westlichen dreiunddreissigsten Strasse, mitten im Quartier der Schneider und Hutmacher, befand. Anlässlich der zweiten Anprobe für eine Reihe von Anzügen McCurdys konnte sich Jules zum ersten Mal ein genaueres Bild machen von der aufwendigen Herstellung auf Mass gefertigter Kleidungsstücke. Dabei bestellte sein Dienstherr zu seinem grossen Erstaunen auch zwei Anzüge für ihn, und teilte ihm gleichzeitig in sachlichem Ton mit, dass diese aus nahe liegenden Gründen in einem kleinen Zweigunternehmen der Familie Abramov hergestellt werden sollten, mit nur zwei Anproben. Er habe es sich zur Regel gemacht, die Kosten einer solchen textilen Starthilfe für seine Angestellten vollumfänglich zu übernehmen, wenn diese die Probezeit mit Erfolg hinter sich gebracht hätten. Im anderen Fall, der hoffentlich nicht eintreten werde, habe Jules für die Hälfte der Summe aufzukommen. Dasselbe gelte auch für ein Paar Schuhe, wobei er ihn bitte, sich ein zweites aus eigenen Mitteln anzuschaffen. Jules war es recht. Sein Gehalt war gut, besser noch, als er gehofft hatte.

Es blieb schwierig, sich mit Fiona zu treffen. Die einfachste Möglichkeit war, mit ihr die sonntägliche Messe in der St. Patrick's Cathedral zu besuchen. Er bekam dafür immer frei, wohl auch, weil sich die Kirche in unmittelbarer Nachbarschaft seines Wohn- und Arbeitsortes befand. Fiona hatten einen deutlich längeren Anreiseweg, und so konnte sie nur ein zweimal im Monat kommen. Es war für Jules jedes Mal ein Fest, sie zu sehen. Anders als in der Kirche des Heligen Vinzenz in Cornol, wo Frauen und Männer, Mädchen und Buben strikt getrennte Bänke hatten, links und rechts des Mittelgangs, war es in der grossen New Yorker Kathedrale üblich, dass man fast überall sitzen, stehen oder knien konnte. Ausgenommen waren nur ein paar wenige Reihen im vorderen Viertel, die den vornehmsten und reichsten Gläubigen vorbehalten waren. So genoss er wärend der ganzen Liturgie Fionas Nähe. Er roch ihr Parfüm, spürte die Wärme ihres Körpers, wenn sich ihre Schultern beim Sitzen berührten. Manchmal traute er sich auch, sie von der Seite anzusehen. Sie merkte es immer, lächelte dann, den Blick weiterhin nach vorne auf das Geschehen am Altar gerichtet. Oder sie drehte leicht den Kopf und sah ihn gespielt streng an, wenn er zu lange schaute. Am liebsten waren ihm die Lieder, wenn er ihre klare Stimme hörte, oder der Gang zur Kommunion und wieder zurück, wenn er ihr den Vortritt lassen und sie betrachten konnte, wie sie vor ihm ging. Er wusste, dass es nicht recht war, sich auf diese Weise vom heiligen Geschehen ablenken zu lassen, zählte aber auf das Verständnis des Lieben Gottes, mit dem er manchmal innerliche Gespräche führte.
"Siehst du nicht, wie schön sie ist?"

In New Jersey besass die Familie der McCurdy zwei sehr grosse Anwesen. Das eine, in Morristown, gehörte Robert Henry McCurdys Vater, Richard Aldrich McCurdy, der das riesige, einem Schloss ähnliche Haus zusammen mit seiner Frau, Sahra Little McCurdy, sowie unzähligen Hausangestellten bewohnte. Das andere hatte Jules' Dienstherr, Robert Henry McCurdy, im benachbarten Morris Plains für sich und seine Frau bauen lassen. Es trug den Namen Mayfair, und war nur unerheblich kleiner als das seines Vaters. Mr. Kretschmar, der Butler, machte es sich zur Aufgabe, Jules in die Bedeutung dieser Häuser einzuführen. Gleichzeitig machte er ihn vertraut mit den Tätigkeiten und Funktionen der beiden Herren McCurdy, Senior und Junior, sowie mit dem weit verzweigten Netz ihrer beruflichen und gesellschaftlichen Beziehungen, wenigstens so weit, wie er dies für die Tätigkeit eines Kammerdieners für angemessen hielt.
"Die Landhäuser in Morristown und Morris Plains kann man als die eigentlichen Schaltzentralen des Imperiums der McCurdy ansehen. Obwohl gebaut und eingerichtet für das angenehme Leben bedeutender und sehr wohlhabender Leute neben ihrem beruflichen Alltag, werden dort immer wieder Veranstaltungen durchgeführt, bei denen wichtige Entscheidungen getroffen werden. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass diese für die Wirtschaft des Landes zuweilen von grosser Bedeutung sind."
Jules sollte auf ein für den Frühling angekündigtes Ereignis dieser Art vorbereitet werden. Mr. Kretschmar legte Wert darauf, dass er den Zusammenhang, aus dem die zu erwartenden Gäste kommen würden, in groben Zügen verstand.
"Mr. Richard Aldrich McCurdy", fuhr er fort, "war bis vor fünf Jahren Präsident der Mutual Life Versicherungsgesellschaft, die er zu dem gemacht hat, was sie heute ist. Sie haben sicher das grosse Bürogebäude gesehen, das nun auch schon wieder zu klein geworden ist. Sein Rückzug aus dem Geschäft, und nach Morristown, verlief nicht ganz ohne Bitternis. Das ist ein sehr heikles Thema in der Familie, zu dem man sich als Angestellter am besten gar nie äussert. Nur soviel deshalb: Es gab Vorwürfe einer Untersuchungskommission unter William Armstrong, die auf Korruption und Vetternwirtschaft lauteten. Auch unser Dienstherr war davon betroffen, weil er bis 1905 als Geschäftsführer von seinem Vater mit der internationalen Ausrichtung der Gesellschaft bauftragt worden war. Es gab keine konkreten Belege für die Anklagepunkte, aber die ganze Versicherungsbranche wurde in der Folge von den Gesetzgebern stärker kontrolliert, und beide McCurdys zogen sich daraus zurück. Mr. McCurdy Junior ist nun hauptsächlich als Banker beschäftigt, als Gründer und Direktor der Bank McCurdy, Henderson & Co.. Darüber hinaus ist er Direktor der Bank von Morristown sowie der Telefongesellschaft International Bell, zu der es über eine Tante auch familiäre Beziehungen gibt. Von seinen diversen Mitgliedschaften in Clubs haben Sie sicher schon gehört. Kennenlernen werden Sie sicher den Golfclub von Morris County, wo sich auch der alte Herr noch gerne sportlich zeigt."
Bei der kommenden Veranstaltung, im Landhaus von Mr. McCurdy Junior in Morris Plains, sollte es um die Verbindung von Vergnügen und Arbeit auf höchstem Niveau gehen. Gepflegte Gastfreundschaft in einer malerischen Umgebung auf der einen Seite, Sitzungen mit dem Zweck geschäftlicher Absprachen unter Geschäftspartnern auf der anderen. Eingeladen würden Träger entscheidender Funktionen in Banken und im Patentwesen, sowie aus den Sektoren des Transports und der Telefonie. Nach Mr. Kretschmars Erfahrung könne dies für die Angestellten alles Mögliche bedeuten, von dahinplätschernder Routine bis zu grösster Hektik. Ob und in welchen Momenten Jules als Kammerdiener gebraucht werde, entscheide einzig und allein Mr. McCurdy. Er werde also für die drei bis maximal fünf Tage rund um die Uhr zur Verfügung stehen, aber auch damit rechnen müssen, wenig oder gar nicht gebraucht zu werden. Gerade darin sei seine eigentliche Aufgabe zu sehen, dieser Unwägbarkeit mit grösstmöglicher Bereitschaft zu begegnen. Jules meinte, solche Zustände aus seiner Zeit im Club zu kennen, fand es aber besser, dem Butler gegenüber nichts davon zu erwähnen.

Wenn er Fiona von seiner neuen Stellung erzählte, zog sie ihn manchmal auf mit seinen eigenen Worten des Zweifels, ob er als Bauernsohn in einem solchen Haus am richtigen Platz sei. Eigentlich aber wollte sie ihn bestärken, riet ihm in ihrer sehr direkten Art, sich nicht beeindrucken zu lassen, schon gar nicht, sich zu verbiegen.
"Riechst du nach Stall? Nein, genauso wenig, wie ich nach Kohle und Torf. Und wenn die Herrschaften Wasserspülung schon in ihrer Kindheit kannten, scheissen müssen sie doch!"
Jules kam seinem Dienstherrn nun schon sehr nahe, besonders am Morgen, wenn er ihm die erste Tasse Kaffee servierte und ihm beim Anziehen behilflich war, ihn manchmal auch rasierte, wenn er sich dazu ausserstande fühlte.
"Ach, machen Sie das, Chiquet, sonst passiert noch ein Unglück."
So etwas hörte Jules eines Morgens zum ersten Mal, als Mr. McCurdy am Abend zuvor, bei einer Runde mit Geschäftsfreunden, zuviel geraucht und Brandy getrunken hatte. Er war zwar um eine Handbreite grösser als sein Kammerdiener, aber wie er da vor ihm stand in Unterhosen, mit hängenden Schultern über einem Bauch, der einen beim Richten der Krawatte dazu zwang, sich leicht seitlich aufzustellen, bot er doch das Bild eines grossen Kindes. Dieser Eindruck verschwand augenblicklich, wenn andere Menschen dazukamen, zuallererst seine Ehefrau, die darauf bestand, immer und in jedem Fall seine Kleidung nachzukontrollieren. Sie hatte zu diesem Zweck eine kleine Bürste mit Elfenbeingriff, mit dem sie ihm den Kragen bürstete, dabei in gurrendem Ton auf ihn einredend. Wegzubürsten gab es nicht eine einzige Hautschuppe, dafür sorgte Jules mit trotziger Sorgfalt. Mr. McCurdy aber war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder im Dienst, in eins mit dem Gehabe eines Mannes von Bedeutung. Ihn auch in den Momenten seiner grössten Verletzlichkeit zu erleben, gab dem Kammerdiener Macht, trotz seiner sonstigen Abhängigkeit, das spürte Jules. Ob dieses diffizile Gefüge in ihrem Fall schon durch ein gewisses Mass an gegenseitigem Vertrauen in der Waage gehalten wurde, konnte er noch nicht sagen.

Die Angestellten des Stadthauses wurden zur Vorbereitung des grossen Ereignisses schon an zwei vorausgehenden Tagen am Morgen nach Morris Plains gefahren und am Abend wieder nach New York zurückgeholt. Ziel dieser Massnahme war es, sich mit dem Personal des Landhauses zu einem grossen, gut eingespielten Team zu vereinigen. Dazu zählte die Einführung in einen detailliert ausgearbeiteten Personalplan genauso wie das Putzen und Herrichten aller Räume, und zwar unter der strengen Anleitung von Miss Swenson und Mr. Kretschman. Und man musste zugeben, dass der Butler und die Haushälterin auf eine beeindruckende Erfahrung zurückgreifen konnten. Zwar wurde man während der zwei Tage ziemlich herumgescheucht, aber Jules stellte zum Schluss fest, dass er dabei kaum je einen Gang zuviel oder eine Aufgabe vergebens gemacht hatte. Ein ziemlicher Unterschied zu den oft chaotischen Abläufen im Club, fand er, wo er oft den Eindruck gehabt hatte, ein guter Teil der hektischen Beschäftigung von Angestellten sei vergeblich gewesen, oder habe gar zu noch mehr Arbeit geführt. Thomas Connors, der Chauffeur, genoss es, am Morgen und Abend das Automobil mit viel zu vielen Personen vollzustopfen, mit allen Hausangestellten, denen gegenüber er sich ziemlich formlos verhalten konnte. Nur die Anwesenheit von Miss Swenson und Mr. Kretschman hinderte ihn daran, während der ganzen Fahrt schottisch-irische Lieder zu singen oder Witze zu reissen. Immer wieder musste er von der Haushälterin zur Ordnung gerufen werden.
"Bitte achten Sie auf den Verkehr, Mr. Connors! Wir können uns keinen Unfall erlauben, schliesslich sind wir in diesem Fahrzeug Versammelten für den reibungslosen Ablauf der Tagung in Morris Plains verantwortlich."
Trotzdem wurde viel gelacht auf diesen Fahrten, und zuweilen konnte sogar Miss Swenson nicht anders, als sich von der fröhlichen Stimmung anstecken zu lassen. Für die zweite Fahrt wurde ihnen Rocky, der schwarze Zwergpudel von Mrs. Curdy mitgegeben. Sie war der Ansicht, dass er auf diese Weise einen zusätzlichen Tag mit viel Bewegung erhielte. Zudem brauche er immer eine gewisse Zeit, um sich wieder an die Verhältnisse in Mayfair zu gewöhnen. Thomas Connors war nicht erfreut darüber, den Hund mitnehmen zu müssen.
"Der kotzt mir den ganzen Wagen voll, und ich kann ihn dann putzen!"
Und so war es auch. Jules musste sich, als sie ankamen, eine saubere Hose vom Chauffeur ausleihen. Weil er den Hund beruhigen konnte, nachdem sich dieser erleichtert hatte, sollte er sich den Tag über um ihn kümmern. So kam er zu einer Aufgabe, die ihm in der kommenden Zeit oft Gelegenheit geben sollte, seine Dienstzeit mit Spaziergängen aufzulockern, ein Umstand, der ihm da und dort den Neid seiner Arbeitskollegen eintrug.

Mr. Kretschman hatte Jules eingeschärft, er müsse seinen Dienstherrn während des Anlasses von Anfang an eng, aber unaufdringlich begleiten. Ihn dabei genau beobachten, damit er den wahren Bedarf an Unterstützung bald erkenne und seine Einsätze punktgenau auf dessen Bedürfnisse ausrichten könne. Er beherzigte den Rat und stellte fest, dass Mr. McCurdy sich in den Pausen zwischen den Sitzungen im Plenum so sehr auf die Gespräche mit den zahlreichen Gästen konzentrierte, dass er die Übersicht über seine persönlichen Dinge verlor. Er liess da seine Brille auf einem Beistelltisch liegen, legte dort sein Notizbuch mitten zwischen Sektgläsern ab, stellte seine Mappe an irgendein Tischbein, und vergass sie sogleich. Sogar einen Schlüsselbund, mit dem man sich den Zugang zu seinem Büro und zu den Aktenschränken hätte verschaffen können, musste Jules von der Kaminablage fischen und ihn, als der Dienstherr mit gefurchter Stirn seine Jackentaschen zu durchwühlen begann, so überreichen, als sei er zum Behändigen des Gegenstandes bauftragt worden. Mr. McCurdy legte bei solchen Rückgaben zusehends die Verlegenheit ab und schien sich ganz auf Jules zu verlassen.
"Sie machen das gut, Chiquet", stellte er einmal in einem ruhigeren Moment fest.
"Danke, Sir. Darf ich Ihnen noch etwas bringen?" Jules genoss seine Aufgabe. Sie erinnerte ihn merkwürdigerweise an den Umgang mit den Tieren zu Hause in Cornol, wenn er versucht hatte, am Gang, an der Krümmung des Rückens oder am Rhythmus des Atmens seiner Kühe herauszufinden, was ihnen fehlte.

Mrs Swenson und Mr. Kretschman hatten die Gewohnheit, nach einem Ereignis dieser Grössenordnung alle beteiligten Hausangestellten zusammenzurufen für eine auswertende Besprechung. Sie beurteilten das gerade hinter sich gebrachte im Grossen und Ganzen als Erfolg. Der Butler stellte den Zusammenhang her zwischen ihrem bescheidenen Beitrag zum Gelingen des Anlasses und der Bedeutung der in diesen Tagen verhandelten Sache.
"Es waren hier in Morris Planes die wichtigsten Vertreter der Telefonbranche sowie einige der bedeutendsten Banker und Anwälte des Landes versammelt. Wie Mr. McCurdy in seiner abschliessenden Rede betonte, wurden dabei entscheidende Weichenstellungen getroffen für die Zukunft, für die Verständigung unter den amerikanischen Bürgern. Er stellte sogar eine Ausdehnung der Tätigkeiten seiner Unternehmungen nach Europa in Aussicht, was dem Symposium eine internationale Dimension hinzufügen würde. Wir, und ich meine damit Sie alle, haben dazu beigetragen, dass die Herren in gepflegter Umgebung arbeiten und sich zwischendurch erfrischen und entspannen konnten. Es gab ein paar kleine Pannen, die Mrs. Swenson jetzt gleich mit Ihnen durchgehen wird."
Jules war jetzt doch müde und schweifte ab mit seinen Gedanken. Das meiste, was noch besprochen wurde, ging ihn nichts mehr an, woran er seine Sonderstellung erkannte. Er durchschaute diese noch nicht ganz, begann aber zu begreifen, dass er als Kammerdiener nicht der vollen Rigidität der Personalpläne unterworfen war. Und Mr. McCurdy war ihm etwas vertrauter geworden, doch er blieb auf der Hut.

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