Freitag, 19. März 2021

zur Probe

In Basel stellte Jules im Depot des Bahnhofs sein Gepäck ein und ging dann am Platz ins Geschäftshaus der Agentur Zwilchenbart, um sein Billet abzuholen und zu bezahlen. Weil das Dokument noch nicht fertiggestellt war, wollte er versuchen, Joseph telefonisch zu erreichen. Es dauerte eine Weile, bis man auf der Post eine Verbindung zum Grenzposten herstellen konnte. Dann hatte er einen Zollbeamten am Apparat, den er, zuerst auf Französisch, dann radebrechend auf Deutsch, bat, seinen Bruder ans Telefon zu holen. Er verstand die wortreiche Antwort nur zum Teil, wohl aber, dass man Grenzbeamte nicht einfach im Dienst anrufen könne zu privaten Zwecken. So versuchte er ausrichten zu lassen, dass er vorbeikomme, etwa in zwei Stunden. Er wollte ruhig bleiben und unterdrückte den Impuls, den Besuch abzublasen.

Nachdem er mit der Trambahn Nummer drei durch die ganze Stadt gefahren war, stieg er an der Burgfeldenstrasse aus und ging zu Fuss, den Rest des Wegs bis zur Grenze. Er wunderte sich darüber, dass er während der Fahrt etwas wie Heimweh nach New York verspürt hatte, er freute sich auf kommende Fahrten mit der Hochbahn, bei denen man die Bewegung durch Strassenschluchten aus erhobener Position geniessen konnte. Sein Bruder war immerhin informiert worden über den Besuch, und man hatte ihm erlaubt, sich während einer halben Stunde mit ihm abzugeben.
"Ich durfte meine Mittagspause vorverschieben. Wir können uns ins Wachlokal setzen."
Dann sassen sie sich an einem langen Tisch gegenüber, der Raum war überheizt, die Luft roch nach abgestandenem Rauch von Zigarren. Jules musste sich eingestehen, dass er vom Auftreten seines älteren Bruders beeindruckt war. Er trug einen schmalen Schnurrbart, sonst war er tadellos rasiert, trug die Haare sehr kurz geschoren. Die Uniform schien frisch gebügelt und gebürstet, mit polierten Messingknöpfen, und mit Schulterpatten, noch ohne Abzeichen. Den Hut, mit dem silbernen Stern über dem Schirm, darin das Schweizerkreuz, hatte er sorgfältig umgedreht und neben sich auf dem Tisch platziert, die Handschuhe abgestreift und darübergelegt.
"Wie geht es Papa?", wollte er als erstes wissen. "Meinst du, man kann ihn alleine lassen?"
Jules entgegnete, dass er ja nicht allein sei, Marie bleibe noch eine Weile, und auch die Mutter sei noch sehr rüstig. Papas Husten sei lästig, wie er sage, aber nicht allzu schlimm. Den Schwächeanfall im Stall erwähnte er nicht. Als er von seinen Aussichten auf eine neue Stelle berichten wollte, und von seinen bisherigen Erfahrungen im New Yorker Club, merkte er, wie Josephs Aufmerksamkeit schnell nachliess. Bald drehte das Gespräch, und der Bruder erzählte nur noch von sich, vom Dienst an der Grenze. Von den Herausforderungen, welche ein Geflecht von Gesetzen und Vorschriften, aber auch subtilen diplomatischen Beziehungen des kleinen Vaterlandes mit dem deutschen Kaiserreich, mit sich bringe. Wie eisern Hierarchie und Disziplin der Zollbehörden funktionierten und, ja, funktionieren müssten. Jules glaubte nicht, dass er selber in der Lage wäre, an Josephs Stelle zu bestehen, wie schon so oft. Während sein Bruder die Uniform trug wie eine zweite Haut, war ihm immer unwohl gewesen bei dem Gedanken, je eine tragen zu müssen. Unvermittelt zog Joseph seine Uhr aus der Tasche und sagte:
"So, wir müssen Schluss machen. Jetzt habe ich vor lauter Schwatzen vergessen, dir etwas anzubieten."
Er holte seine Tasche, zog ein eingepacktes Brot heraus und teilte es mit seinem Taschenmesser. Jules sah gerührt zu.
"Du kannst es hier essen, wenn du willst, ich muss wieder hinaus."
"Nein, ich will auch weiter." Jules musste an die frische Luft. Er begleitete seinen Grenzwächterbruder bis zum Schlagbaum, dort umarmten sie sich kurz und steif. Dann machte er sich auf den Weg, zurück zur Tramstation.

Am Morgen vor dem heiligen Abend kam er in Le Havre an. Es wurde ihm bald klar, dass das Schiff nicht voll würde. Die Zahl der Passagiere an der Station war überschaubar, und alles lief ruhig und gelassen ab. Da sie noch etwas Zeit hatten vor dem boarding, konnte Jules am Pier auf und ab gehen und das Schiff von aussen in Augenschein nehmen. Es war etwas kleiner als die 'Provence', aber in Form und Proportionen sehr ähnlich, auch mit zwei rotschwarz gestrichenen Kaminen ausgestattet. Die Masten dienten als Lastkräne. Ein Bereich am Ufer war abgesperrt mit Schranken, weil von dort noch Fässer und Kisten verladen wurden. Jules wollte zusehen, wie die Hafenarbeiter ein grosses, schweres Automobil mit einem Netz und vielen Gurten für den Kran vorbereiteten, musste nun aber sein Gepäck holen und sich in die Reihe stellen. Als er über den Steg zum Schiffsrumpf hochstieg, sah er das Auto am Himmel schweben, wie ein Scherenschnitt.

Nachdem der Heilige Abend auf der 'Tourrène' nur dezent angedeutet worden war, mit Kerzenlichtern auf den Tischen aller Klassen sowie je einem mit roten Kugeln und Bandschlaufen dekorierten Weihnachtsbaum, wobei der im Esssaal der Ersten selbstverständlich der grösste war, wurde für die Festlichkeit am Fünfundzwanzigsten kein Aufwand gescheut. Das Essen umfasste sogar in der dritten Klasse mehrere Gänge, in Jules' zweiter spielte ein kleines Orchester und es wurde um Erscheinen in festlicher Kleidung gebeten. Die Tische waren zu grossen Tafeln zusammengrückt, man hatte von den Passagierlisten die Namen herausgelesen und auf Tischkarten übertragen. Als Jules, gekleidet in seinem besten Anzug, mit einem weissen noeud pappillon unter dem Kinn, in den Saal trat, musste er wie alle andern seinen Platz suchen. Er fand ihn schliesslich zwischen zwei Damen in Abendkleidern, und gegenüber von einem Herrn im Smoking. Die Frau zu Jules' Linken war in den Fünfzigern, eine eindrucksvolle, etwas korpulennte und in der Körpermitte stark eingeschnürte Erscheinung in weinrotem Taft. Sie musterte ihn ohne eine Spur von Hemmung, mit dem Monokel, von Kopf bis Fuss, und stellte sich dann vor, auf Französisch mit italienischem Akzent, als Madame Angela Cattelli, die Gemahlin des ihm gegenüber sitzenden Herrn, Monsieur Giuseppe Cattelli. Beide lebten schon seit über fünfzehn Jahren in Kanada, hatten die Heimat in Italien besucht und waren auf der Rückreise nach Montreal, wo Herr Cattelli ein Geschäft mit forstwirtschaftlichem Gerät betrieb. Die Frau zu Jules' Rechten war etwa gleich alt wie er. Sie hiess Lillian Dyke, war aus New York, und unterwegs zusammen mit ihren zwei kleinen Kindern und ihrem Ehemann Otto, der schräg gegenüber sass. Die beiden schienen sehr unruhig, verliessen abwechslungsweise immer wieder den Tisch, weil sie nach ihren Kindern sehen wollten, die in einem speziellen Essraum assen, einen Stock tiefer, zusammen mit vielen anderen Kindern und betreut von einem Dutzend Kinderfrauen, welche die Schiffahrtsgesellschaft stellte. Es herrsche ein höllischer Lärm und grosses Durcheinander im Saal der Kinder, die nurses seien ihrer Aufgabe nicht gewachsen, sagte die junge Mutter entschuldigend, als sie sich wieder an den Tisch setzte. Sie könne wohl nicht bis zum Dessert bleiben.

Auch hier war es mit zunehmendem Konsum des recht guten Weins lauter geworden, was die Cattellis und ihre Nachbarn aber nicht davon abhielt, über Politik zu diskutieren. Obwohl sie sehr laut sprechen und ihre Sätze des öftern wiederholen mussten, kam es Jules so vor, als wollten sie das bald zu Ende gehende Jahr Ereignis für Ereignis durchgehen. Er konnte nicht viel dazu beitragen, denn vieles erfuhr er zum ersten Mal. Er kam sich vor, wie ein dummer Bub vom Land. Immerhin wurde sein Interesse wieder geweckt, als man auf den Schwarzen Freitag von London zu sprechen kam. Fiona, Kuiwa und Margaret hatten sich an jenem Abend von Thanksgiving sehr ereifert über die Gewalttätigkeit der Polizei und der männlichen Gaffer, und eine hitzige Diskussion war ausgebrochen darüber, ob solche Übergriffe Gegengewalt rechtfertigten. Hier, an Bord des Weihnachtsschiffs, nahm das Gespräch eine Richtung, welche die drei Frauen erst recht in Rage gebracht hätte. Madame Catellis Gesicht, als sie lautstark verkündete, was man ihrer Meinung nach mit den Suffrageten machen müsste, wurde Jules plötzlich so widerwärtig, dass er am liebsten aufgestanden und weggegangen wäre. Da aber in dem Moment die Kellner das Geschirr des Hauptgangs abzuräumen begannen, wurde die Debatte jäh beendet, und er blieb doch sitzen.

Nach einem Tusch des Orchesters trat der Kapitän der 'Tourrène' auf für eine kurze Rede, die von Jules' Tischumgebung als ganz nett beurteilt wurde, obwohl sie hier, wie wohl auch davor in der ersten Klasse, vom Blatt abgelesen war. Darauf intonierte das Orchester in forschem Tempo ein Weihnachtslied, Il est né le divin enfant, die Hälfte der Passagiere sang mit, mit einem halben Takt Verzögerung und ziemlich unrein. Als das Lied ausgeklungen war, nahm man sich das Dessert vor, dazu wurde die vor kurzem ausgebrochene Revolution in Mexiko besprochen. Jules hatte genug, er liess sich entschuldigen, wünschte allerseits eine gute Nacht und verliess den Saal. Beim Ausgang traf er Otto Dyke, der zurückkehrte von seinen väterlichen Pflichten.
"Sie sind im Bett, Gott sei Dank! Gibt es noch Dessert?"

Am Nachmittag des dritten Januar kam Jules mit der Eirie Railroad bei der Station in Ho-Ho-Kus an. Es war schneidend kalt, die dünne Schneeschicht wurde vom Nordwind verblasen. Er stand mit seinem Gepäck neben dem Bahnhofsgebäude, einem kleinen, rechteckigen Bau mit aus mächtigen Flusskieseln gebauten Wänden, die sich gegen den Boden hin verbreiterten. Das gab ihm etwas militärisch Trotziges. Das nach allen vier Seiten weit auskragende Dach wirkte wie ein Helm, hier weiss man sich zu verteidigen, dachte Jules. Er stellte seine Sachen an eine Wand und ging um das Gebäude. An einer der Schmalseiten standen zwei Handkarren, wie gebaut für das Gepäck eines Riesen, daneben regungslos eine schwarze Gestalt unter einem dicken Cape aus Filz, mit einem Hut, wie sie die Schafhirten im Jura trugen. Es war ein älterer Mann mit Vollbart. Jules zeigte ihm seinen Zettel mit der Adresse und fragte ihn, ob er ihm mit Koffer und Taschen behilflich sein könne. Der Mann spuckte einen braunen Tabakstrahl in den Schnee und sagte:
"Yes, Sir. Dafür bin ich ja da! Ist nicht weit, Sir. Fünf Minuten."
Dann, nach einem Blick auf Jules' Schuhe:
"Zehn Minuten."

Er war froh, als er in der warmen Stube stand. Edmond stellte ihn den Gastgebern vor, Irène Dubois Carter und William S. Carter, ein älteres Ehepaar im Ruhestand. Mit Edmond hatte Irène lange Zeit, ein halbes Leben, wie sie ausrief, bei sehr reichen Herrschaften gedient, William war Lateinlehrer gewesen am College of the City in New York. Er wirkte gebrechlich, Jules gab sich Mühe, seine knochendünne Hand nicht zu fest zu drücken, während seine Frau drallfröhlich und sehr gesund wirkte. Ihre Stimme war laut wie eine Posaune, und sie wechselte mitten im Satz von Englisch zu Französisch, oder umgekehrt. Wenn der neue Gast sich eine wenig frisch gemacht habe, könne man essen, ordnete sie an. Jules bekam ein kleines Zimmerchen unter den Dach, in dem alles, bis auf den kleinsten Gegenstand, entweder in Weiss oder in Hellblau gehalten war. Er setzte sich aufs Bett, auf dem Kopfkissen neben ihm sass ein kleiner Bär in Menschenkleidern, weiss, hellblau. Es wurde ihm zu warm, darum stand er auf, öffnete das Fenster und sog die kalte Luft ein. Es hatte wieder zu schneien begonnen.

Beim Nachtessen wollte Edmond gleich über seine Vorhaben berichten, und über die Pläne zu Jules Zukunft, aber Irène bestand darauf, dass dieser zuerst von seinem Besuch in der Heimat erzählen solle. Er habe schliesslich eine lange, anstrengende Reise hinter sich, und es interessiere sie auch persönlich, woher er komme, denn ihre Vorfahren stammten ebenfalls aus dem Jura, wenn auch aus dem französischen Teil. Jules wusste nicht, wo er beginnen sollte, aber Irène half ihm, indem sie nachfragte, aufmerksam zuhörte und nur selten unterbrach. So erzählte er von seinen Eltern, von den Schwestern, vom älteren Bruder, von den Menschen im Dorf. Er staunte selber über seine Offenheit, und als er einmal auf Englisch die Worte nicht fand, sagte er es auf Patois. Irène war hell entzückt, sie wiederholte seinen Satz in ihrem eigenen Dialekt, und man stellte fest, dass es sehr ähnlich klang. Als sich nun auch William zu Wort meldete, zu einem Vortrag über die Verwandtschaft galloromanischer Sprachen ausholen wollte, fuhr Edmond dazwischen. Er war verärgert.
"Nun müssen wir aber wirklich über die Gegenwart und unsere unmittelbare Zukunft sprechen, meine Herren, und meine Dame, bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe."
Jules sah auf seinen Teller, aber Irène zeigte sich wenig betroffen.
"Ja, machen Sie nur, lieber Edmond. Ich muss mich meinerseits entschuldigen, aber es war doch wirklich sehr interessant, was uns Jules da berichtet hat. Wie eine Reise in eine andere Welt, nicht wahr?"

"Es geht darum, dass ich unseren Jules bei den McCurdys als Kammerdiener unterbringen möchte."
So begann Edmond eine lange Erklärung der Umstände, weshalb er Jules hatte nach Ho-Ho-Kus kommen lassen und was er mit ihm vorhatte. Der Ort wirke ja wohl auf Neuankömmlinge nicht besonders einladend, vor allem jetzt, bei diesem Winterwetter. Ursprünglich den Delaware-Indianern abgetrotztes Territorium, im Revolutionskrieg Durchzugsland, sowohl für die Hessians und die Briten als auch für die Truppen Washingtons. In jener Zeit sei hier ein Haus gebaut worden, das sich zwar heute in veränderter Form präsentiere, aber noch immer als herausragend geschichtsträchtiger Ort gelten könne. Die Hermitage, wie Grundstück und Gebäude genannt würden, ziehe seit langem Besucher aus dem ganzen Land an, die mit eigenen Augen sehen wollten, wo einst Washington, Monroe, Paterson, Lafayette, Stirling und Burr als Gäste ein und aus gegangen seien. Dies gelte auch für den äusserst wohlhabenden und erfolgreichen Bankier Robert Henry McCurdy Junior, für den er, Edmond Jacquelin, schon mehrfach Hausangestellte mit ausgezeichneten Qualifikationen gesucht und gefunden habe, alle weiblich bisher. Deshalb habe er auch erfahren, dass Mr. McCurdy einen Kammerdiener suche, und dass er ausserdem im Januar mit seiner Frau der Hermitage einen Besuch abstatten wolle. Dies habe er als eine hervorrragende Gelegenheit betrachtet, den Herrschaften Jules sowohl vorzustellen als auch als Diener vorzuschlagen. Seine Erfahrung habe ihn gelehrt, dass es für das Gelingen solch delikater Gespräche und Abwägungen unabdingbar sei, sich den Dienstherren zu einem Zeitpunkt anzunähern, wo diese nicht unter dem Druck ihrer beruflichen Verhältnisse stünden, am besten an einem neutralen und gleichzeitig angenehmen Ort, wo sie die Musse fänden, sich in die Niederungen der Haushaltsführung zu begeben, sich mit erhofften als auch tatsächlichen Eigenschaften einer Person abzugeben, deren Nähe sie, nach positivem Vertragsabschluss, täglich ausgesetzt sein würden. Er habe deshalb mit Bess Rosencrantz und deren Nichte Mary Elizabeth ausgemacht, dass man den MacCurdys nach der Besichtigung der Hermitage ein Nachtessen in den geschichtsträchtigen Räumen ausrichten werde, selbstverständlich auf seine, Edmonds, Rechnung und mit Hilfe von zwei Angestellten, die er aus New York kommen lasse. Es sei vorgesehen, dass auch Jules an diesem Abend als Steward die Gäste bediene und sich so, quasi in Aktion, vorstelle.

Jules war erschlagen, und um irgendetwas zu sagen fragte er:
"Wer sind die beiden Damen Rosencrantz?
Irène war schneller als Edmond.
"Die kennt hier jeder, und auch weit herum. Bess hat die Hermitage und einen Teil der Mühle von ihrem Onkel geerbt. Sie kam ins Haus, um ihren Bruder und dessen zweite Frau beim Grossziehen der Kinder zu unterstützen, Dayton, und eben Mary Elizabeth, beide aus erster Ehe. Seine erste Frau, Mary Warner, ist früh verstorben. Mit der Nichte und deren Stiefmutter, die verwirrenderweise Bessy heisst, nicht Bess, und schon ziemlich gebrechlich ist, bewirtschaftet sie das Haus. Wenn sie nicht gerade auf Reisen ist, sie hat schon die halbe Welt gesehen. Bess ist jetzt fünfundfünfzig Jahre alt, Mary Elizibeth hat ungefähr Ihr Alter, Jules, schätze ich. Der Bruder und Onkel, Will heisst er, möchte, dass Bess die Hermitage verkauft, denn seine Geschäfte gehen nicht gut. Gingen nie gut, soviel ich weiss. Auch Dyton möchte das, weil er Geld für seine Ausbildung braucht. Aber Bess und Mary Elizabeth hängen an dem Ort. Sie leben schon lange mit seiner Geschichte, und können sie auch hervorragend zum Besten geben, Sie werden sehen. Am liebsten würde Bess wohl ein Museum daraus machen, mit einem Lokal, in dem man Tee trinken und Konzerte anhören kann, so etwas in der Art. Sie liebt es, Besucher zu empfangen und sie in die Geheimnisse der Hermitage einzuführen."
William ergänzte:
"Eine erstaunliche, sehr gescheite und gebildete Frau. Man kann wunderbare Gespräche mit ihr führen."
Jules wusste nicht, was er von all dem halten sollte. Er fühlte sich eingeschüchtert, nicht am richtigen Ort. Wie sollte er bestehen unter diesen Menschen, die so fliessend und gescheit reden konnten, deren Hände immer weich waren, und sauber? Aber er zog es vor, seine Zweifel für sich zu behalten.

Zur Vorbereitung des Dinners mit den McCurdys gehörte ein erstes Treffen zum Nachmittagstee bei den Damen Rosencrantz in der Hermitage. Es war immer noch sehr kalt, als Edmond und Jules auf das Haus zugingen. Der Schnee auf dem Parkweg knirschte unter ihren Füssen. Das Hauptgebäude war nicht sehr gross, aber es erschien Jules wie ein kleines Schlösschen, oder wie ein Kapelle, gebaut aus rotem Sandstein über einem T-förmigen Grundriss. Die Dachflächen waren mit Holzschindeln gedeckt, die Giebel der Gebäudeflügel und der vielen Lukarnen waren verziert mit aus Brettern gesägten schlangenförmigen Ornamenten, die in ihrem Scheitelpunkt kleine Masten in den Himmel streckten, alles weiss gestrichen. Die Fenster waren mit senkrecht stehenden, weissen und gelben Rhomben verglast. Als sie den Hausflur betraten, bewunderten sie die Lichteffekte, welche die Wintersonne durch die Scheiben in die Räume zauberten. Bess Rosencrantz empfing sie und führte sie in die Stube, wo Marie Elizabeth noch mit dem Decken des Tischs beschäftigt war, und sie nun auch begrüsste.

Das Gespräch dauerte mehr als zwei Stunden, während denen vor allem Bess und Edmond alle Einzelheiten des geplanten Nachtessens besprachen. Das Essen sollte in geeigneten Behältern geliefert werden vom lokalen Metzger sowie vom Gasthof Ho-Ho-Kus Inn, von wo auch die Getränke, das Geschirr und Besteck bestellt worden waren. Edmond war erleichtert, dass er nur eine zusätzliche Hilfskraft würde kommen lassen müssen, da Mary Elizabeth darauf bestand, beim Bedienen der Gäste zu helfen, und auch die Metzgerei einen Mann mitschicken wollten, die sich mit dem Warmhalten der Speisen auskannte. Bess sollte an dem Abend möglichst davon befreit sein, oder davon abgehalten werden, wie Mary Elizabeth präzisierte, selber anzupacken, damit sie sich ganz dem Gespräch mit den McCurdys widmen und ihnen die sicher gewünschten historischen Hintergründe des Ortes schildern könne. Jules hatte sich gleich zu Beginn der Besprechung in einen Zustand konzentrierter Aufmerksamkeit versetzt, eine Fähigkeit, die er sich im Club angeeignet hatte, zu Beginn mit viel Mühe. Nun stellte er fest, dass es ihm nicht schwerfiel, die wichtigen, ihn unmittelbar betreffenden Aufgaben zu erkennen und sich zu merken. Trotzdem notierte er sich ein paar wesentliche Punkte in einem kleinen Notizbuch, das er seit dem Verlassen des Brook nicht mehr benutzt hatte. Er nahm sich vor, Edmond später noch zu den Tätigkeiten und Verdiensten von Mr. McCurdy zu befragen. Bess Rosencrantz beeindruckte ihn sehr. Als sie ihnen die Türe geöffnet hatte, war er bestürzt gewesen über sein erstes, unüberlegtes Urteil, dass eine typische Jüdin vor ihm stehe. Gleichzeitig hatte er den unangenehmen Eindruck, sie habe seine Reaktion durchschaut. Im Laufe des Nachmittags lernte er sie als eine nachdenkliche Frau kennen, die genau zu wissen schien, was sie wollte. Wenn Edmond etwas vorschlug, was ihr nicht passte, sah man ihre Ablehnung daran, dass sie den Blick abwandte und, sichtbar nachdenkend, ins Leere richtete. Sie liess ihr Gegenüber zuerst weiter reden. Wenn er dann aber das Thema wechseln wollte, kam sie auf den betreffenden Punkt zurück und legte ihren gegenteiligen Standpunkt so ruhig, klar und unmissverständlich dar, dass Widerspruch zwecklos schien. Edmond probierte es auch gar nicht.

Jules hatte wenig Erfahrung mit jüdischen Menschen. In New York war er vielen begegnet, die durch ihre Kleidung und Haartracht auffielen, und er hatte sich die Unterschiede zwischen Orthodoxen und Sekulären erklären lassen. Er hatte mitbekommen, dass in den letzten Jahren immer mehr Juden aus dem Osten vor Verfolgungen fliehen mussten, nach Europa, sogar in die heimatliche Schweiz, aber auch nach Amerika. Er hatte sie gesehen auf seinen Schifffahrten, arme Menschen, die verzweifelt versuchten, nicht arm zu erscheinen. Und in Cornol waren die Juden immer wieder Gegenstand von hitzigen Debatten gewesen, man machte sie verantwortlich für alle möglichen schlechten Entwicklungen, vor allem, wenn es um die Wirtschaft, um Geld ging. Vielleicht stimmte es ja, und Papa und Maman sahen das auf jeden Fall so. Warum genügten die auffällig markante Nase und der spezielle Name einer Frau, ihn ihr gegenüber so befangen zu machen? Dabei konnte er sich jetzt, nach ein paar Stunden, in der er sie erlebt hatte, sogar vorstellen, dass man mit ihr darüber sprechen könnte.

Robert Henry McCurdy Junior war ein grosser Mann mit beeindruckend dickem Bauch. Ein dichter Schnurrbart und der oft aufgesetzte strenge Blick konnten die weichen Gesichtszüge nicht gänzlich verdecken, und auch aus seiner Stimme war ein Widerstreit von Impulsivität und Zurücknahme zu hören, was sich in einem etwas gepressten Tonfall äusserte. Lady Suckley McCurdy war eine vornehm wirkende, würdevolle Dame, deren üppige Rundungen in ein dunkelblaues, raschelndes Seidenkleid gehüllt waren. Sie wich nicht von der Seite ihres Mannes und hatte die Angewohnheit, seine Worte in etwas anderer Formulierung zu wiederholen. Beide schätzte Jules auf etwa fünfzig.

Das Abendessen war in vollem Gang. Jules war, zusammen mit Mary Elizabeth, beschäftigt mit Auf- und Abtragen von Tellern und Schüsseln, mit Nachschenken von Wein und Wasser, währenddem John, der von der Metzgerei geschickt worden war, und Louise, die Edmond mitgebracht hatte, im Hintergrund blieben und die Verbindung zur Küche aufrecht erhielten. Jules las fallengelassene Servietten vom Boden auf und ersetzte sie durch frische, behob ein Unglück mit einem umgestürzten Weinglas, indem er den Schaden so rasch und rücksichtsvoll wie möglich mit einem schmalen Tischtuchstreifen abdeckte. Er beobachtete die Gäste genau, um dem richtigen Zeitpunkt für das Nachschenken oder das Wegräumen von Tellern weder vorzugreifen, noch ihn zu verpassen. Es entging ihm nicht, wie er dabei sowohl von Mr. McCurdy als auch von dessen Frau beobachtet wurde. Man würde sich nach dem Essen in der kleinen Bibliothek treffen, um seine Arbeit zu besprechen und, je nach Urteil, die weiteren Schritte festzulegen, hatte ihm Edmond beschieden. Davor aber entwickelten sich die Ausführungen von Bess über die Geschichte der Hermitage zu einem eigentlichen Vortrag. Sie erzählte von der Zeit vor dem Revolutionskrieg, als im Jahre 1767 Ann Bartow DeVisme das Haus gekauft habe, das noch sehr anders ausgesehen habe als heute. Wie deren Tochter Theodosia Bartow, die den Offizier James Marcus Prevost heiratete, während dem Krieg von ihrem Mann alleine gelassen worden sei, mitsamt den gemeinsamen Kindern. Sie habe damals nicht in der Hermitage gewohnt, sondern in einem Haus in der Nähe, bei den Mühlen. Prevost, ihr Mann, habe auf Seiten der Briten gekämpft, und trotzdem habe sie, als sie erfuhr, dass George Washington auf einem seiner Rückzüge bei Ho-Ho-Kus vorbeikomme, die Gelegenheit ergriffen und den Oberbefehlshaber der Kontinentalarmee in die Hermitage eingeladen. Washington sei der Einladung gefolgt, genauso wie weitere Gründungsväter der USA nach ihm, so zum Beispiel der spätere fünfte Präsident, James Monroe.
"Und was wurde aus Theodosia?", wollte Mrs. McCurdy wissen.
"Ihr Mann fiel auf dem Schlachtfeld, für die falsche Sache, würde man heute sagen. Einer der prominenten Besucher des Hauses aber, Aaron Barr, der Anwalt und Politiker war, und mit Präsident Jefferson der dritte Vizepräsident, verliebte sich in Theodosia und besuchte sie heimlich in der Nacht, über längere Zeit. Schliesslich heirateten sie, 1882."
Mr. McCurdy merkte auf, als er Barrs Name hörte.
"Aaron Barr, war das nicht der Barr, der Alexander Hamilton in einem Duell tötete?"
Bess antwortete:
"Ja, genau. Es war eine sehr turbulente Zeit, Burr wurde als Vizepräsident mit einer Hetzkampagne unter Druck gesetzt und das ganze entlud sich in dem Duell. Seine politische Karriere war damit beendet, aber er wurde nie zur Rechenschaft gezogen für den Mord."
"Unglaublich!", fand McCurdy.

In der Bibliothek trafen sich nach dem Essen das Ehepaar McCurdy, Edmond, Jules und auch Bess Rosencrantz, die Mr. McCurdy überrumpelt hatte mit der nicht als Frage gemeinten Bemerkung: "Wenn Sie nichts dagegen haben."
Jules war stehen geblieben, die andern setzten sich und sahen ihn an. Niemand bot ihm einen Stuhl an, er hatte einen trockenen Hals.
Edmond wollte beginnen mit ein paar einleitenden Sätzen, wurde aber gleich unterbrochen von Mr. McCurdy, der, wie Jules wusste, ziemlich viel getrunken hatte und zur Sache kommen wollte.
"Ich möchte nicht lange herumreden Mr. Chiquet. Edmond Jacquelin hat Sie mir ja schon in New York empfohlen, und sie sollen im Brook, von dessen Mitgliedern sich bis heute keiner aufraffen konnte, mich einzuladen, einen hervorragenden Job gemacht haben. Was ich heute von Ihnen gesehen habe, gefiel mir sehr, muss ich sagen. Wir hatten ja bislang nur weibliches Personal, mit einer kurzen Ausnahme..."
Er sah kurz zu seiner Frau, die nickte und dazu die dramatisch die Augen verdrehte.
"Ich hatte kurze Zeit einen Kammerdiener, mit dem ich aber gar nicht zufrieden war. Zu aufdringlich, kein Gefühl für die angemessene Distanz. Das scheint bei Ihnen vorhanden zu sein, sie haben das gewisse Etwas. Sie sind schnell und geschickt, wenn es nötig ist, und man sieht sie nicht, wenn es nicht nötig ist. Vous êtes employé à titre probatoire!"

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