Donnerstag, 5. November 2020

Lügengeschichten (Krimi 1)

Als ich neu in den Kindergarten kam, wurde ich zuhause oft gefragt, wie es mir dort gehe, was wir machen würden, was es dort zum Spielen gebe. Mein Bruder konnte das Angebot mit dem vergleichen, was er, in einem anderen Kindergarten, erlebt hatte, und so kam es zu einer Art Wettstreit darüber, wer die besseren Bedingungen gehabt habe. Ich erfand ein grosses Feuerwehrauto, das in meiner Erzählung durch die Lust an Ausschmückung und Übertreibung sowie durch die Fragen meines Bruders nach Details immer grösser und funktionsmächtiger wurde. Zwar merkte ich bald, dass mir mein Bruder nicht mehr glaubte, aber auch er schien an der Entwicklung des traumhaften Spiel- und Fahrzeugs seinen Spass zu haben, schlug von sich aus phantastische Erweiterungen vor, die ich eifrig bestätigte. Die Sache endete für mich kläglich, weil mein Bruder mich schliesslich auf dem Weg zum Kindergarten auffliegen liess, indem er ein paar meiner Kameraden zu dem Feuerwehrauto befragte. Ich verkleinerte das phantasierte Konstrukt, buchstabierte die Geschichte auf ein Mass zurück, bei dem wenigstens eines der anderen Kinder hätte bestätigend einsteigen und mich retten können. Da es aber in unserem Kindergarten nicht einmal ein kleines Feuerwehrauto gab, liessen sie mich gnadenlos hängen und ich stand als Lüger und Betrüger da. Ich lernte meine Lektion, Geschichten darf man nicht erfinden.

An einem meiner Geburtstage, der wie immer in den Sommerferien lag, fuhr ich mit meinem Vater nach Zürich, wo wir das Kunsthaus besuchten. An die Ausstellung kann ich mich nicht erinnern, wohl aber daran, dass ich Papi für einen Tag für mich alleine hatte. Nach dem Besuch der Ausstellung sassen wir im Museumsrestaurant im Freien, und ich durfte mir etwas zum Essen und Trinken aussuchen. Neue Dinge, Rollmops mit frischem Brot, und Sauser. Und ich bekam von meinem Vater ein Taschenbüchlein geschenkt, das hiess 'Seemannsgarn und andere Lügengeschichten'. Da ich es im Museum nicht sehr lange ausgehalten hatte, wollte mein Vater nochmals in die Ausstellung gehen und schlug mir vor, ich könne sitzen bleiben und lesen, wenn ich wolle. Ich war schon sehr gespannt auf die Lügengeschichten, die auf dem Umschlag des Büchleins so unverfroren angekündigt wurden, willigte ein und begann zu lesen. Vergass alles um mich herum. Es war unglaublich, mein Feuerwehrauto war nichts gewesen im Vergleich zu den haarsträubenden Übertreibungen, Prahlereien und Schlitzohrigkeiten dieser Geschichten! Sie waren toll geschrieben, und weil mir diese Form der Fiktion noch immer als etwas Verbotenes erschien, war die Lektüre umso aufregender.

Ich habe noch nicht viel rein Fiktives geschrieben. Merkwürdigerweise fällt es mir bei erfundenen Geschichten schwerer, einen Ton zu finden, der über meine Person hinausträgt. Vor fünfzehn Jahren schrieb ich mal einen kurzen Krimi, der hiess 'Bürer beschleunigt'. Hier ist der erste Teil davon. Der zweite Teil folgt im nächten Posting.

Bürer beschleunigt

Bürer, den ich noch vor einer halben Stunde nicht kannte, sitzt im Bus nach Almaty neben mir, schwer atmend. Sein Hemd klebt. Im Bus ist es so eng, dass ich es aufgebe, Bürer beim Zuhören das Gesicht zuzuwenden. Es ist schon dunkel und draussen ist nicht mehr viel zu sehen. So starre ich wie er auf die Fläche aus schmuddeligem Kunstfasersamt vor mir, als wäre da ein Bildschirm. Er ist aufgedreht und schwatzt pausenlos, ohne ein Detail auszulassen, gegen die Lehne des vorderen Sitzes, mit weit offenen Augen.

Meinen Namen kennen Sie schon: Lorenz Bürer, siebenundfünfzig, Bauingenieur aus Ror-schach. In der Nacht auf letzten Montag mit dem Flugzeug angekommen, aus Almaty. In Ka-sachstan habe ich einen Monat lang Landsleute beraten. Ich bin zum ersten Mal in Bishkek gewesen und habe hier Bauland zu analysieren gehabt, für eine deutsche Firma. Am Montag-morgen bin ich also durch Bishkek gejoggt, im Trainingsanzug.

Bürer ist zu weit gerannt. Hier werden die Häuser niedriger, die Betonplatten der Trottoirs sind alle zerbrochen. Er muss seine Füsse höher nehmen bei jedem Schritt und ärgert sich. Im Mai sticht die Sonne um halb acht Uhr schon empfindlich, dazu hat der Arbeitsverkehr eingesetzt und macht das Atmen schwer. Schon am ersten Morgen in Bishkek meint er wie zu Hause laufen zu müssen. Bürer beschäftigt sich beim Laufen mit kniffligen Themen, als Teil des Programms. Wenn er abschweift, weiss er, dass er zu schnell rennt. Er hält an einer Kreuzung und orientiert sich: im Süden die Bergkette, rechts das Zirkusgebäude. Er staunt darüber, wie sehr er sich geirrt hat und überquert die Strasse gehend in einer Menschengruppe. Auf der anderen Seite beginnt er wieder zu laufen. Bis zu seiner Wohnung braucht er so fünf Minuten. Es gelingt ihm nicht mehr, den Faden aufzunehmen. Erst in der Badewanne, unter dem dünnen Duschestrahl, bringt er es zusammen.

Kennen Sie das: man ist an einem fremden Ort, ich meine, wirklich fremd? So dass es einen frösteln müsste. Man erlebt etwas, zum Beispiel: der Taxifahrer nimmt bei Tempo hundert-zwanzig beide Hände vom Steuer, führt sie ganz langsam vor sein Gesicht, bedeckt einen Moment lang beide Augen, legt sie dann seelenruhig wieder ans Steuer. Auf einer Strasse, wo unvermutet Schlaglöcher von einem halben Meter Tiefe auftauchen können. Ja, er hat gebetet, bei jedem Friedhof, an dem wir vorbeibrausten. So eine Erklärung beruhigt. Das Erschreckende ist nur: ich blieb schon vorher ruhig. Als ob ich mir die Emotionen aufsparen wollte für später! Für dann, wenn ich darüber erzählen würde. Reise ich zu oft? Oder noch immer zu wenig?

Man umsorgt Bürer, die Firma schickt einen Fahrer. Bishkek findet er vom Auto aus kleiner und schäbiger als Almaty. Man hält vor einem Bau aus den Siebzigerjahren. Er wird vom Direktor und kirgisischen Mitarbeitern mit Tee empfangen. Der Terminplan ist sinnvoll, aber dicht. Man stellt ihm die Dolmetscherin vor. Er kann nur ihren Vornamen behalten: Asel. Sie ist knapp dreissig, hat ein rundes, sehr flaches Gesicht, trägt Jeans und einen Pullover. Sie kann Deutsch, Russisch besser als Kirgisisch. Und Chinesisch. Das wird von der Firma geschätzt, weil Transporte von und nach China zunehmen. Bürer ist beeindruckt. Man verabredet sich für den Abend, die Firma wird ihre Partner in Bishkek empfangen.

Ich habe damals den ganzen Nachmittag verschlafen. Als ich die Vorhalle betreten habe, ist sie festlich geschmückt gewesen und das Büffet bereits eröffnet. Ich hasse Sekt und habe Ausschau gehalten nach Bier. Das habe ich dann auch gefunden, bei einer Gruppe Deutscher. Einer von denen, Henning, hat einen Vortrag für Insider gehalten: es ist um ein Tier gegangen, das er uncia genannt hat, oder ak ilbirs. Ich habe dann herausgefunden, dass das eine Raubkatze sein muss. Als ich nachgefragt habe, sind die anderen verschwunden und ich bin Henning alleine ausgesetzt gewesen. Er hat erzählt, dass er eine Organisation zur Rettung der Schneeleoparden in Zentralasien vertrete. Ich habe das Thema wechseln wollen und gesagt, ich hätte Mühe mit Katzen, reagiere allergisch auf ihre Haare. Henning hat das weggewischt: alles psychosomatisch!

Mitten in Bishkek wollen sie einen Schneeleopard befreien, die Händler dabei verhaften. Dazu braucht es einen fiktiven Käufer. Einer, etwa in Bürers Alter, ist ausgestiegen. Ob er einspringen wolle, Henning halte ihn für geeignet. Keiner kenne ihn und er entspreche dem Bild, das sie den Händlern per Mail beschrieben hätten. Bürer, fasziniert, schüttelt heftig den Kopf: kein Bier mehr jetzt. Laut sagt er: Nein, nein, wo denken Sie hin. Henning gibt ihm die Karte. Rufen Sie mich an, bis morgen Abend.

Ich habe am nächsten Tag viel zu tun gehabt, Kontakte knüpfen, Bauplätze besichtigen, mit dem Fahrer und meiner Dolmetscherin. Ich habe die junge Frau sofort gemocht und ihr das Du angeboten. Mich hat sie aber weiter mit Sie anreden wollen. Ich habe es auf den Altersunterschied geschoben und sie gefragt, wie alt sie mich den schätze. Sie hat es genau getroffen, das hat mich gewurmt.

Er schaltet den Fernsehapparat aus und steht in der dunklen Wohnung. Das Licht draussen ist blau, die Neonschrift auf dem Zirkus leuchtet rot. Dahinter die Bergspitzen des Tienschan, noch schwach rosa glühend. Er holt sich vom Eisschrank ein zweites Bier. Dann schliesst er seine Kamera am Fernseher an und drückt auf play. Für einen Moment erkennt er nicht, was er sieht und hört: eine schnurgerade Strasse, aus der Ferne ansteigend. Der Himmel bleigrau, die Hügel rechts der Strasse rotocker, der links abfallende Hang gelblich, darunter ein Stausee. Der Wind bullert gegen das ungeschützte Mikrophon. Im Fluchtpunkt taucht eine kleine Bewegung auf, leises Brummen: ein Lastwagen. Ganz langsam nimmt das Motorengeräusch zu, Bürer kann voraussehen, wann es den Wind übertönen wird. Ein chinesischer Lastwagen. Bevor der an ihm vorbeidonnern kann, friert Bürer das Bild ein und starrt es lange an. Mit klopfendem Herzen steht er auf, da ist es schon entschieden. Er ruft an und hört sich sagen: „Ich machs!“

Ich habe dann nicht gut geschlafen. Henning hat mir drei Männer vorgestellt, einen Österreicher und zwei Kirgisen in dunklen Anzügen: Beamte aus dem Innenministerium. Sie haben bereits ein Auto besorgt gehabt, und auf Anweisung der Schwarzhändler eine grosse Kiste samt Käfig für die Katze. Ins Auto haben sie ein Mikrophon platzieren wollen, ein zweites in meine Jacke. Sie haben die Absicht gehabt mit zwei zivilen Polizisten anzurücken, einer bewaffnet. Anweisung des Ministers. Ich habe geschwitzt und versucht, mich zu konzentrieren. Man wird mir unauffällig nachfahren und an Ort versuchen, die Fluchtwege abzuschneiden. Die Händler werden mit einem Auto an der Ecke Erkindik / Bokonbayev warten. Ich habe ihnen zu folgen. Falls es schief läuft, soll ich sagen: "My wife will be happy". Für die Händler bin ich der Geschäftsmann Berger, der die Katze für seine Frau kaufen will, die Papiere werden sie mir mitgeben. Ich soll einfach den Businessmann mimen, dem Artenschutz scheissegal ist. Ob ich verstehe? Auf keinen Fall aus Bishkek hinausfahren! Das Geld ist in der Bauchtasche, ein Teil in echten Scheinen. Sie werden aber zuschlagen, bevor es zum Zahlen kommt. Sie erscheinen auf mein Signal, der Satz heisst: "I buy the cat". Die ganze Zeit habe ich gemeint, ich stehe neben mir. Aber es ist mir nicht in den Sinn gekommen auszusteigen.

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