Freitag, 10. März 2023

Spooky Chat

Wenn er die Bilder mit Kommentaren wieder durchsah, welche er selber und die an seinem Kunstprojekt damals Teilnehmenden auf die virtuelle Plattform geladen hatten – "posten" nannte man das – dann erfasste ihn noch immer eine Beunruhigung aus der Tiefe der Erinnerung. Er hatte sich an einem Freitagmorgen an den Frühstückstisch gesetzt. In der Zeitung, noch auf Papier, schlug er die Seite des Feuilletons auf und legte sie an den üblichen Ort, halb auf dem Tisch links neben dem Teller und halb auf dem daran anschliessenden Heizungskörper unter dem Fenster. Zwischen Schlucken aus der Kaffeetasse und Bissen einer Scheibe Brot, belegt mit Butter und Käse, versuchte er, den Artikel zu lesen. Er war ein langsamer Leser, vor allem am Morgen, und musste die Sätze oft mehrmals lesen. Zuerst überflog er in der Regel die Zeilen, um dann nochmals im Text zurückzugehen und die Wörter, Sätze und Abschnitte wirken zu lassen. Dabei nahm er die Bedeutung langsam auf, weil ihn die Wahl der Wörter, ihr Klang, die Reihenfolge und überraschende Formulierungen interessierten und ablenkten. Heute war es aber anders. Vom Inhalt des Gedruckten hatte er nach zwei Abschnitten so wenig mitbekommen, dass er nochmals von vorne begann. Er war sehr irritiert, als er zuoberst einen ihm völlig unbekannten und wie er meinte, neuen Titel las. Auch die Zwischentitel, die er nun schnell überflog, schienen ausgetauscht zu sein, ja sie bezogen sich auf ein Thema, von dem er sicher war, dass er nicht vor ein paar Minuten bereits darüber gelesen hatte. Er zwang sich ruhig zu bleiben und die ganze Seite durchzulesen. Als er fertig war, stellte er fest, dass er nicht hätte sagen können, wovon der Autor – oder war es eine Autorin? – geschrieben hatte. Auch die Überschriften waren ihm wieder gänzlich neu, wie er mit inzwischen starkem Herzklopfen feststellte. Er legte die Zeitung zusammen und trank noch einen Kaffee. Redete sich ein, dass er noch nicht ganz wach sei und dieser Zustand schon vorbeigehen werde. Am besten, man achtete nicht darauf!

Er setzte sich vor den Computer und begann die neusten Einträge in der Gruppenunterhaltung zu seinem Projekt durchzusehen, da wurde ihm deutlich, dass es nicht vorbei war. Er sah sich die Fotos und kurzen Filme an, die in den letzten Tagen neu dazugekommen waren. Es waren nicht viele, so dass er schnell bei älteren, ihm gut vertrauten Beiträgen landete. Als Administrator der virtuellen Gruppe fühlte er sich verpflichtet, zu allem, was die Teilnehmenden zum Projekt beisteuerten, einen wertschätzenden Kommentar abzugeben, weshalb er die kurzen Texte alle auswendig kannte. Umso verblüffter und zunehmend erschrockener las er deshalb das, was da zwischen den Bildern geschrieben stand. Ein Geist, ein Hacker war in die Geschichte eingedrungen und hatte Texte eingefügt, die er noch nie gelesen hatte, die auch keinen Sinn machten. Oder einen völlig verdrehten! Er las sich die absurden Bemerkungen laut vor, um sich zu vergewissern, dass es nicht die richtigen waren. Verschob die schier endlose Reihe der Bilder und Kommentare hoch und runter, kehrte wieder zu denen zurück, die er gerade eben angesehen hatte. Und schon wieder war alles anders! Er spürte, wie sich Panik in seinem Körper ausbreitete. Das Blickfeld war eingeschränkt, der Nacken verspannte sich. Die Luft brannte kalt in der Nase, wenn er sie einsog, und sein Puls raste. Er griff sich aus dem Papierabfall ein paar Blätter, dazu den erstbesten Stift, und begann, Kommentare wortwörtlich abzuschreiben. Dazu zeichnete er eine Skizze des Bildes, auf den sich der Text bezog. Bald schrieb er ganze Unterhaltungen ab, vom ursprünglichen Beitrag bis zu den Antworten und Reaktionen, die sich meist direkt aufeinander bezogen. Systematisch wollte er das Abgeschriebene mit dem vergleichen, was er auf dem Bildschirm sah. Vor allem mit dem, was er sehen würde, wenn er nach einem Moment des Wegschauens wieder zurückkehrte. Denn der Kobold, oder was immer das war, was ihn da narrte, schien die Lücken zu nutzen, die sich aus den Wechseln seiner Aufmerksamkeit ergaben. Von den Abschnitten weiter oben zu denen weiter unten, vom Abgeschriebenen zu dem, was der Bildschirm zeigte. Immer fahriger schrieb er ab – seine Schrift sah grauenhaft aus –, und immer schneller wollte er zu eben erst Gelesenem zurückkehren, um wenigstens einmal wieder etwas zu entdecken, was ihm bekannt vorkam. Umsonst! Auch das, was er gerade eben auf dem Papier hatte festhalten wollen, erschien ihm fremd, neu, zusammenhangslos. Immerhin konnte er für ganz kurze Momente feststellen, dass es dasselbe war, wie auf dem Bildschirm, aber wenn er seine Aufmerksamkeit nur ein wenig verschob, war schon wieder alles verrutscht. Er musste eine Pause einlegen, legte Stift und Papier weg – er hatte inzwischen einen ganzen Stapel vollgeschrieben! – und lehnte sich zurück. Atmete bewusst ein paarmal tief ein und aus. Dabei liess er den Gedanken zu, dass etwas mit seinem Gehirn nicht stimmte. Eine Streifung? Die Andeutung eines Schlaganfalls? Er versuchte, vernünftig darüber nachzudenken. Die Aufregung war sicher nicht gut in einem solchen Fall, dachte er. Also schloss er das Programm und stellte den Computer ab. Beschloss, abzuwarten. Ging hinunter ins Schlafzimmer und legte sich hin. Döste eine Weile.
Als er wieder aufstand, fühlte er sich ruhig und traute sich zu, wieder nach oben zum Computer zu gehen. Als er die Projektseiten geöffnet hatte, sah er sofort, dass der Spuk vorbei war. Die Kommentare waren wieder vertraut, antworteten stimmig aufeinander und wichen auch nicht ab von seinen krakeligen Transkripten, die er schliesslich erleichtert, aber auch etwas verlegen zum Altpapier legte.
Er liess das Programm nach Artikeln suchen mit Begriffen wie "Verlust des Kurzzeitgedächtnisses", "Verlust der Lesefähigkeit" und ähnlichem. Was er zu lesen bekam, war erschreckend, weil es mit Schlaganfällen oder Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer zu tun hatte. Erst als er sich zugestand, das Adjektiv "vorübergehend" hinzuzufügen, stiess er auf eine Bezeichnung für das Erlebte, die ihn einigermassen beruhigte und von der er hoffte, dass sie auch stimmte. Ein Artikel trug den Titel: "Vorübergehende Amnesie: Wenn das Gedächtnis Pause macht". Das gefiel ihm. Es gab sogar einen medizinischen Namen mit der entsprechenden fachlichen Abkürzung dafür: Transiente globale Amnesie, TGA. In den meisten Fällen bleibe eine Episode von TGA einmalig im Leben. Einige Patienten könnten sich, anders als er dies bei sich feststellte, nicht mehr an die Zeit des Vorfalls erinnern, wobei sie während dieser Phase weder die zeitliche und räumliche Orientierung verlören noch Schwierigkeiten beim Erkennen von Personen hätten. Kurze Zeit nach dem Vorfall liessen sich mit bildgebenden Methoden kleine weisse Flecken im Gehirn feststellen, die auf Läsionen hindeuteten. Diese Symptome verschwänden aber relativ schnell wieder und es blieben keine erkennbaren Folgen zurück. Er konnte sich dennoch erst einige Zeit später dazu entschliessen, seiner Frau von dem Erlebnis zu berichten. Der Schreck über das Erlebte sass tief. Sein Gehirn hatte eine Organstörung erfahren. Etwas in seinem Innern war durcheinandergeraten, was er aber als Attacke von aussen erfuhr. Als Durcheinander in der Welt, das sein Ich verwirrte. Während des Anfalls hatte er für einige Momente wirklich geglaubt, jemand habe sich in die virtuelle Plattform eingeschlichen und narre ihn in Echtzeit mit willkürlich eingegebenen Texten.
Jetzt, ein paar Jahre später, hatte er das alles schon beinahe vergessen. Ab und zu kam es ihm wieder in den Sinn, zum Beispiel, wenn er bei seiner alten Mutter die Zeichen einer schleichenden Demenz beobachtete. Auch sie erlebte die Irritationen des eigenen Gehirns als Störungen im Aussen, ausgehend von anderen. "Sie haben wieder ein grosses Durcheinander gemacht!" klagte sie zuweilen, wenn sie mit Wochentagen, Anlässen und Terminen nicht mehr klarkam. Dann beschwerte sie sich über die in ihren Augen schlecht informierten Pflegerinnen, die Abmachungen verwechselten oder vergässen, sie mit Falschinformationen verwirrten und schlecht organisiert seien. Jetzt, wo sie fast nichts mehr ass und immer schwächer wurde, waren von ihr kaum mehr solche Klagen zu hören. Hatte sie sich damit abgefunden, dass die Zeit willkürliche Sprünge machte und die Welt nicht mehr zu verstehen war? War sie am Sterben?
Aus Neugier befasste er sich neuerdings mit Geistern, die es zum Zeitpunkt seiner Amnesie so noch nicht gegeben hatte: Öffentlich und gratis zugängliche Textgeneratoren, denen man Fragen stellen konnte oder die einen begonnenen Text für einen weiterspannen. Bei einem seiner Versuche gab er einen der kurzen Kommentare ein, die ihn damals so geplagt hatten, als er in Panik vor seinem Computer sass und meinte, ein Geist rede mit ihm. Der Satz war von ihm selber geschrieben worden und stand unter dem Bild eines kleinen roten Kopfs aus Wachs, den er an den Gartenpfosten vor seinem Atelier geklebt hatte. Er hiess: "Und: Test für eine Intervention im öffentlichen Raum." Er schrieb noch dazu: "Bilde den nächsten Satz!"
Der Textgenerator schrieb zurück: "Ich habe einen Plan für eine Intervention im öffentlichen Raum." Eine merkwürdige Antwort, fand er, wenn man bedachte, dass die Algorithmen darauf trainiert werden, die wahrscheinlichsten Wörter und Sätze zu präsentieren, die auf eine Eingabe folgten. Wäre da nicht logisch, dass zuerst der Plan gefasst wird und dann der Test erfolgt? Und auf den Test entweder weitere Tests oder die endgültige Umsetzung? Er gab seinen Satz nochmals ein und hängte die Frage: "Was bedeutet das?" daran. Da holte der Geist aus zu dieser erstaunlich erschöpfenden Erklärung:
"Ein Test für eine Intervention im öffentlichen Raum bezieht sich auf die Überprüfung oder Erprobung einer geplanten Aktion oder Maßnahme, die in einem öffentlichen Raum stattfinden soll. Eine solche Intervention kann beispielsweise eine temporäre Installation, ein Kunstprojekt, eine Demonstration oder eine Veranstaltung sein, die darauf abzielt, Menschen zu sensibilisieren oder bestimmte soziale, politische oder umweltbezogene Themen anzusprechen. Der Test ermöglicht es den Organisatoren, die Auswirkungen der Intervention zu beurteilen und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen, bevor sie tatsächlich umgesetzt wird."
Weil er inzwischen wusste, dass das System auf dieselbe Eingabe nie zweimal dieselbe Antwort gab, versuchte er es gleich nochmals. Und während er beim ersten Text erstaunt gewesen war über den linksliberalen Dreh – offenbar war die Suche mit ihren undurchschaubaren Verzweigungen in einem von Aktivisten und Künstlern bestimmten Textumfeld gelandet –, so skizzierte nun die zweite Antwort deutlich unterscheidbar einen Zusammenhang mit stätdteplanerischen Massnahmen, die man durch Tests «sicherer und effizienter» machen könne.
Das erinnerte ihn ein wenig an die Willkür der Texte während seiner Amnesie. Aber der Geist der maschinellen Intelligenz erschreckte ihn weniger, als es sein eigener damals getan hatte.

Freitag, 3. Februar 2023

Noch nicht!

Eines Tages ist der Kater des pensionierten Professors verschwunden. Zusammen mit seiner Frau sucht er nach ihm, zunehmend verzweifelt. Den Namen des Tiers rufend ziehen sie immer weitere Kreise ums Haus, stellen Schüsselchen mit Hering, seiner Lieblingsspeise, in die Umgebung. Als alles Suchen erfolglos bleibt, stürzt der alte Mann in tiefe Trauer.

Katzen können einfach verschwinden. Eine ist zugelaufen, was nichts anderes bedeutet, als dass sie von einem anderen Ort weggelaufen ist. Sie band sich weder an ein Haus noch an die Menschen darin, und zog bald weiter, ohne sich je wieder zu zeigen.

Der Professor wollte sich keine neue Katze mehr anschaffen. War die Bindung an das verschwundene Tier so stark, dass es nicht ersetzt werden konnte? Fühlte er sich nicht mehr in der Lage – er war deutlich älter als seine Frau und begann, gebrechlich zu werden – sich auf den Bewegungsdrang eines jungen Tiers einzulassen, dessen unvorhersehbarem Streichen um die Beine mit Geschick und ohne Sturz begegnen zu können? Befürchtete er, eine junge Katze könnte ihn überleben, was umständliche Vorsorge verlangt hätte?

Manche Katzen ziehen sich vor ihrem Tod von Menschen zurück. Ein alter weisser Kater, nicht kastriert wie jener des Professors, war im hohen Alter struppig und unter dem Fell von knotigen Narben bedeckt. Er konnte den Harn nicht mehr halten und schlief Tag und Nacht. Da machte er sich auf zum letzten Spaziergang in sein einst riesiges Revier und ward nicht mehr gesehen. Sein Verschwinden hinterliess eine gewisse Wehmut im Haus, aber keine tiefe Trauer, denn der kleine Junge, zu dem er einst gehört hatte, war längst nicht mehr da.

Den Professor aber traf der Verlust mit Wucht. Damit hatte er nicht gerechnet, meinte er doch, Alter und Tod Jahr für Jahr überlistet zu haben, wenn er beim Abschlussfest der japanischen Universität den Bierhumpen hob und seinen ehemaligen Studenten und Kollegen mit freudigem Trotz zurief: «Noch nicht!». Obwohl sein Kater einst zugelaufen war und von ihm sogar «Streuner» getauft, schloss er kategorisch aus, dass er davongelaufen sein könnte zu anderen Menschen, in ein anderes Heim. Nein! Er hatte nur an sich selber gedacht! Nun war seinem geliebten Haustier etwas Schlimmes geschehen und er hatte es versäumt ihn durch einen Zauberspruch davor zu bewahren.

Eine Katze gebar fünf Junge. Sie verhielt sich dabei ungewöhnlich, war unruhig und wechselte immer wieder den Ort, so dass die Kleinen im ganzen Raum verstreut lagen, jedes noch über die feine Nabelschnur verbunden mit einem bläulich schimmernden Organ. Das letzte Jungtier war grösser als die anderen, ein Kater. Es blieb halb stecken im Leib der Mutter, die hechelte und mit einem panischen Ausdruck in den Augen umherblickte. Man musste sie daran hindern, durch die Katzentüre in den Garten zu fliehen, wo sie ohne Zweifel gestorben wäre, vielleicht unter einem Busch. So konnte man ihr helfen, sich von ihrem letzten, schon toten Kind zu befreien und zu überleben.

Eines Tages trat eine schwarzweisse Katze durch dieselbe Öffnung in der Gartenhecke des Professors, durch die schon sein geliebter Kater einst erschienen war. Man hätte denken können, es sei die Reinkarnation des verschwundenen Haustiers. Jedenfalls frass er die Heringe, die ihm die Frau hinstellte, mit derselben Hingabe wie sein Vorgänger. Konnte er dessen Stelle im Herzen des Professors einnehmen? Er durfte bleiben und bekam den deutschen Namen «Kurz», wegen seines Stummelschwanzes.

Die Katze hatte vor der schweren Geburt ihrer Jungen schon einen Unfall überlebt, bei dem ihr Becken von einem Auto zertrümmert worden war. Trotzdem erreichte sie ein sehr hohes Alter. Als ihre Nieren zu versagen begannen, zog sie sich oft in den Garten zurück und legte sich zwischen die Stauden. Wenn sie schlief, sah sie nun schon wie tot aus.

Der Professor war Germanist gewesen, was den Katzennamen und das Ritual mit den übergrosssen Biertrinkgefässen erklärte. «Noch nicht!», rief er seinen Freunden zu, wie als kleiner Junge an jenem goldenen Sommerabend, als sie Verstecken spielten auf einem abgeernteten Getreidefeld und er von einem Strohhaufen zum nächsten sprang, weil er sich nicht entscheiden konnte. Die Freunde verfolgten oben auf dem Damm seine Bewegungen und fragten, laut rufend, immer wieder: «Fertig?» Worauf er mit hoher, angestrengter Kinderstimme schrie: «Noch nicht!» Schliesslich aber entdeckte er einen Haufen, der ihm geeignet schien, um darin zu verschwinden.

Die letzte Katze war wild gewesen. Manche Hundebesitzer wechselten die Strassenseite, wenn sie an dem Haus vorbeigingen, das von ihr furchtlos verteidigt wurde. Wenn die ihr vertrauten Menschen von Besorgungen nachhause kamen, waren sie vom feinen Gehör der Katze längst erkannt worden und auch sie kehrte zurück von ihrem Rundgang. In schnellem Trab kam sie daher, kurze Begrüssungslaute ausstossend. Energisch rieb sie sich beim Eintreten durch die Gartentür an den Beinen ihrer Ernährer.

Bevor der kleine Junge sich ganz mit Stroh zugedeckt hat, schaut er gebannt in den Himmel. Die Kamera schwenkt nach oben und man sieht eine Öffnung in den Wolken, deren Ränder in ein unwirkliches rosafarbenes Licht getaucht sind. So endet der letzte Film dieses Regisseurs.

Als die Katze nicht mehr da war, wurde sie von den Menschen, die zu ihr gehörten, noch lange schmerzlich vermisst. Der Schmerz trat dann am heftigsten auf, wenn sie meinten, das Tier sei unverhofft wieder anwesend. Wenn sie aus dem Augenwinkel einen einzelnen dunklen Gegenstand von der Grösse der Katze bemerkten, der sich jedoch nach überraschtem Drehen des Kopfs als Tragetasche oder als herumliegendes Kleidungsstück erwies. In solchen Augenblicken traf sie die Erkenntnis der unwiderruflichen Abwesenheit der Katze wie ein scharfer Stich, gefolgt von leiser Scham über das Gewicht der Trauer, die doch nur einem Tier galt. Aber sie waren alt geworden und wie der Professor wollten auch sie keine weitere Katze mehr ins Haus holen. Darüber durfte man schon ein wenig traurig sein.

«Madadayo» (1993, deutsch: «Noch nicht») ist der letzte Film des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa. Die Geschichte bezieht sich auf das Leben des Dichters und Germanistikprofessors Hyakken Uchida (1889–1971)

Montag, 21. November 2022

Zeitmesser-Dinge

Als ich sah, dass meine Mutter zwei nicht funktionierende Armbanduhren an ihrem abgemagerten Handgelenk trug, beschloss ich, ihr eine neue zu kaufen. Ich fragte sie, ob sie das wolle. Sie meinte, ja, ich müsse ja nicht viel Geld dafür ausgeben. Die eine der kaputten Uhren hatte ich schon einmal zum Flicken gebracht, zum Uhrmacher, den es in der MANOR noch immer gibt. Er hat sie auseinandergenommen, geputzt, einen Dichtungsring ersetzt und die Batterie ausgewechselt. Zehn Minuten konzentrierter Arbeit mit der Lupenbrille, bei der ich ihm zusehen durfte. Es kostete knapp zwanzig Franken. Ich bedankte mich und sagte ihm, es sei schön, dass es ihn noch gebe. Die Uhr lief aber nicht lange, ging zuerst viel zu schnell, dann gar nicht mehr. Nun habe ich im gleichen Geschäft eine SWATCH gekauft, in Pastellfarben, von denen ich dachte, sie könnten der Mutter gefallen. Die Verkäuferin sagte, ich hätte zwei Jahre Garantie auf die Uhr. Gerade noch konnte ich mich zurückhalten zu sagen, dass meine Mutter vielleicht nicht mehr so lange lebe.
Ich zog ihr die SWATCH an bei unserem letzten sonntäglichen Treffen. Sie hatte wie immer sehr kalte Hände, die gleich gross und lang sind – wir habe wieder einmal verglichen – wie meine und wie die meines Bruders. Sie war zufrieden mit der Uhr, fand sie sogar schön. Wieder einmal einen funktionierenden Sekundenzeiger zu sehen, freute sie. Ihre letzten Uhren hatten keinen gehabt. Ob sie im Pflegeheim viel darauf schauen wird, weiss ich nicht. Ihr Zeitgefühl ist schwankend. Aber das ist ja auch schon meines, seit ich pensioniert bin.
Ich kann mich nicht mehr an alle Armbanduhren erinnern, die ich im Leben hatte. Die erste bekam ich zu dem seltsamen Anlass geschenkt, den die Katholiken «Firmung» nennen, was von den Protestanten dann als Konfirmation übernommen worden war, im Sinne von «stark» (lateinisch «firmus») machen der Schäfchen im Glauben. Wer genau mir die Uhr geschenkt hat, weiss ich nicht mehr. Vielleicht hatte die Mutter den Götti dazu gedrängt, der sich selten genug bei uns zeigte. Ich glaube, es war eine OMEGA, eine ziemlich zierliche, aber mit den damals üblichen, später als gesundheitlich bedenklich eingestuften Leuchtziffern. Die strahlten wirklich überirdisch im Dunkeln.
Erst mit Blick auf ein altes Foto von 1968 – damals war ich fünfzehn – kam mir wieder der Uhrbändel-Hype jener Zeit in den Sinn. Plötzlich waren breite Armbänder Mode, am besten so breit wie die Uhr selbst, die dann mit Schnallen darauf befestigt war. Das schaute man den Stars der Musikbranche ab und fand es poppig. Sie saugten sich im Sommer mit Schweiss voll und rochen bald käsig.
Bevor ich mit neunzehn nach Afrika auf Reise ging, kaufte ich mir mit eigenem Geld und einem Zustupf der Mutter eine «sportliche» Uhr, so ein Outdoor-Ding, von dem ich dachte, dass es zu Freiheit und Abenteuer gut passe. Dazu habe ich auch ein Bild gefunden aus der Zeit nach der Afrikareise. Da trage ich an der gleichen Hand die zwei je achtzig Gramm schweren Silberringe, die ich mir in Nordkamerun hatte machen lassen. Das Foto ist ein Selfie aus einem Automaten-Kabäuschen, entstanden am Tag meiner Hochzeit 1979. Die Hand hält den Kopf meiner Frau, die ich gerade küsse. Aber das ist privat.
Eine richtig teure Uhr – so wie meine Söhne, die aber auch ihre Uhren als «noch nicht so richtig teuer» bezeichnen – hatte ich nie. Einmal leibäugelte ich mit einer Taschenuhr von IWC. Das war in der Zeit, als ich eine Weiterbildung machte im Bereich Kommunikationcoachingmanagment blablabla, wo manche der coolen Dozenten eine Taschenuhr auf dem Tisch liegen hatten und ihre Seminare zur grossen Verwunderung der Teilnehmenden auf die Minute genau zu takten wussten. Das wollte ich auch können, aber zum Kauf der Uhr, die gut siebentausend Franken gekostet hätte, konnte ich mich dann doch nicht entschliessen. Vor allem, weil ich befürchtete, sie bald irgendwo liegen zu lassen und zu verlieren. Aber schön war sie, finde ich heute noch.
Jetzt habe ich seit einigen Jahren eine schwarze SWATCH für fünfzig Franken. Seit man ein Handy hat, braucht man ja eigentlich keine Armbanduhr mehr. Aber bei den Ruderregatten war es nötig, dass einer im Boot eine dabeihatte, denn pünktlich fünf Minuten vor dem Rennen muss man sich im Startraum einfinden, sonst gibt es eine Verwarnung. Und wenn man zu spät kommt, wird nicht gewartet. Jetzt fahre ich keine Rennen mehr, aber ich habe die Uhr noch immer und ich schaue auch recht oft nach der Zeit, die sie angibt. Den ursprünglichen Bändel aus weichem Silikonkautschuk habe ich ersetzen müssen durch ein Band aus Leder. Die Weichmacher im Kunststoff hatten mich zum Verrücktwerden gejuckt.

Montag, 29. August 2022

Beim Beschlagen eines Pferdes (magische Dinge 3)

Es gibt eine kolorierte Tuschezeichnung meines Vaters, welche die Beschlagung eines Pferdes zeigt. Es steht nach links, das mächtige Hinterteil im Zentrum des Bildes. Die Ohren lauschen nach hinten, unter mächtigen Wimpern bleiben die Augen ergeben geschlossen. Ein hemdsämliger Mann mit Hut hält einen Hinterhuf mit beiden Händen in die Höhe. Wie er genau zum Pferdehintern steht, wird nicht klar. Mein Vater musste da improvisieren, weil sich die Gruppe von Körpern immer wieder bewegt hat. Trotz der verwirrenden Überschneidungen wird aber deutlich, dass der Helfer des Hufschmieds seine Sache gut macht, indem er das kräftige Bein des Pferdes blockiert und damit ein ruhiges Arbeiten an dem nach oben gedrehten Huf ermöglicht. Mit welchem Schritt der Beschlagung der Schmied gerade beschäftigt ist, kann man nicht erkennen. Zu skizzenhaft hingeworfen sind seine Arme und Hände, und man kann auch kein Werkzeug wie zum Beispiel einen Hammer oder eine Kneifzange ausmachen. Klar und deutlich ist aber zu sehen, wie er sich für die Arbeit hingekniet hat, und auch seine konzentrierte Aufmerksamkeit kommt überzeugend zum Ausdruck. Höchst konzentriert erscheint auch ein kleiner Junge in kurzen Hosen, der dem Geschehen aus nächster Nähe zuschaut.
Der Bub bin ich. Ich brauche, um mich an die Szene zu erinnern, nicht auf den in schöner Blockschrift hingeschriebenen Untertitel zu schauen:
POSCIAVO . BÄRNI BEIM BESCHLAGEN EINES PFERDES 1961?
Natürlich habe nicht ich das Pferd mit einem neuen Eisen ausgestattet, wie mein Vater suggeriert, aber vielleicht hatte er beim Schreiben wie schon zuvor beim Zeichnen das selbstvergessene Verschmelzen seines Buben mit dem Geschehen im Sinn. Der Kleine steht von uns weggedreht im Vordergrund. Ein Restchen seines Profils lässt erahnen, wie er gebannt auf den Huf schaut. Den rechten Arm hält er auf dem Rücken, die Hand am Hosenboden. Vielleicht knetet er gedankenverloren den Stoff.

Der Hufschmied hat eine tragbare Holzkiste mit Lederriemen und ein paar Schubladen. Aus der untersten nimmt er die Hufeisen heraus, sucht eines aus und hält es auf den Huf. Passt nicht, also nimmt er ein nächstes. Findet schliesslich eines, das ihm richtig erscheint. Aber auch dieses muss noch ein paar Mal in die Kohlen. Er geht dazu ins Dunkel der Werkstatt, deren Tore zum Vorplatz weit offenstehen. Zieht ein- zweimal an der Kette des riesigen Blasbalgs an der Decke. Unten sprühen die Funken im Rhythmus des fauchenden Atems. Als das Eisen rot ist, wird es auf dem unförmigen Ding geschlagen, das mein Vater Amboss nennt. Die Schläge tönen dumpf, trocken und nicht nach Metall. Immer wieder geht der Schmied zum Pferd um zu schauen, ob es passt. Für den Bauer wird es schwer, das Bein solange hochzuheben, weil das Tier langsam die Geduld verliert. Plötzlich hält der Schmied das Eisen nicht mehr über den Huf, sondern drückt es darauf. Es zischt und brutzelt, sofort ist alles in bläulichen Dunst getaucht. Und wie das riecht, ein bisschen wie damals, als ich mir an einer Kerze die Haare verbrannte, aber viel strenger. Etwas zwischen gut und eklig. Dem Pferd tut es nicht weh, es ist nicht zusammengezuckt bei der Berührung, aber der Rauch macht es unruhig. Also muss der Schmied vorwärtsmachen. Er nimmt das Eisen nochmals vom Huf, kühlt es im Wasserkessel und beginnt dann, es anzunageln. Der erste Nagel geht daneben, ich sehe genau, wie er seitlich aus dem Huf herausschiesst. Dann merke ich, dass man es so machen muss. Die Spitze des vorstehenden Nagels wird mit der Zange abgezwackt bis auf einen halben Zentimeter, dann umgeklappt und mit dem Hammer im weichen Horn versenkt. Viele Nägel braucht es, ein paar fallen auf den Boden, als der Schmied im Karton kramt. Ich setze den Fuss auf einen in meiner Nähe, damit ich ihn später heimlich mitnehmen kann. Noch lange bleibt er unter meinen Schätzen. Der Kopf sieht aus wie ein geschliffener Edelstein.

Donnerstag, 25. August 2022

zum Beispiel ein Tisch (kurz)

Dinge, auch unscheinbare, können einen um Generationen überleben. Es gibt in unserem Atelierhaushalt einen kleinen Tisch aus Kirschholz, den wir beim Kauf des Hauses als eines von ganz wenigen Dingen übernommen und behalten haben. Es könnte sein, dass das kleine Möbelstück noch aus der Zeit des Architekten stammt, der das Haus für sich und seine Familie 1907 gebaut hat.
Das Tischchen sah ich zum ersten Mal als Kind, und zwar in der Mansarde des Hauses, das dann nicht mehr der Familie Gfeller gehörte, sondern einer Frau D, die darin als Witwe wohnte, zusammen mit ihrem jüngsten, geistig behinderten Sohn. Frau D war die Grossmutter eines meiner Spielkameraden, dem jüngsten Kind der Familie H, mit der meine Eltern auf eine etwas komplizierte Weise befreundet waren. Ich wurde einmal mitgenommen ins Haus der Grossmutter, und wir durften auf dem Estrich spielen, der sich, aufregend und etwas gruselig dunkel, um die Mansarde zog wie der Gang einer Geisterbahn. In einer Pause unseres Spiels führte mich mein Kamerad zu Werni. Dieser sass im schwachen Schein einer Lampe an einem kleinen Tisch und arbeitete an seinen Musikkatalogen. Aus den Broschüren eines Musikhauses schrieb er Titel um Titel akkurat ab in ein Heft, in Grossbuchstaben, auf jeder Zeile in einer anderen Farbe, und er zeigte uns sein Werk mit würdevollem Stolz. Dass diese Tätigkeit als bizarr angesehen wurde, merkte ich erst am Verhalten und an den Äusserungen der Familienmitglieder, die sich, zwar nicht lieblos, aber doch recht ungeniert, über ihren Webstübeler lustig machten.

Wernis Tischchen aus Kirschenholz ist nun ein Werktisch, an dem ich handwerkliche Arbeiten für meine Kunstprojekte ausführe. Es steht immer noch, oder wieder, auf demselben Estrich, in deren Mansarde Werni seine farbigen Listen malte. In meiner letzten Ausstellung wurde es in eine grosse Installation eingebaut. Ich habe die unaufgeräumte Situation, die ich beim Modellieren darauf angerichtet hatte, fotografiert, und in der Ausstellung mit allen Dingen, mit allen Tonbröseln und mitsamt dem Staub, wieder aufgebaut. Es hat mich erstaunt, wie sehr sich das kleine Möbel durch die Verschiebung des Kontextes in meinen Augen veränderte, und wie vollständig es sich danach wieder in das ganz normale Werktischchen zurück verwandelt hat. Ich habe Drachen darauf gebaut, für ein nächstes Vorhaben und im Moment ist es belegt mit Schachteln voller Bilder und Dokumente, die ich für meinen Roman brauchte. Mir gefällt der Gedanke, dass das Tischchen noch viel länger leben könnte als ich. Auch wenn, oder gerade weil dann niemand mehr wissen wird, wie einst Werni daran gearbeitet hat, und dass ich an einem der gedrechselten Beine ein Astloch sorgfältig mit Kirschholz geflickt habe.

Montag, 22. August 2022

Weisse und schwarze Schwäne

Es waren die von den meisten nicht vorhergesehenen Ereignisse der letzten Jahre, die den Begriff des «schwarzen Schwans» («black swan») erneut zur Diskussion stellten. Der Publizist und ehemalige Optionshändler Nassim Nicholas Taleb hatte 2007 ein Buch mit dem Titel «Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse» publiziert und darin eine Metapher des römischen Satirikers Juvenal aufgegriffen, der – als typischer Macho – die Seltenheit einer treuen Ehefrau mit diesem Tier verglichen hatte, von dem er allerdings annahm, dass es ganz und gar inexistent sei. Erst nach seiner Entdeckung in Westaustralien durch niederländische Eroberer wurde der schwarze Schwan dann zur Metapher für ein sehr unwahrscheinliches, aber eben mögliches Ereignis.
Als im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie der Vergleich vielfach in den Zeitungen auftauchte, habe ich das Buch von Taleb gelesen, das spannend beginnt, dann aber durch zu viele Wiederholungen seinen Schwung verliert. Störend sind auch die dauernden Seitenhiebe gegenüber den früheren Berufskollegen, die er als betriebsblind und der Macht der Gaussschen Kurve erlegen bezeichnet. Nach zwei Beispielen hätte man es als Leser verstanden.
Ich habe dann begonnen, mich mit dem schwarzen Schwan ganz direkt – als Bild oder Objekt – zu beschäftigen. Ich baute zum Beispiel Drachen in dieser Gestalt. Oder ich erstellte von einem kleinen Fundobjekt in der Gestalt eines Schwans eine Gussform, mit der ich dutzendfach weisse und schwarze Schwäne aus Parafin und aus Pech giessen konnte. Ich hatte die Absicht, diese irgendwann einmal im öffentlichen städtischen Raum ‘auszusetzen’.
Nun haben sich die kleinen schwarzen Schwäne ihrem Ruf entsprechend verhalten und ihre Form in nicht vorhersehbarer Weise verändert. Pech ist ein Stoff, der aus organischem Material (z. B. Holz oder Erdöl) mit dem Verfahren der Pyrolyse gewonnen wird. Dazu setzt man das Ausgangsmaterial längere Zeit hohen Temperaturen aus, aber unter Luftabschluss. Dies verhindert die Verbrennung und führt zu einer chemischen Spaltung, deren eines Produkt das Pech ist. Es fällt zunächst als Flüssigkeit aus und kann dann durch Kochen verdickt werden, bis es fest wird. Das Pech, welches ich für meine Güsse verwendet habe, bezog ich von einer Firma, die Bedarf für Silber- und Goldschmiede herstellt. In jenem Zusammenhang wird es zum Beispiel verwendet als zähplastische Unterlage von Blechen, die man durch Schläge oder Druck verformen will.
Nach dem Abkühlen wurden die schwarzen Schwäne hart. Das Material bricht sogar sehr leicht und glasig. Bei längerem Aufbewahren in Zimmertemperatur zeigte sich jedoch, dass das Pech eine Flüssigkeit geblieben ist. Die Schwäne legten alle ihren Kopf zur Seite, dann sogar auf ihren Körper, was recht anmutig aussieht. Auch der Körper fliesst, wenn auch viel unscheinbarer, in die Breite, und man ahnt, dass die Schwäne irgendwann ineinander zerfliessen würden.

Mittwoch, 20. Juli 2022

Rheingeschichten 4

Es ist kein Wunder, dass mir die Geschichte von Gerold Spät hier auf dem Untersee in den Sinn kommt. Die Wirbel, die ich vom hölzernen Heck weg in die öligglatte Fläche schiebe, haben einen schönen Abstand. Mehr als das Boot lang ist. Es läuft. Und ist so unbeirrbar im Gleichgewicht, dass man sich in aller Ruhe die Dinge vornehmen kann, die dieses Dahingleiten befördern. Die Arme zu strecken zum Beispiel, und das Wasser ganz vorne zu packen. Die Schultern dabei locker hängen zu lassen – weg von den Ohren! –, so dass die Blätter mit einem Blop! im See einrasten. Oder man kann sich – warum nicht? – an diese Geschichte erinnern. Spielt auf dem oberen Zürichsee, bei Verhältnissen wie hier. Spiegelglattes Wasser. Kaum zu sehen die sehr flachen, riesig weit ausgedehnten Täler. Und Hügel, auf deren Kuppe das Boot zur einen oder andern Seite abschmiert, dabei seine Richtung verliert und mit einseitigem Zug wieder eingerenkt werden muss. Stehen also bei solchem Wasser ein paar Buben am Ufer. Es ist heiss, der See verglitzert und verschwimmt unter der Sonne. Bildet sich plötzlich ein ungeheurer Buckel ganz weit draussen. Der zieht seitwärts weg, als ob etwas unter der Oberfläche dahinschiessen würde. Etwas unvorstellbar Grosses, Unheimliches. Was? Wohin? Die Buben rufen aus, zeigen auf den See. Werweissen. Da haut ihnen der Fischer Unschlecht die zeigenden Finger herunter. «Nicht hinschauen! Nicht einmal irionieren!» Er sagt irionieren, sie verstehen, was er meint. Dann bricht die Geschichte ab und eine nächste folgt.
Wiffen heissen die Dinger, die sie hier, und nur hier, in den See- und Flussgrund rammen, zwischen Seeausgang und dem grossen Laufen, wie der Rheinfall früher hiess. Pfosten, eigentlich Baumstämme, die im See die Untiefen in Ufernähe anzeigen und im Rhein dann die Fahrrinne für die Schiffe. Die im stehenden Gewässer sind Skulpturen. Tragen noch die Signale aus alten Tagen: grosse, flaschenbauchförmige Körbe, von Sonne und Regen schwarzgrau verfärbt. Ich sollte wieder mal den Kopf drehen, aus dem Augenwinkel nach dem andern Einer schauen, mit dem Matthias den Wiffen entlang in Richtung Seeausgang zieht. Bald werde ich froh sein, dass er die Führung übernimmt, denn als endlich auch das andere Ufer näherkommt, nimmt die Strömung Fahrt auf. Wir sind auf dem Rhein. Hier tragen die Pfosten rhombusförmige Blechtafeln, grün auf der Seite, wo die Kursschiffe fahren. Auf der weissen Seite sollten wir bleiben. Jetzt ist es aus mit dem gemütlichen nach hinten Schauen alle zwanzig Schläge. Ich zähle: eins, zwei, drei, schauen! Eins, zwei, drei, vier, schauen! Es kann sein, dass du an drei, vier Markierungen auf der weissen Seite vorbeigerauscht bist, zwischen dem nahen Ufer und den Pfosten, die vor sich einen imponierenden Wellenwulst aufstauen und hinter sich das Wasser zerquirlen zu einer sich ausbreitenden Bahn von Wirbeln. Dann kommt plötzlich keiner mehr. Aber als du richtig hinter dich schaust, siehst du das Führungsboot mit kräftigen Schlägen hinüberziehen. Weiss hat abrupt die Seite gewechselt, und du musst schauen, dass du hinüberkommst. Dich rechtzeitig vor dem Hindernis parallel zum Fluss stellst, denn was passieren würde, wenn du seitlich erwischt würdest, willst du nicht wissen. Den Film mit dem in der Mitte zerteilten Weidling schaue ich mir erst nach unserer Reise an.
Manche Strecken sind unwirklich schön. Im Wald um die Thurmündung, zwischen schwarzgrünen Wänden aus Bäumen, in deren Schatten sich Fische tummeln, so gross und zahlreich, wie ich es noch nie gesehen habe im Rhein. Wo der Gesang der Amseln widerhallt übers Wasser, laut und klar wie Stimmen in einem Kirchenraum. Da traue ich mir zwischendurch auch zu, vorauszufahren. Matthias schräg hinter mir. Manchmal können wir auch – das ist am schönsten! – nebeneinander rudern, dabei dem doppelten Rhythmus der Boote lauschen. Kulissen wie aus dem Bilderbuch ziehen vorbei: die alte Holzbrücke von Diessenhofen, das Kloster Rheinau. Müssen fotografiert werden. Die Rennstrecke vor Eglisau ist kaum zur Deckung zu bringen mit den Bildern, die ich vom Winter im Kopf habe. Wo mir der Westwind das eisige Wasser an den Rücken klatschte und ich den Riemen kaum mehr halten konnte. Jetzt: Strandbäder mit lachenden und kreischenden Kindern links und rechts.
Der Wind ist vier Tage lang unser Verbündeter! Wenn er bläst, dann vom Heck her. Ich rudere längere Stücke mit aufgestellten Blättern, um den Schub zu nutzen. Käme er von vorne, von Westen, müssten wir unsere Übernachtungen neu organisieren. Auch sonst meint es das Wetter gut mit uns, ausser an einem Nachmittag, an dem wir eine Kaltfront mit dichtem Regen und ruppigen Böen in einer Kneipe vorbeiziehen lassen. Die Boote schlummern derweil unter einer Brücke wie die Landstreicher. Dort, im Trockenen, machen wir auch meinen Einer mit Klebeband wieder halbwegs heil, nachdem ich ihn unterhalb des Koblenzer Laufens auf einen Stein gesetzt habe. Matthias wechselte an einer turbulenten Stelle überraschend die Seite, weil er eine günstigere Fahrrinne entdeckt hatte. Mir reichte es nicht mehr, aus einem weiss rauschenden, sehr niedrigen Wasser herauszufahren, da krachte es unter mir. Ich stand still, sass hinter meinem Rollsitz. Versuchte, mich loszuschaukeln, aber das Boot antwortete mit laut knackenden Geräuschen. Ich dachte: «Mist, so endet das!» Musste hinaus in die knietiefe Strömung, das Boot vom Stein herunterholen und ein paar Meter flussabwärts in tieferes Wasser ziehen. Jetzt aber gurgelte und riss es um mich herum, das Boot stand zu hoch zum Einsteigen, und schräg in der Strömung. Bockig wie ein Esel. Das erzählt sich so leicht, aber ich war nicht ruhig dabei, habe geflucht und nach Matthias gerufen, von dem ich nur noch sah, dass er zu landen versuchte, bevor er hinter der nächsten Biegung verschwand. Ich brauchte alle meine Kräfte, um das Boot gerade zu halten und mich hinaufzuhieven. Es zog Wasser, aber nicht sprudelnd, wie ich befürchtet hatte. Und liess sich eben flicken mit Tape.