Freitag, 3. Februar 2023

Noch nicht!

Eines Tages ist der Kater des pensionierten Professors verschwunden. Zusammen mit seiner Frau sucht er nach ihm, zunehmend verzweifelt. Den Namen des Tiers rufend ziehen sie immer weitere Kreise ums Haus, stellen Schüsselchen mit Hering, seiner Lieblingsspeise, in die Umgebung. Als alles Suchen erfolglos bleibt, stürzt der alte Mann in tiefe Trauer.

Katzen können einfach verschwinden. Eine ist zugelaufen, was nichts anderes bedeutet, als dass sie von einem anderen Ort weggelaufen ist. Sie band sich weder an ein Haus noch an die Menschen darin, und zog bald weiter, ohne sich je wieder zu zeigen.

Der Professor wollte sich keine neue Katze mehr anschaffen. War die Bindung an das verschwundene Tier so stark, dass es nicht ersetzt werden konnte? Fühlte er sich nicht mehr in der Lage – er war deutlich älter als seine Frau und begann, gebrechlich zu werden – sich auf den Bewegungsdrang eines jungen Tiers einzulassen, dessen unvorhersehbarem Streichen um die Beine mit Geschick und ohne Sturz begegnen zu können? Befürchtete er, eine junge Katze könnte ihn überleben, was umständliche Vorsorge verlangt hätte?

Manche Katzen ziehen sich vor ihrem Tod von Menschen zurück. Ein alter weisser Kater, nicht kastriert wie jener des Professors, war im hohen Alter struppig und unter dem Fell von knotigen Narben bedeckt. Er konnte den Harn nicht mehr halten und schlief Tag und Nacht. Da machte er sich auf zum letzten Spaziergang in sein einst riesiges Revier und ward nicht mehr gesehen. Sein Verschwinden hinterliess eine gewisse Wehmut im Haus, aber keine tiefe Trauer, denn der kleine Junge, zu dem er einst gehört hatte, war längst nicht mehr da.

Den Professor aber traf der Verlust mit Wucht. Damit hatte er nicht gerechnet, meinte er doch, Alter und Tod Jahr für Jahr überlistet zu haben, wenn er beim Abschlussfest der japanischen Universität den Bierhumpen hob und seinen ehemaligen Studenten und Kollegen mit freudigem Trotz zurief: «Noch nicht!». Obwohl sein Kater einst zugelaufen war und von ihm sogar «Streuner» getauft, schloss er kategorisch aus, dass er davongelaufen sein könnte zu anderen Menschen, in ein anderes Heim. Nein! Er hatte nur an sich selber gedacht! Nun war seinem geliebten Haustier etwas Schlimmes geschehen und er hatte es versäumt ihn durch einen Zauberspruch davor zu bewahren.

Eine Katze gebar fünf Junge. Sie verhielt sich dabei ungewöhnlich, war unruhig und wechselte immer wieder den Ort, so dass die Kleinen im ganzen Raum verstreut lagen, jedes noch über die feine Nabelschnur verbunden mit einem bläulich schimmernden Organ. Das letzte Jungtier war grösser als die anderen, ein Kater. Es blieb halb stecken im Leib der Mutter, die hechelte und mit einem panischen Ausdruck in den Augen umherblickte. Man musste sie daran hindern, durch die Katzentüre in den Garten zu fliehen, wo sie ohne Zweifel gestorben wäre, vielleicht unter einem Busch. So konnte man ihr helfen, sich von ihrem letzten, schon toten Kind zu befreien und zu überleben.

Eines Tages trat eine schwarzweisse Katze durch dieselbe Öffnung in der Gartenhecke des Professors, durch die schon sein geliebter Kater einst erschienen war. Man hätte denken können, es sei die Reinkarnation des verschwundenen Haustiers. Jedenfalls frass er die Heringe, die ihm die Frau hinstellte, mit derselben Hingabe wie sein Vorgänger. Konnte er dessen Stelle im Herzen des Professors einnehmen? Er durfte bleiben und bekam den deutschen Namen «Kurz», wegen seines Stummelschwanzes.

Die Katze hatte vor der schweren Geburt ihrer Jungen schon einen Unfall überlebt, bei dem ihr Becken von einem Auto zertrümmert worden war. Trotzdem erreichte sie ein sehr hohes Alter. Als ihre Nieren zu versagen begannen, zog sie sich oft in den Garten zurück und legte sich zwischen die Stauden. Wenn sie schlief, sah sie nun schon wie tot aus.

Der Professor war Germanist gewesen, was den Katzennamen und das Ritual mit den übergrosssen Biertrinkgefässen erklärte. «Noch nicht!», rief er seinen Freunden zu, wie als kleiner Junge an jenem goldenen Sommerabend, als sie Verstecken spielten auf einem abgeernteten Getreidefeld und er von einem Strohhaufen zum nächsten sprang, weil er sich nicht entscheiden konnte. Die Freunde verfolgten oben auf dem Damm seine Bewegungen und fragten, laut rufend, immer wieder: «Fertig?» Worauf er mit hoher, angestrengter Kinderstimme schrie: «Noch nicht!» Schliesslich aber entdeckte er einen Haufen, der ihm geeignet schien, um darin zu verschwinden.

Die letzte Katze war wild gewesen. Manche Hundebesitzer wechselten die Strassenseite, wenn sie an dem Haus vorbeigingen, das von ihr furchtlos verteidigt wurde. Wenn die ihr vertrauten Menschen von Besorgungen nachhause kamen, waren sie vom feinen Gehör der Katze längst erkannt worden und auch sie kehrte zurück von ihrem Rundgang. In schnellem Trab kam sie daher, kurze Begrüssungslaute ausstossend. Energisch rieb sie sich beim Eintreten durch die Gartentür an den Beinen ihrer Ernährer.

Bevor der kleine Junge sich ganz mit Stroh zugedeckt hat, schaut er gebannt in den Himmel. Die Kamera schwenkt nach oben und man sieht eine Öffnung in den Wolken, deren Ränder in ein unwirkliches rosafarbenes Licht getaucht sind. So endet der letzte Film dieses Regisseurs.

Als die Katze nicht mehr da war, wurde sie von den Menschen, die zu ihr gehörten, noch lange schmerzlich vermisst. Der Schmerz trat dann am heftigsten auf, wenn sie meinten, das Tier sei unverhofft wieder anwesend. Wenn sie aus dem Augenwinkel einen einzelnen dunklen Gegenstand von der Grösse der Katze bemerkten, der sich jedoch nach überraschtem Drehen des Kopfs als Tragetasche oder als herumliegendes Kleidungsstück erwies. In solchen Augenblicken traf sie die Erkenntnis der unwiderruflichen Abwesenheit der Katze wie ein scharfer Stich, gefolgt von leiser Scham über das Gewicht der Trauer, die doch nur einem Tier galt. Aber sie waren alt geworden und wie der Professor wollten auch sie keine weitere Katze mehr ins Haus holen. Darüber durfte man schon ein wenig traurig sein.

«Madadayo» (1993, deutsch: «Noch nicht») ist der letzte Film des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa. Die Geschichte bezieht sich auf das Leben des Dichters und Germanistikprofessors Hyakken Uchida (1889–1971)

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