Freitag, 10. März 2023

Spooky Chat

Wenn er die Bilder mit Kommentaren wieder durchsah, welche er selber und die an seinem Kunstprojekt damals Teilnehmenden auf die virtuelle Plattform geladen hatten – "posten" nannte man das – dann erfasste ihn noch immer eine Beunruhigung aus der Tiefe der Erinnerung. Er hatte sich an einem Freitagmorgen an den Frühstückstisch gesetzt. In der Zeitung, noch auf Papier, schlug er die Seite des Feuilletons auf und legte sie an den üblichen Ort, halb auf dem Tisch links neben dem Teller und halb auf dem daran anschliessenden Heizungskörper unter dem Fenster. Zwischen Schlucken aus der Kaffeetasse und Bissen einer Scheibe Brot, belegt mit Butter und Käse, versuchte er, den Artikel zu lesen. Er war ein langsamer Leser, vor allem am Morgen, und musste die Sätze oft mehrmals lesen. Zuerst überflog er in der Regel die Zeilen, um dann nochmals im Text zurückzugehen und die Wörter, Sätze und Abschnitte wirken zu lassen. Dabei nahm er die Bedeutung langsam auf, weil ihn die Wahl der Wörter, ihr Klang, die Reihenfolge und überraschende Formulierungen interessierten und ablenkten. Heute war es aber anders. Vom Inhalt des Gedruckten hatte er nach zwei Abschnitten so wenig mitbekommen, dass er nochmals von vorne begann. Er war sehr irritiert, als er zuoberst einen ihm völlig unbekannten und wie er meinte, neuen Titel las. Auch die Zwischentitel, die er nun schnell überflog, schienen ausgetauscht zu sein, ja sie bezogen sich auf ein Thema, von dem er sicher war, dass er nicht vor ein paar Minuten bereits darüber gelesen hatte. Er zwang sich ruhig zu bleiben und die ganze Seite durchzulesen. Als er fertig war, stellte er fest, dass er nicht hätte sagen können, wovon der Autor – oder war es eine Autorin? – geschrieben hatte. Auch die Überschriften waren ihm wieder gänzlich neu, wie er mit inzwischen starkem Herzklopfen feststellte. Er legte die Zeitung zusammen und trank noch einen Kaffee. Redete sich ein, dass er noch nicht ganz wach sei und dieser Zustand schon vorbeigehen werde. Am besten, man achtete nicht darauf!

Er setzte sich vor den Computer und begann die neusten Einträge in der Gruppenunterhaltung zu seinem Projekt durchzusehen, da wurde ihm deutlich, dass es nicht vorbei war. Er sah sich die Fotos und kurzen Filme an, die in den letzten Tagen neu dazugekommen waren. Es waren nicht viele, so dass er schnell bei älteren, ihm gut vertrauten Beiträgen landete. Als Administrator der virtuellen Gruppe fühlte er sich verpflichtet, zu allem, was die Teilnehmenden zum Projekt beisteuerten, einen wertschätzenden Kommentar abzugeben, weshalb er die kurzen Texte alle auswendig kannte. Umso verblüffter und zunehmend erschrockener las er deshalb das, was da zwischen den Bildern geschrieben stand. Ein Geist, ein Hacker war in die Geschichte eingedrungen und hatte Texte eingefügt, die er noch nie gelesen hatte, die auch keinen Sinn machten. Oder einen völlig verdrehten! Er las sich die absurden Bemerkungen laut vor, um sich zu vergewissern, dass es nicht die richtigen waren. Verschob die schier endlose Reihe der Bilder und Kommentare hoch und runter, kehrte wieder zu denen zurück, die er gerade eben angesehen hatte. Und schon wieder war alles anders! Er spürte, wie sich Panik in seinem Körper ausbreitete. Das Blickfeld war eingeschränkt, der Nacken verspannte sich. Die Luft brannte kalt in der Nase, wenn er sie einsog, und sein Puls raste. Er griff sich aus dem Papierabfall ein paar Blätter, dazu den erstbesten Stift, und begann, Kommentare wortwörtlich abzuschreiben. Dazu zeichnete er eine Skizze des Bildes, auf den sich der Text bezog. Bald schrieb er ganze Unterhaltungen ab, vom ursprünglichen Beitrag bis zu den Antworten und Reaktionen, die sich meist direkt aufeinander bezogen. Systematisch wollte er das Abgeschriebene mit dem vergleichen, was er auf dem Bildschirm sah. Vor allem mit dem, was er sehen würde, wenn er nach einem Moment des Wegschauens wieder zurückkehrte. Denn der Kobold, oder was immer das war, was ihn da narrte, schien die Lücken zu nutzen, die sich aus den Wechseln seiner Aufmerksamkeit ergaben. Von den Abschnitten weiter oben zu denen weiter unten, vom Abgeschriebenen zu dem, was der Bildschirm zeigte. Immer fahriger schrieb er ab – seine Schrift sah grauenhaft aus –, und immer schneller wollte er zu eben erst Gelesenem zurückkehren, um wenigstens einmal wieder etwas zu entdecken, was ihm bekannt vorkam. Umsonst! Auch das, was er gerade eben auf dem Papier hatte festhalten wollen, erschien ihm fremd, neu, zusammenhangslos. Immerhin konnte er für ganz kurze Momente feststellen, dass es dasselbe war, wie auf dem Bildschirm, aber wenn er seine Aufmerksamkeit nur ein wenig verschob, war schon wieder alles verrutscht. Er musste eine Pause einlegen, legte Stift und Papier weg – er hatte inzwischen einen ganzen Stapel vollgeschrieben! – und lehnte sich zurück. Atmete bewusst ein paarmal tief ein und aus. Dabei liess er den Gedanken zu, dass etwas mit seinem Gehirn nicht stimmte. Eine Streifung? Die Andeutung eines Schlaganfalls? Er versuchte, vernünftig darüber nachzudenken. Die Aufregung war sicher nicht gut in einem solchen Fall, dachte er. Also schloss er das Programm und stellte den Computer ab. Beschloss, abzuwarten. Ging hinunter ins Schlafzimmer und legte sich hin. Döste eine Weile.
Als er wieder aufstand, fühlte er sich ruhig und traute sich zu, wieder nach oben zum Computer zu gehen. Als er die Projektseiten geöffnet hatte, sah er sofort, dass der Spuk vorbei war. Die Kommentare waren wieder vertraut, antworteten stimmig aufeinander und wichen auch nicht ab von seinen krakeligen Transkripten, die er schliesslich erleichtert, aber auch etwas verlegen zum Altpapier legte.
Er liess das Programm nach Artikeln suchen mit Begriffen wie "Verlust des Kurzzeitgedächtnisses", "Verlust der Lesefähigkeit" und ähnlichem. Was er zu lesen bekam, war erschreckend, weil es mit Schlaganfällen oder Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer zu tun hatte. Erst als er sich zugestand, das Adjektiv "vorübergehend" hinzuzufügen, stiess er auf eine Bezeichnung für das Erlebte, die ihn einigermassen beruhigte und von der er hoffte, dass sie auch stimmte. Ein Artikel trug den Titel: "Vorübergehende Amnesie: Wenn das Gedächtnis Pause macht". Das gefiel ihm. Es gab sogar einen medizinischen Namen mit der entsprechenden fachlichen Abkürzung dafür: Transiente globale Amnesie, TGA. In den meisten Fällen bleibe eine Episode von TGA einmalig im Leben. Einige Patienten könnten sich, anders als er dies bei sich feststellte, nicht mehr an die Zeit des Vorfalls erinnern, wobei sie während dieser Phase weder die zeitliche und räumliche Orientierung verlören noch Schwierigkeiten beim Erkennen von Personen hätten. Kurze Zeit nach dem Vorfall liessen sich mit bildgebenden Methoden kleine weisse Flecken im Gehirn feststellen, die auf Läsionen hindeuteten. Diese Symptome verschwänden aber relativ schnell wieder und es blieben keine erkennbaren Folgen zurück. Er konnte sich dennoch erst einige Zeit später dazu entschliessen, seiner Frau von dem Erlebnis zu berichten. Der Schreck über das Erlebte sass tief. Sein Gehirn hatte eine Organstörung erfahren. Etwas in seinem Innern war durcheinandergeraten, was er aber als Attacke von aussen erfuhr. Als Durcheinander in der Welt, das sein Ich verwirrte. Während des Anfalls hatte er für einige Momente wirklich geglaubt, jemand habe sich in die virtuelle Plattform eingeschlichen und narre ihn in Echtzeit mit willkürlich eingegebenen Texten.
Jetzt, ein paar Jahre später, hatte er das alles schon beinahe vergessen. Ab und zu kam es ihm wieder in den Sinn, zum Beispiel, wenn er bei seiner alten Mutter die Zeichen einer schleichenden Demenz beobachtete. Auch sie erlebte die Irritationen des eigenen Gehirns als Störungen im Aussen, ausgehend von anderen. "Sie haben wieder ein grosses Durcheinander gemacht!" klagte sie zuweilen, wenn sie mit Wochentagen, Anlässen und Terminen nicht mehr klarkam. Dann beschwerte sie sich über die in ihren Augen schlecht informierten Pflegerinnen, die Abmachungen verwechselten oder vergässen, sie mit Falschinformationen verwirrten und schlecht organisiert seien. Jetzt, wo sie fast nichts mehr ass und immer schwächer wurde, waren von ihr kaum mehr solche Klagen zu hören. Hatte sie sich damit abgefunden, dass die Zeit willkürliche Sprünge machte und die Welt nicht mehr zu verstehen war? War sie am Sterben?
Aus Neugier befasste er sich neuerdings mit Geistern, die es zum Zeitpunkt seiner Amnesie so noch nicht gegeben hatte: Öffentlich und gratis zugängliche Textgeneratoren, denen man Fragen stellen konnte oder die einen begonnenen Text für einen weiterspannen. Bei einem seiner Versuche gab er einen der kurzen Kommentare ein, die ihn damals so geplagt hatten, als er in Panik vor seinem Computer sass und meinte, ein Geist rede mit ihm. Der Satz war von ihm selber geschrieben worden und stand unter dem Bild eines kleinen roten Kopfs aus Wachs, den er an den Gartenpfosten vor seinem Atelier geklebt hatte. Er hiess: "Und: Test für eine Intervention im öffentlichen Raum." Er schrieb noch dazu: "Bilde den nächsten Satz!"
Der Textgenerator schrieb zurück: "Ich habe einen Plan für eine Intervention im öffentlichen Raum." Eine merkwürdige Antwort, fand er, wenn man bedachte, dass die Algorithmen darauf trainiert werden, die wahrscheinlichsten Wörter und Sätze zu präsentieren, die auf eine Eingabe folgten. Wäre da nicht logisch, dass zuerst der Plan gefasst wird und dann der Test erfolgt? Und auf den Test entweder weitere Tests oder die endgültige Umsetzung? Er gab seinen Satz nochmals ein und hängte die Frage: "Was bedeutet das?" daran. Da holte der Geist aus zu dieser erstaunlich erschöpfenden Erklärung:
"Ein Test für eine Intervention im öffentlichen Raum bezieht sich auf die Überprüfung oder Erprobung einer geplanten Aktion oder Maßnahme, die in einem öffentlichen Raum stattfinden soll. Eine solche Intervention kann beispielsweise eine temporäre Installation, ein Kunstprojekt, eine Demonstration oder eine Veranstaltung sein, die darauf abzielt, Menschen zu sensibilisieren oder bestimmte soziale, politische oder umweltbezogene Themen anzusprechen. Der Test ermöglicht es den Organisatoren, die Auswirkungen der Intervention zu beurteilen und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen, bevor sie tatsächlich umgesetzt wird."
Weil er inzwischen wusste, dass das System auf dieselbe Eingabe nie zweimal dieselbe Antwort gab, versuchte er es gleich nochmals. Und während er beim ersten Text erstaunt gewesen war über den linksliberalen Dreh – offenbar war die Suche mit ihren undurchschaubaren Verzweigungen in einem von Aktivisten und Künstlern bestimmten Textumfeld gelandet –, so skizzierte nun die zweite Antwort deutlich unterscheidbar einen Zusammenhang mit stätdteplanerischen Massnahmen, die man durch Tests «sicherer und effizienter» machen könne.
Das erinnerte ihn ein wenig an die Willkür der Texte während seiner Amnesie. Aber der Geist der maschinellen Intelligenz erschreckte ihn weniger, als es sein eigener damals getan hatte.

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